Ludwig Tieck
Der Geheimnisvolle
Ludwig Tieck

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Kronenberg erfreute sich bald einer bessern Gesundheit, und seine gänzliche Wiederherstellung schien nicht mehr entfernt. In der Zerstreuung, in welcher er lebte, fand er nur selten einige Minuten, um über seinen Zustand nachzudenken. Die politischen Begebenheiten, an welchen die Familie natürlich das lebhafteste Interesse nahm, die Durchmärsche, die mannigfaltigen Charaktere, die im Hause auftraten, die Besorgnisse, welche sie oft erregten, sowie die Vermittelungen, welche immer wieder notwendig wurden – alles Dinge, an welchen Kronenberg seinen Teil nehmen mußte, ließen ihm so schnell Wochen und Monden verfließen, daß er in der Verwirrung und Betäubung kaum noch seiner früheren Vorsätze gedachte. Dazu kamen, um das bewegte Leben zu vermehren, Konzerte, an denen oft die benachbarten Familien teilnahmen, Vorlesungen, Spazierfahrten und Besuche bei auswärtigen Befreundeten. War er einmal von der größern Gesellschaft entfernt, so beschäftigte ihn der geistreiche Musikus, mit dem er sich mehr, als er anfangs denken konnte, versöhnt hatte. Vertrauter aber war er mit den beiden Franzosen, vorzüglich mit dem jüngern, dessen freundliche, geschmeidige Höflichkeit ihn völlig bezauberte. Er konnte der Art, wie dieser Fremde ihm seine Hochachtung bezeigte, wie er sein Vertrauen suchte, und der Herzlichkeit, mit welcher er seine Freundschaft erwiderte, unmöglich widerstehn. Auch Cäcilien war er viel näher gekommen; in manchen Augenblicken glaubte er sich von ihr geliebt; sah er aber dann wieder, wie sie in andern Stunden sich mißtrauisch von ihm zurückzog, wie ängstlich sie ihn vermied, wie fremd sie seine leidenschaftliche Anrede erwiderte, so glaubte er sich zu täuschen, und eine unglückliche Stimmung bemächtigte sich seiner, in welcher er gegen alle Welt, am meisten gegen den zurückgezogenen Emmerich ungerecht war, der ihm als die verhaßte Ursache von Cäciliens verändertem Benehmen erschien. So sehr aber dieser das Fräulein lieben mochte, so war sein Charakter dem des Verstimmten völlig unähnlich; denn er blieb auch gegen Kronenberg freundlich und antwortete selten auf die Bitterkeiten, die er oft von diesem und noch öfter von dem gallsüchtigen Musikus anzuhören bekam.

Die Eltern, wie es arglosen Menschen oft zu gehen pflegt, bemerkten von allen diesen Verhältnissen wenig oder gar nichts. Den Vater schien es zu kränken, daß sein junger Freund, dem er zugethan war, mit den Feinden seines Vaterlandes in ein vertrauliches Verhältnis trat und oft Gesinnungen zu äußern schien, die er undeutsch nennen mußte.

An einem Nachmittage hatten sich die Frauen entfernt, und so sehr es sonst der Graf vermied, fiel unter den Männern das Gespräch dennoch auf die Politik. Vor kurzem war der letzte Hoffnungsschimmer erloschen, und als der Vater seufzend klagte: »Jetzt sind wir und mit uns ganz Deutschland völlig verloren!« rief der Musikus in seinem bittern Humor plötzlich aus: »Verloren? Und was wäre denn daran noch zu verlieren gewesen? Was hattet ihr Deutsche denn noch, das euch zu Deutschen, zu einem Volke machen konnte? Die innere Entzweiung hat schon längst alle eure Kräfte gebrochen und jedes Nationalinteresse, jede großartige Verbindung unmöglich gemacht. Je mehr jede Provinz, jedes Ländchen sich isolierte und vom allgemeinen Bande löste, je mehr glaubten sie an Selbständigkeit und Patriotismus gewonnen zu haben. Sie verschmachteten in engherziger Kleingeisterei, während einige Residenzen in nachgespielter feiner Lebensart, in nachgebeteten Phrasen diese Pfahlbürger und ihren Sinn verspotteten. Die größeren Reiche belauerten einander neidisch und hielten immer schadenfroh den Verlust des Nebenbuhlers für eigenen Gewinn. Längst schon war die Freiheit entflohn, der Sinn aus den leeren Formen der alten Verfassung entwichen, und die trübseligen Ruinen konnten höchstens nur noch Geist und Aufschwung hemmen und lähmen. Nie hat auch der Deutsche selbständig sein wollen; man lasse ihm seine Kindereien, seine Rechthaberei, und er wird gerade in der Unterdrückung, wenn es dem Nachbar nur ebenso schlimm ergeht, immer noch freudig mit dem Spielzeuge klappern und sich glücklich wähnen. Wird ihnen aber jetzt die klägliche Reichsstädterei, dieser Nürnberger Tand, aus den Händen geschlagen, geht ein frischer Geist mit unwiderstehlicher Kraft durch alle ihre Länder und zerreißt und verbindet, was noch nie vereinigt, was seit lange nicht getrennt war, so erwachen sie wohl und huldigen nun besonnen einer neuen Gewalt, die dazu bestimmt scheint, Europa zu beherrschen. Ja, gezwungen werden sie, statt des kleinstädtischen Provinzeigensinnes einen europäischen großartigen Geist in sich zu bilden. Wieviel Gut gewinnen sie also gegen den scheinbaren Verlust armseliger Schatten! Steht es nicht zu hoffen, daß unter fremder Herrschaft sich erst das erzeugen möchte, was man deutsch, national, eigentümlich nennen dürfte? War es ja doch nur bis jetzt die Bücherwelt, die die Verlassenen ihre Litteratur nennen wollen, welche bisher ein gewisses Einverständnis unter den mancherlei Gebräuchen, Stämmen, Sekten und Religionen, Dialekten und gegenseitigen Befeindungen aufweisen konnte. Mögen sie diese doch nun zu etwas Edlem, Richