Ludwig Tieck
Der Geheimnisvolle
Ludwig Tieck

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Kaum hatten sie sich eine halbe Meile von der Stadt entfernt, als der Wagen, gegen einen Baumstamm geworfen, umfiel und die Reisenden in den tiefen Schnee stürzten. »Das ist eine mühselige Anstalt«, sagte verdrüßlich der alte Christoph; »diese letzte Meile hat mich auch gestern den größten Ärger und die meiste Anstrengung gekostet. Ein Wagen mit Korn wurde in die Stadt geschickt, das ging noch leidlich – dann fand ich Gelegenheit, mit dem Postwagen weiterzufahren – aber diese letzte Meile hier im Gebirge!« Kronenberg suchte ihn zu trösten, und als man sich wieder vom Schnee gesäubert hatte und aufgestiegen war, froh, daß der Unfall keine schlimmeren Folgen gehabt hatte, mußte der junge Mann den Alten schon gewähren lassen, der sich durch Schwatzen wenigstens für sein Leiden zu entschädigen suchte. Er berichtete weitläufig den Zustand der ganzen Haushaltung jener Familie, die Kronenberg noch diesen Abend sehen sollte; er verlor sich in Geschichten und Anekdoten und verschwieg nicht viele Lächerlichkeiten, die den alten gnädigen Herrn charakterisierten und den Sohn, den Freund Ferdinands, nicht in das beste Licht stellten. »Nichts als Not und Plackerei«, fügte er endlich seinem Berichte hinzu; »und wenn sie am Ende gar nicht mehr aus und ein wissen, so ist der alte Christoph gut genug, um Rat zu schaffen oder meilenweit zu wandern, um nur die lieben Pferde zu schonen und den neumodischen Kutscher nicht verdrüßlich zu machen; denn glauben Sie mir nur, mein gnädiger Herr, auf mein Wort: unter tausend Herrschaften ist kaum eine halbe, die das Regieren versteht: der beste Domestik kommt aus den Strängen, wenn ihm nicht auf eine vernünftige Art befohlen wird; er verliert nach und nach seine Gaben und seine Tugend dazu. Anerkannt muß der Mensch werden, mag er doch treiben, was er will; ohne das keine Sicherheit. Wenn ich ein junger Lieutenant wäre, wollte ich den ältesten und gewiegtesten Grenadier aus seiner Fassung bringen und ihn durch beständiges Mäkeln und unvernünftiges Tadeln in vier Wochen konfus und zum unordentlichen und schlechten Soldaten machen. Ich höre manchmal, wenn ich durch den großen Saal gehe, daß der junge Herr über Regenten und Staatsmänner räsonniert und alle für nichts Besonderes halten will, indem sie die Regierungskunst nicht verständen. Ob er recht hat, weiß ich nicht, aber bei sich sollte er doch ja anfangen, denn er ruiniert alle Bedienten im Schloß durch seine Zerstreutheit und nachher, wenn er Fehler verursacht hat, durch unnötige Strenge; so macht er sie nach und nach alle tückisch; etliche sind schon Schurken geworden, die nun die andern auch anstecken. Denn, wie gesagt, ohne verständige Ordnung, Pünktlichkeit, Stundenhalten gibt es gar keinen Menschenverstand in der Welt.«

»Du bist immer ein zu strenger und moralischer Kauz gewesen«, antwortete Kronenberg unter seinem Mantel hervor.

»Warum Kauz?« fuhr Christoph fort; »Kauz sollte man nur solche Leute titulieren, aus denen man nicht klug werden kann. Ich verlange von meiner Herrschaft und allen Menschen, die mir in die Quere oder in die Richte kommen, nichts Besondres und Kurioses, keine Liebe oder großmütige Geschenke, keine raren Tugenden und brillante Klugheits-Mirakel, sondern das allerordinärste Wesen, was eigentlich der Hund noch von seinem Herrn fordern kann, wenn er ein brauchbares Tier bleiben soll. Und dies Ding, eben weil es so ordinär ist, ist allen den neuern überweisen Herren zu geringe – es fällt nicht in die Augen, es ist auch noch nicht für einen Pfennig Lobenswertes daran; darum geht es auch ganz in der Welt aus, und eben deswegen wird es auch bald so wenig Diener wie Herren auf Erden geben, sondern nur eine allgewaltige Konfusion, ein Hin- und Herschreien, ein Spektakel, hinter dem nichts steckt – und dann heißt es am Ende doch, der gemeine Mann taugt nichts.«

»Du bist also mit der ganzen Welt unzufrieden?« warf Kronenberg ein.

»Ich kenne die Welt nur so weit«, murrte der Alte fort, »als meine Nase reicht. Ich verstehe es nicht, wie man die Menschen nicht kennt, mit denen man täglich zu thun hat. So kenne ich meine Herrschaft und was zum Hause gehört. Aber die Herrschaft, am wenigsten unser junger überkluger Herr, kennt uns, ihre Bedienten, nicht – sie sieht so wenig, was an uns gut ist, als was nicht taugt. Wird man nun manchmal gelobt um etwas, wo ein tüchtiger Herr den Stock hervorsuchte, oder ausgehunzt wegen Sachen, die man so recht mit Verstand und Liebe gethan hat, kriegen die Schlechten in allem Streite recht, wird jede Verhetzung und dumme Klatscherei von den Gnädigen mit Freuden aufgenommen, so ist auch bald ein Nest von schlechten Dienstboten fertig. Ich denke nur, solche Herren, die ihr kleines Hauswesen nicht in Ordnung halten können, sollten nicht über ihre Vorgesetzten so scharfe Mäuler aufthun.«

»Das verstehst du nicht«, sagte der junge Mann; »die Kälte und das Wetter, am meisten dein gestriger Marsch, haben dich verdrüßlich gemacht.«

»Und das rechtschaffen«, sagte Christoph. »Sie thaten gestern, als kennten Sie mich nicht, und es hing auch nur an einem Haare, so wäre ich Ihnen gestern abend nicht vor Augen gekommen.«

»Und wie das?«

»Endlich sah ich die verwünschte Festung vor mir liegen«, so fuhr Christoph fort, »und da ich nun mich um die Stadt herumquälte, um nach Ihrem Wirtshause zu kommen, wurde es schon ganz finster, und stürzend und fallend, hungrig, durstend und erfroren bin ich nun in der Nähe des goldnen Schwans und sehe schon die Lichter. Da kommen mit einemmal vier bis fünf Kerle um die Ecke hervor, nehmen mich fest und schreien: ›Nun, endlich! dir haben wir lange schon aufgelauert!‹ Ich wehr' mich und stoße und schlage, und als es mir endlich gelingt, meine dicke Mütze aufzuknöpfen, weil ich vor der nicht zu Worte konnte, so schrie ich nun aus aller Macht: ›Was wollt ihr denn, ihr Halunken, ihr Straßenräuber?‹ nebst einigen andern Ehrentiteln, die mir im Zorn herausfuhren. Da ließen sie mich los, gingen wieder um die Ecke und brummten: ›Nein, der ist es nicht, laßt ihn! Der Mann versteht unsre gute deutsche Muttersprache zu vollkommen.‹ – So weiß ich nicht, für welchen HasenfußBei Tieck stets: Narr, nicht Feigling. Der Hase gilt im Volksglauben für dumm und albern. sie mich müssen gehalten haben; aber man sieht doch daraus, wie kein Mensch dem andern mehr traut, wie man selbst auf der Landstraße nicht mehr sicher ist, wie die Konfusion immer mehr um sich greift und alles, mag ich hinkommen, wohin ich will, ganz anders aussieht als wie vor zwanzig oder dreißig Jahren.«

Die mühselige Station war unter diesen und ähnlichen Gesprächen zu Ende, noch früher, als man gedacht hatte. Nun breitete sich wieder das ebene Land aus, und die Reisenden erreichten auch ohne alle Unfälle die nächste Post, wo sie im kleinen Städtchen den neuen Wagen schon vor dem Gasthofe halten sahen. Der elegante Kutscher begrüßte den jungen Herrn, Kronenberg setzte sich, da es Mittag war, an die Wirtstafel und ließ nach einem freundlichen Gespräch dem alten Christoph sowie dem Kutscher ein gutes Essen und eine Flasche Wein vorsetzen. Der Alte schmunzelte vor sich hin, als wenn er dachte: »Der Herr will thun, als wenn er mit uns Domestiken umzugehen wüßte.«


Man fuhr lustig wieder aus der Stadt, indem der Kutscher nach englischer Weise auf einem der Pferde ritt. Der bequeme Wagen erschien nach dem offnen Fuhrwerke der Post dem jungen Reisenden äußerst angenehm. Auch währte es nicht lange, so hatte ihn die schaukelnde Bewegung in einen angenehmen Schlummer gewiegt. Als er nach einem Stündchen erwachte, hörte er von draußen vom Bocke der Kutsche ein seltsames, verwirrtes Gespräch und sah, daß sich neben den alten Christoph noch jemand gesetzt hatte. Der Alte eiferte und sprach laut, und der Fremde schien ihn nicht recht zu verstehen und erwiderte nur im gebrochenen Deutsch. Im Ereifern stießen sie einmal an das Glas, und der Fremde sah erschrocken um. Bei dieser Wendung glaubte Kronenberg jenen Mann wiederzuerkennen, der sich ihm gestern abend auf eine so ausfallende Weise genähert hatte. Es schien ihm aber unmöglich, daß dieser sich schon hier befinden könne, indem er selbst, trotz den schlechten Wegen, schnell genug gereiset war.

Er fand sich in diesen Betrachtungen gestört, indem man jetzt durch eine kleine Stadt fuhr und auf dem ganz zerrissenen Pflaster der Wagen so erschüttert wurde, daß auch bald, obgleich der Kutscher ziemlich vorsichtig lenkte, etwas zerbrochen war. Man hielt vor der Schenke, der Fremde half emsig und höflich dem Reisenden beim Aussteigen, indes Christoph den Schmied herbeirief. Der Unbekannte war im Zimmer ebenso eifrig, den jungen Kronenberg beim Auskleiden zu bedienen, und fragte dann, ob er sonst irgend etwas befehle. Die Diener brachten einige Erfrischung, und nachdem sich der Fremde ebenfalls hatte setzen müssen, fragte ihn der junge Mann: »Wie ist es nur möglich, daß Sie mich schon haben einholen können, da ich Sie unmöglich wiederzusehn erwarten durfte?«

»Es konnte auch nur durch den sonderbarsten Zufall geschehen«, antwortete der Unbekannte in seiner Sprache. »Sie waren kaum abgereiset, als ein Kurier mit einer eiligen Sendung ankam. Der Mann war mir bekannt, und er nahm mich bis zur nächsten großen Stadt, wo sich unsere Wege trennten, mit. Auf dem guten Wege, obgleich er einige Meilen weiter ist, konnten wir schneller reisen; in der Stadt traf ich einen abgehenden Wagen, der mich bis zu jenem Orte brachte, in dem ich Ihre Equipage antraf, die ich so dreist war, auf Ihre gütige Erlaubnis rechnend, zu benutzen, und hier werde ich mich Ihnen mit gerührtem Danke empfehlen und das Bild meines Wohlthäters ewig in meinem treuen Herzen bewahren; denn schon ganz nahe ist jene Stadt, wo ich Hülfe und Freunde mit Sicherheit erwarten darf.«

»Sie verzeihen«, sagte Kronenberg, »wenn ich vor unserm Abschiede einige Fragen an Sie richte. Sie überraschten mich gestern, und ich war, als ich mich besonnen hatte, nicht ohne Unruhe, ob ich mir nicht selbst Unfälle zuziehe, ob ich nicht vielleicht sogar etwas Sträfliches that. Ich sehe, Sie vermeiden es, in den Städten gesehn zu werden; Sie wurden, als wir zuerst aufeinander trafen, sogar verfolgt, und da Sie mich interessiert haben, da ich sehe, daß ich einem feinen und gebildeten Manne, soviel ich konnte, geholfen habe, so möchte ich auch wohl durch eine etwas nähere Bekanntschaft ein reines, ungetrübtes Bild von Ihnen in meinem Gedächtnis aufbewahren.«

»Mein Herr«, sagte der Unbekannte, »mein Namen bleibt Ihnen völlig fremd, wenn ich Ihnen auch sage, daß ich Cronibert heiße und mit meiner Familie in Rouen wohne. Dasjenige, was so seltsam erscheinen mag, ist ein gewöhnliches Unglück, eine klägliche Lage, in die ich geriet, als Familienverhältnisse und eine vermeintliche Erbschaft mich nach dem nördlichen Deutschland riefen. Statt eines gehofften großen Vermögens fand ich Verwirrung; näher scheinende Ansprüche und künstliche Verhandlungen vor den Gerichten verdrängten meine Forderungen. Für einen langem Aufenthalt war meine Barschaft nicht eingerichtet – von Hause konnte ich nur spärlichen Zuschuß erwarten, und als dieser endlich ankam, ging das meiste davon wieder auf, um die Schulden zu bezahlen, die ich indessen hatte machen müssen. Mit leichter Börse und schwerem Herzen begab ich mich auf den Rückweg, im bittern Gefühl, den Meinigen statt der Wohlhabenheit nur größere Armut zurückzubringen. Die kleine Summe, so sehr ich sparte, obgleich ich meist zu Fuß wanderte, war endlich doch völlig geschwunden, und was ich nun empfand, als mir ein böser Mensch in der Nachtherberge meinen Paß geraubt hatte und ich so manchen Hartherzigen um ein Almosen ansprechen mußte, können Sie sich unmöglich vorstellen, da mir selbst bis dahin diese Gefühle unbekannt geblieben waren. In dieser schrecklichen Lage war ich auch dort im Städtchen nach Hülfe umhergewandert; die Armenaufseher waren mir auf die Spur gekommen, sie hatten erfahren, daß ich ohne Paß sei, und wären Sie, mein verehrter Beschützer, weniger großmütig gewesen, so hätte man mich dort als Bettler und Vagabonden festgesetzt, und ich und meine Frau und unerzogenen Kinder waren dem Verderben preisgegeben.«

Er konnte diese Erzählung nicht ohne Thränen schließen, so wenig als sie Kronenberg ohne Rührung hatte hören können. »Es gibt freilich Verhältnisse«, sagte dieser bewegt, »die so furchtbar den Menschen einengen und foltern, daß es grausam und gottlos wäre, wenn auch der Wildfremde, ohne lange zu fragen, nicht herbeispringen und helfen wollte. Ich wünschte nur, ich könnte mehr für Sie thun, als Ihnen noch eine kurze Strecke Ihrer Reise erleichtern.« Mit diesen Worten wollte er dem Unglücklichen noch einige Goldstücke in die Hand drücken, dieser aber trat mit dem edelsten Ausdrucke einige Schritte zurück und rief aus: »Nein, mein Wohlthäter, das kann ich von Ihnen nicht annehmen, denn Sie haben genug für mich gethan, und da ich zwei Meilen von hier Freunde und gewisse Hülfe finde, so wäre dies nur ein Mißbrauch Ihrer Güte. Könnte ich nur so glücklich sein, Ihnen einmal einen Dienst oder nur eine Gefälligkeit zu erzeigen, so würde ich mich unbeschreiblich glücklich schätzen. Doch, sich einem edlen Manne verpflichtet fühlen, ist auch eine schöne und beruhigende Empfindung, so wie der Edle sich schon darin beseligt findet, denen, die es durch Dankbarkeit verdienen, eine Wohlthat erzeigt zu haben.«

Mit diesen Worten verbeugte er sich und ging zur Thür hinaus. In dieser wandte er sich noch einmal dankend um, und so gerührt sich Kronenberg fühlte, so war doch im letzten, scheidenden Blicke des Fremden wieder etwas so Stechendes, so viel lauernde List, in dem blassen Gesicht so viel Widerwärtiges, daß dieser Wechsel seiner Empfindungen dem jungen Manne wie träumerisch, ja beinah fieberhaft vorkam. Er schalt sich endlich selbst über sein Mißtrauen und meinte, es sei nur Täuschung und Erhitzung von der Reise, wenn ihm der Fremde im letzten Augenblicke so durchaus widerwärtig erschienen sei. – Der Wagen war wiederhergestellt und Christoph bereit zur Abreise. »Wo haben Sie denn«, fragte er mürrisch, »diesen fremden Hecht aufgefischt, gnädiger Herr? Denn er berief sich auf Sie, als er dort vor dem Thor auf unsere Kutsche kletterte.«

»Ein armer Mensch«, sagte Kronenberg, »an dem man sich ein GotteslohnLohn als Neutrum ist niederdeutscher Sprachgebrauch. verdient, wenn man ihm hilft, ein unglücklicher Familienvater. Was hattest du denn mit ihm abzuhandeln und zu streiten?«

»Je, der französische Wirrwarr«, antwortete jener, »wollte Fuhrwerk und Pferde tadeln und alles besser wissen. Ich verstand freilich wohl sein Kauderwelsch nicht, und er konnte auch meine Meinung nicht recht fassen, indessen gibt das immer den besten und lebhaftesten Diskurs. Ich bin mit dem Kerl schon einmal zusammengekommen, und dazumal haben wir uns noch mehr gezankt.«

»Wo denn?« fragte Kronenberg verwundert.

»Je, vorigen Sommer«, erzählte Christoph weiter, »als wir mit dem alten gnädigen Herrn auf seinem Gut da hinten im Gebirge waren. Eines Morgens finde ich den Patron, den ich schon viel hatte umherstreifen sehn, in unserm Garten. Er mußte über die Planke gestiegen sein. Da saß er und zeichnete die ganze Gegend ab. Er meinte, es sei bei uns im Lande viel Natur und Perspektive und ein gewisses Bellevue, und was er des Zeugs mehr durcheinander schwadronierte. Ich führte ihn aber ohne Umstände durch den Hof und drohte ihm, es dem gnädigen Herrn zu sagen. Dazumal gab er mir ein Trinkgeld und sah nicht so bettelhaft aus. Am folgenden Tage sah ich ihn auch in einer Gesellschaft, aus der ich unsern alten Herrn abholte.«

Christoph mußte sein Geschwätz unterbrechen, denn sie stiegen ein und kamen bald in der Stadt an, wo der Freund des Reisenden wohnte, vor dessen Hause der Wagen auch nach wenigen Minuten stille hielt.


Ein lautes Geschrei empfing den absteigenden Gast. Alle Bedienten liefen durcheinander, ein jeder befahl, keiner gehorchte; jeder fing an, ein Geschäft zu verrichten, welches er sogleich, von einer andern Anordnung gestört, unterbrach. So ging Kronenberg die große Treppe hinauf; als er aber im großen Vorsaal stand, hatten ihn alle Diener verlassen, und er blieb im Finstern zurück. Der kalte Saal gab ihm Muße genug, über diese sonderbare Beschaffenheit des Hauses seine Betrachtungen anzustellen. Er tappte umher, um eine Thür zu finden, wagte aber nicht, sich mit Bestimmtheit zu bewegen, um nicht etwas umzustoßen oder zu verletzen. Indem er endlich den Griff eines Schlosses gefaßt hatte, wurde die Thür von innen geöffnet, und Christoph trat ihm mit einer Laterne entgegen. »Es ist zu arg!« rief dieser aus, »Sie noch hier? Die Wirtschaft wird doch mit jedem Tage toller! Hier im Finstern? Kommen Sie nur schnell zum jungen Herrn, der gewiß noch nicht einmal weiß, daß Sie schon angekommen sind.«

Er führte den Fremden über einen langen Gang, und im wohlgeheizten Zimmer saß Karl von Wildhausen unter Büchern, Akten und Briefschaften wie vergraben. Er sprang auf und begrüßte herzlich den Freund. »Ich hatte dich noch nicht erwartet«, rief er aus, »und keiner von den Schurken kömmt auch, um mir zu melden, daß du angekommen bist! Und wie ist deine Lage nun, Freund? Ich weiß nur das wenigste davon, erzähle.«

Da sie allein waren, hatte Kronenberg kein Bedenken, sich ihm auf diese Weise zu eröffnen: »Dir am besten, mein Teurer, ist es bekannt, wie das wenige Vermögen, das mein Vater mir hinterließ, in Spekulationen, Verbesserungen des kleinen Gutes, die sich nur zu bald als Verschlimmerungen bewährten, aufgegangen ist. Gläubiger, vorzüglich Wechselschulden, drängten, und es blieb mir, wie ich schon längst fürchtete, kein andrer Schritt übrig, als den ich nun jetzt zum Nachteil meines Rufes wirklich habe thun müssen. Mein karger Oheim wird nun vielleicht helfen, der bisher mit Rat und Vermahnung so freigebig, aber mit That und wirklicher Unterstützung desto sparsamer war.«

»Es schien ja aber doch«, sagte Karl, »daß deine Heirat alles ins Gleise bringen könne, und darum war ich erschreckt, als du mir plötzlich schriebst, auch diese sei zurückgegangen.«

»Es war mir schwer«, fuhr Kronenberg fort, »den Gedanken zu fassen, einer Heirat Glück und Wohlstand zu verdanken. Dazu kam, daß Cäcilie, die mich erst zu lieben schien, mit jedem Tage kälter gegen mich wurde. Ich muß vermuten, daß eine andre, vielleicht bis dahin verheimlichte Leidenschaft die Ursache dieses veränderten Betragens war. Auch konnte ich mich nicht entschließen, dem Vater, so oft er mich auch dazu aufforderte, die ganze Trostlosigkeit meiner Lage zu entdecken; das Wort erstarb mir jedesmal auf der Zunge. Diese falsche oder rechte Scham hat es wohl veranlaßt, daß sich auch der Vater auffallend von mir zurückzog. Ich fühlte mich endlich unbeschreiblich unbehaglich in der Familie, ja, es fehlte mir bald an jeder Fassung, die Rolle mit Anstand durchzuführen, die ich zu voreilig übernommen hatte. Das Schlimmste aber war –«

»Wie?« rief Karl aus, »noch etwas Schlimmeres?«

»Laß mich enden«, sagte Kronenberg. »Der Bruder, ein hitziger junger Mann, wie du ihn kennst, kam auf den Gedanken, es sei für seine Schwester und die Familie beschimpfend, daß ich die Verbindung, die in der Umgegend bekannt genug geworden war, wieder lösen wollte, und fand es seiner Pflicht und Ehre gemäß, mich zu fordern.«

»Teufel!« rief der Freund aus, »und? –«

»Wir schlugen uns auf Pistolen, er ward schwer verwundet, so wie mir es schien, tödlich. Du begreifst, daß dies meine Flucht noch mehr beschleunigen und mich in die ganz hülflose Lage stürzen mußte, in der ich dir von der Grenze jenen kurzen Brief sandte, in welchem ich deine Freundschaft und deinen Beistand aufrief.«

»Du kennst mich«, sagte Karl mit dem Ausdruck der größten Herzlichkeit, »du zweifelst an meiner Freundschaft nicht, indessen ist dir auch meine beschränkte Lage bekannt. Ein Kapital, so viel ich nur schaffen kann, steht zu deinen Diensten, es sollte größer sein, vielleicht so, daß deine Lage dadurch wiederhergestellt würde, wenn ich meinem Vater mit der gleichen Vorschlägen kommen dürfte. Der ist aber steinhart, am härtesten gegen Menschen, von denen er glaubt, daß sie durch Leichtsinn und schlechte Wirtschaft sich ihr Unheil selbst zugezogen haben. Ich will mich an deinen Oheim und deine schlimmsten Gläubiger wenden, damit in deiner Abwesenheit nur dein Name nicht verunglimpft werde. Nun, was denkst du für jetzt anzufangen, wenn ich dir für deine weitere Reise auch wohl mit tausend oder zwölfhundert Thalern helfen kann? Denn dies wäre wohl das Äußerste, wohin meine Kräfte reichen.«

Kronenberg umarmte seinen Freund gerührt und sagte dann: »Du bleibst der Alte, und wußte ich doch, daß ich auf deine Liebe rechnen konnte; seit der Schule bist du mir treuer gewesen wie meine eigne Seele. Ich denke jetzt nach jener Stadt des südlichen Deutschland zu gehen, von der ich dir schon sonst gesprochen habe. Dort finde ich alte Bekanntschaften, die ich erneure, ich habe sehr gute Empfehlungen bei mir, die mich mit Männern von Einfluß verbinden werden, und so denke ich durch Talente, Kenntnisse und Fleiß mir dort eine Laufbahn zu eröffnen, die mich zu einem neuen und bessern Leben führen soll, als ich bisher kannte; und vielleicht komme ich so weit, daß ich alsdann ganz mein väterliches Vermögen verschmerzen und vergessen kann. Kannst du unterdessen etwas davon retten, durch deinen Kredit, dadurch, daß du meinen Oheim mir geneigter machst, ist es um so besser und sichrer, im Fall mein Plan, der mir nicht unvernünftig dünkt, sich doch als Schimäre ausweisen sollte.«

»Dir ist bei deinen Talenten vieles möglich«, antwortete Karl, »vorzüglich, wenn du den poetischen Beschäftigungen mehr entsagst und dich den ernstern Wissenschaften widmest.«

»Du erinnerst mich eben«, rief jener aus, »daß ich dir einen großen Brief von deinem interessanten poetischen Freunde mitbringe, der dir gewiß Freude machen wird.«

»Gib!« sagte Karl mit großer Lebhaftigkeit, und jener suchte im Rock, Oberrock und Mantel, doch vergeblich. »Die ganze Brieftasche wird doch nicht« – stotterte er endlich erschreckt – »nein – sie muß im Wagen sein,« – Es ward geklingelt, ein Bedienter ausgesandt, die Kutsche zu durchsuchen, dieser kam aber nach einer Viertelstunde zurück und schwor, daß sich keine Spur des Verlornen in allen Taschen und Schubkasten des Wagens finde. Indessen war Christoph auch herbeigerufen worden, und Kronenberg fuhr auf ihn mit der Frage los: »Erinnerst du dich nicht, Alter, ob du im nächsten Städtchen oder im ersten Gasthof eine rote, ziemlich große Brieftasche in meinen Händen oder auf dem Tische gesehn hast?«

»Der gnädige Herr«, antwortete der Alte in seiner verdrossenen Weise, »müßte es sich wohl eigentlich am allerbesten erinnern; ich kann nur sagen, daß ich nichts weiß und nichts von einer solchen Tasche gesehn habe, weder im ersten noch zweiten Gasthofe.«

»Auch nicht vielleicht«, fiel Kronenberg ein, »dort im Walde, wo wir mit dem Wagen umfielen? Ist sie dort liegen geblieben? Sahst du sie nicht vielleicht auf dem Boden?«

Christoph trat einen Schritt zurück und sah ihn dann von der Seite und mit zugekniffenen Augen an: »Wenn ich nun ›Ja‹ sagte, gnädiger Herr? Und wollte zu meiner Entschuldigung etwa anführen, ich hätte das große Ding für eine abgefallene, getrocknete HanbutteHagebutte. gehalten und deswegen im Schnee liegen lassen? Verdiente ich nicht die ausgewogensten und eindringlichsten Schläge?«

Kronenberg mußte lachen, so verdrüßlich er war. »So habe ich denn die wichtigsten Briefe und obenein meinen Paß eingebüßt, den ich mir von hier auf keine Weise wieder schaffen kann.«

»Da haben wir's!« rief Christoph; »der fremde Mensch, der in der letzten Schenke so dienstfertig war, Sie auszukleiden, so daß er mich vor purer Höflichkeit recht grob zurückstieß, der sich mit dem Oberrock so viel zu schaffen machte, ihn so sorgfältig faltete und bürstete, der Spitzbube hat auch gewiß die Brieftasche gesehn und gefischt, denn einen solchen Paß kann ein Schelm und Spion immer am besten brauchen.«

»Sollte es wohl –«, sagte Kronenberg –

»Gewiß«, fuhr Christoph fort. »Was hat er mir nicht alles auf dem Kutschbock vorschwadroniert, er fragte nach allem und kannte doch schon jeden Weg und Winkel im ganzen Lande.

»Von wem sprecht Ihr?« fragte Karl.

»Ei, von dem Menschen«, antwortete Christoph in Eifer, »den Sie ja voriges Jahr auch mehr als einmal müssen gesehen haben, mein gnädiger Herr, in Gesellschaft von Ihrem Herrn Vater. Sie nannten ihn alle immer nur den großen Naturfreund, weil er alle Wälder, Schluchten und Berge durchkroch und jede Felsennase abzeichnete. Dazumal sah er recht reputierlich aus, aber jetzt hat er ganz das Wesen eines Straßenräubers.«

Als Kronenberg erzählt hatte, was ihm mit diesem Mann begegnet sei, fand sein Freund es nicht unwahrscheinlich, daß dieser sich des Portefeuille, hauptsächlich des Passes wegen, wohl habe bemächtigen können; er befahl jedoch, daß mit dem frühesten Christoph nach dem nächsten Städtchen zurückreiten solle, um in der Schenke noch einmal nachzusuchen. Christoph entfernte sich mit halb hörbarem Gemurmel, daß er nun doch wieder derjenige sein müsse, der die Fahrlässigkeit der Herrschaften gutmachen solle.

Ein Diener rief die jungen Leute in den Speisesaal. Kronenberg begrüßte die Mutter seines Freundes, die sehr artig gegen ihn war und sich freute, ihn nach geraumer Zeit einmal wiederzusehen. Der Vater saß abseit an einem kleinen Tische und las eifrig in einem Buche, so daß er vom Abendessen sowie von dem fremden Gaste gar keine Notiz nahm. »Sie sind serviert!«Gallizismus (vous êtes servi): es ist für Sie serviert. rief die gnädige Frau zu ihm hinüber. »Setze dich, mein Schatz«, antwortete der alte Herr mit tiefer Stimme, »fangt immer an zu essen, ich komme noch zeitig genug; kann ich mich doch von meinem herrlichen Buche noch gar nicht trennen.«

Man setzte sich. »Sie müssen schon«, sagte die gnädige Frau sehr verbindlich, »einem Landedelmanne diesen Mangel an Attention verzeihen, mein werter Herr von Kronenberg, ich und mein Sohn wissen um so mehr das Glück zu schätzen, daß Sie nach länger als einem Jahre unsre entfernte Gegend und unser kleines Städtchen wieder besuchen und der Residenz und allen glänzenden Zirkeln dort Ihre Gesellschaft entziehen wollen. Mein lieber Sohn hat mir einigemal aus Ihren Briefen vorgelesen und mir selbst von Ihren poetischen Produkten mitgeteilt, die mich entzückt haben, und die ich, so weit meine schwache Einsicht reicht, für vortrefflich halte.«

»Ein solcher Beifall«, antwortete Kronenberg, »wird mich befeuern, künftig Besseres zu leisten.«

»Man will zwar«, fuhr die Dame fort, »jetzt ganz neue und unerhörte Sachen hervorbringen, und es ist so weit gekommen, daß mancher sogar verlangt, wir sollen alles vergessen, was wir in unserer Jugend gelernt und als das Rechte erkannt haben. Aber die Folgezeit wird ausweisen, daß unsre Vorfahren doch nicht ganz so übel thaten, sich einer gebildeten Nation anzuschmiegen, die durch eigne Kultur uns zeigen kann, was man vermeiden und was man erstreben muß.«

»Sie sprechen ohne Zweifel«, fragte Kronenberg, »von der französischen?«

»Von welcher sonst?« sagte die Dame etwas spitzig. »Gibt es denn, genau genommen, eine andere?«

Der alte Herr fing, in seinem Buch vertieft, an, laut zu singen. »Sollte nicht jede Nation«, warf Kronenberg bescheiden ein, »ihre eigne Litteratur haben können, und hat die deutsche nicht schon längst bedeutende Schritte in ihrer eigentümlichen Kultur gethan?«

»Die deutsche!« erhob die gnädige Frau den Ton; »auch von Ihnen, dem verständigen Freunde, muß ich dergleichen hören? Wann ist sie denn deutsch gewesen, wann hat sie denn nur gezeigt, daß sie dergleichen wirklich will, im Fall sich ein vernünftiger Gedanke selbst mit solchem Vorsatze vereinigen ließe? Barbarisch, unwissend, ungelenk und ebenso politisch als litterarisch ohnmächtig, war sie froh dankbar, als sie von Ludwig dem Vierzehnten erfuhr, was sie sollte, und kam zugleich zur Besinnung, als Redner, Geschichtschreiber und Dichter ihr damals zeigten, was sie ohngefähr denken und fühlen müsse. Sehn wir nicht auch von diesen: Augenblicke an ein reges Wetteifern im Schreiben, Versemachen und Predigen ganz im Sinne und in Nachahmung ihrer großen Vorbilder, die sie freilich niemals erreichen konnten? Ich weiß wohl, daß eine barbarische Periode eintrat und ein Versuch, sich von diesen Mustern loszureißen, denen man gleich zu werden verzweifeln mußte. Aber was war es denn nun? Ein sklavisches Nachkriechen hinter den rohen Engländern her, die noch niemals einen klaren und heitern Blick in die Welt thun konnten, sondern bei denen Hypochonderie und Lebensüberdruß die Stelle des Tiefsinns vertreten müssen. Angebetet, abgeschrieben, nachgeahmt und das schlechte Muster übertrieben wurde nun wieder. Von einem Ende des Landes zum andern erschallte jetzt diese Lehre, und man unterschied nicht einmal das Bessere vom Schlechteren. Wo ist denn also jemals das Originale, wirklich Nationale hervorgetreten? Ich bin überzeugt, daß der Deutsche nichts Selbständiges ist, daß, wenn es so fortgeht, die Zeit vielleicht nicht mehr fern ist, wo er beim vergessenen und abergläubischen Spanier bettelt, dessen weggeworfene Brosamen aufhascht und aus dessen wurmzernagten Kruzifixen und Idolen sich seine Götterbilder schnitzt, vor denen er dann wieder in rohem, schnell entschwindendem Fanatismus eine Zeitlang kniet.«

»Ich bewundere noch mehr diese scharfe Art sich auszudrücken«, sagte Kronenberg sehr geschmeidig, »als die Masse von Kenntnissen, die ein so kühnes Urteil, meine gnädigste Frau, bei Ihnen voraussetzt.«

»Sie scheinen auch der Meinung zu sein«, war die Antwort der Dame, »daß es den Frauen unmöglich sei, verständig zu werden, und freilich, wenn man alle die Einrichtungen betrachtet, welche die Männer getroffen haben, um uns in der Unmündigkeit zu erhalten, so ist es nicht sonderlich zu verwundern, wenn die meisten Individuen meines Geschlechts zeitlebens kindisch bleiben, besonders da sie nur durch diese halb natürliche, halb affektierte NiaiserieAlbernheit. den Männern gefallen. Im Alter sieht dies Wesen freilich um so betrübter aus, und es entschließen sich alsdann auch die meisten ziemlich kurz, sich geradezu in Drachen oder Betschwestern zu verwandeln: wenn die Schlimmsten es sogar zu der Virtuosität bringen, diese beiden Tiergattungen miteinander zu vereinigen.«

»Unvergleichlich!« rief Kronenberg aus.

»Heuchelt nur und schmeichelt euch!« murrte der alte Herr, auf sein Buch niedergebückt.

»Ich hoffe«, fuhr die gnädige Frau fort, »Sie gehören nicht zu diesen Männern, deren eigne Armseligkeit die Frauen noch armseliger haben will, damit sie sich vor diesem Spiegel nicht zu schämen brauchen. Ich würde nicht meine Überzeugung gegen Sie aussprechen, wenn ich Sie nicht für eine Ausnahme hielte. Erinnere ich mich doch auch von ehemals, wie sehr wir in Bewunderung jener Nation übereinstimmten, die sich jetzt mit Recht die große nennt, die es nunmehr fühlt, daß sie es ist, die Europa gebildet hat und in Zukunft erst noch zu einem gesitteten Weltteil machen wird; denn was ist wohl geschehen, erfunden, eingerichtet, gedacht (wenn es irgend der Beachtung würdig ist), was die neuere Welt nicht ihr zu danken hätte?«

»Der Mensch, liebe Mutter, ändert sich aber zuweilen«, sagte der Sohn lächelnd, »und ich weiß nicht, inwiefern wir beide noch mit unserm Freunde übereinstimmen werden.«

»Das wäre schwächer als schwach«, rief sie aus; »denn es bewiese, daß Ihre frühere Überzeugung keine wahre, sondern nur angeflogene Nachbeterei gewesen wäre, und ich habe Ihr Genie und Ihren wahrhaft gebildeten Geist immer viel zu hoch gestellt, als daß ich mir auch nur den entferntesten Verdacht solcher Art gegen Sie erlauben dürfte.«

Jetzt stand der Herr von Wildhausen auf, schloß sein Buch und begab sich an den Tisch. Er verneigte sich nur nachlässig gegen Kronenberg, schenkte sich ein großes Glas Rheinwein ein, erhob es und rief: »Die Gesundheit des Verfassers von jenem Buche! Ja, hätten wir mehr dergleichen, gebräche es nicht an Mut und Originalität, so würden wir es bald weiter gebracht haben. Denn das, mein verehrter Eheschatz, ist die Hauptsünde meiner Landsleute, daß wir uns immer noch schämen, dumm zu sein: damit kirren uns in- und ausländische Narren und wissen uns alle mögliche Thorheiten und Fratzen um den Nacken zu werfen, weil sie uns weismachen können, es sei Klugheit und Witz, in dergleichen Sattel- und Zaumzeuge zu wandeln; ihnen zu gefallen, weisen wir so oft das Beste unsrer Sitten und Einsichten weg, weil sie uns persuadieren können, es sei altfränkische, kurzsichtige Dummheit; gerade so, wie man ehemals die Wilden behandelte, die um Gold einen einfältigen Spiegel eintauschten. Sie, der junge Freund meines Sohnes, sowie mein Sohn selbst werden noch einmal mit Thränen aus dem Schutt graben wollen, was Sie jetzt mit Lachen unter die Füße treten, denn meine verehrte Gattin wird alsdann hoffentlich schon mit mir zu den Ahnen versammelt sein, von wo wir dann vielleicht durch ein heimliches Fenster mit etwas himmlischer Gelassenheit auf die kleine Nation und die ungeheuer große Konfusion herunterschauen können.«

»Wer mit Ihnen stritte!« sagte höhnisch die Dame. »Wer nicht logisch folgern und noch weniger dialektisch unterscheiden kann, sollte doch ein für allemal das Disputieren aufgeben.«

»Auf Ihre Gesundheit!« rief der Hausherr, indem er ein noch größeres Glas ausleerte. »O Himmel, welche Kraft und robuste Natur gehört dazu, alles dies über- oder unterirdische Zeug so zu Gebote zu haben, wie es immer zu Ihrem Kommando bereit steht. Mein Kopf und Geist sind freilich anders eingerichtet, denn entweder beide müßten von dem aufbrausenden Gebräue bersten, oder sie müßten es so verdauen, daß es mir nicht immer und zu so unpassenden Zeiten auf die Zunge käme.«

Die Gemahlin wurde rot vor Zorn und der Sohn verlegen. Kronenberg, um die ängstliche Stille zu unterbrechen, fragte: »Darf man nicht wissen, was es für ein Buch war, was Sie soeben lasen?«

»Gewiß«, rief sie aus, »jener mauffadewiderwärtige. Autor, der sich an einen Gegenstand und an einen Charakter gewagt hat, die ihm viel zu erhaben sind, und der seinen Mangel an Einsicht recht breit mit deutscher Plattitüde zudeckt. Sonderbar, daß die Fremden ein bezeichnendes Wort für etwas haben, das bei uns eigentlich nur zu Hause ist! Wir haben keinen Namen für diese unsre Nationaltugend, aber freilich, wir bemerken auch gar nicht einmal, daß dergleichen einen Tadel zulassen möchte, und taufen es Patriotismus, Biederkeit, Treue und nach Gelegenheit deutschen Sinn und selbst Liebenswürdigkeit.«

Der Alte war aufgestanden, um das Buch herbeizuholen. »Sehn Sie«, sagte er, den Titel aufschlagend, »dies herrliche Werk ist es, welches Sie, mein junger Herr von Kronenberg, wohl lesen und studieren sollten, wenn Ihre poetische Ader Ihnen dazu Ruhe und Einsicht ließe. Da könnten Sie lernen und von falscher Bewundrung zurückkommen.«

»Und den bessern Geist töten«, rief die Dame des Hauses.

»Streiten wir nicht«, sagte Kronenberg, »ich kenne das Buch und führe es mit mir.«

»In der That?« rief der Alte; »und wer möchte wohl der Verfasser sein? Mich wundert nur, daß es nicht schon verboten ist, da der fremde Einfluß in unserm Vaterlande nun gar zu mächtig wirkt. Auch soll sich der Verfasser nur in acht nehmen.«

Kronenberg zögerte ein Weilchen, doch dann rückte er mit dem Bekenntnisse heraus, welches er seinem Freunde Freimund schon gethan hatte, daß eben niemand anders als er selber das berufene und freilich ziemlich gefährliche Werk geschrieben habe.

»Wie?« riefen alle zugleich im größten Erstaunen, und da das Mahl soeben geendigt war, so entfernte sich die Dame des Hauses mit einer kurzen Verneigung und einem höhnischen Lächeln; der Alte aber riß den jungen Mann stürmisch an seine Brust und rief wie begeistert: »Soll es mir so wohl werden, den edlen Deutschen kennen zu lernen, der es in unsrer armseligen Zeit gewagt hat, so dreist diese große Wahrheiten zu sagen? Und Sie, Sie sind es, junger Mann? Vergeben Sie mir alles, was ich gegen Sie nur jemals gesprochen oder gedacht. Morgen werden wir uns wiedersehn und näher kennen lernen.«

Als Kronenberg wieder auf dem Zimmer seines jungen Freundes war, sagte dieser zu ihm: »So viel ich dir, teurer Ferdinand, auch immer zugetraut habe, so hatte ich doch niemals ein solches Werk von dir erwarten können, das ich, so sehr es auch allen meinen Ansichten widerspricht, hoch stellen muß. Und wie hast du nur selbst so schnell dein politisches Glaubensbekenntnis geändert?«

»Lassen wir das jetzt«, sagte Kronenberg, »mich freut es, daß durch diese Veranlassung dein Vater eine bessere Meinung von mir bekommen hat. Du ließest heut' ein Wort über ihn fallen. Wäre es nun nicht möglich, daß er zur Verbesserung meiner Umstände mitwirkte?«

Karl lachte laut, dann sagte er verlegen: »Vergib, wenn mich dieser Gedanke komisch überraschte, und wenn ich gezwungen bin, als Sohn die Schwachheiten meiner Eltern ins Licht zu stellen. Hättest du dich nicht durch deine unvermutete Autorschaft jetzt bei meiner Mutter auf Lebenszeit verhaßt gemacht, so wäre dein Gedanke ausführbar gewesen, wenn dir mein Vater auch nicht diese Freundschaft erwiesen und Ehrenerklärung gethan hätte. Jetzt aber hast du es eigentlich mit beiden verdorben. Der alte Herr ist immer so heroisch in Gegenwart von Fremden, weil er voraussetzt, daß die Frau des Hauses sich alsdann mäßigen wird; er weiß aber auch schon vorher, daß er in der Einsamkeit des Schlafzimmers seinen Patriotismus und Übermut büßen muß, er wird dann um so tiefer gedemütigt, als er sich erst von Deutschheit und Wein begeistert erhob. Du wirst morgen Zeuge sein, wie er um so ängstlicher als Flehender da kriecht, wo er heut' als Herr tyrannisierte, und von dieser schwachen Inkonsequenz, die sich alles gefallen läßt, so sehr sie auch zuzeiten poltert, hat meine Mutter hauptsächlich ihre Ansicht vom deutschen Charakter abstrahiert. Also kannst du dir wohl denken, wie sehr sie ihn bewachen wird, damit er nichts für dich thue, und wir können froh sein, wenn er dich nicht geradezu verfolgt und einen Streit vom Zaun bricht, um sich bei seiner Gattin wieder in Gunst und Ansehn zu setzen.«

Als Kronenberg zu diesen sonderbaren Eröffnungen seufzend den Kopf schüttelte, fuhr der Freund fort: »Lassen wir das! Ich habe an dich eine Bitte von der größten Wichtigkeit. Du willst, wie ich weiß, weiter reisen: wenn du gehst, so nimm deinen Weg über das Gut Neuhaus, zehn Meilen von hier, das dir schon bekannt ist. Dort wirst du die Tochter des Hauses kennen lernen. Sie ist der Inhalt aller meiner Wünsche; aber mein Vater ist starr und unerbittlich dieser Verbindung entgegen, und meine Mutter gibt ihm hierin nach, weil sie vor Jahren einmal von der Familie beleidigt wurde. Dein Wort gilt aber jetzt bei meinem Vater so viel, daß ein empfehlender Brief, eine vorteilhafte Schilderung gewiß alles zu meinem Besten wird thun können.«

Kronenberg schied mit dem Versprechen, den Versuch zu machen, und begab sich zur Ruhe.



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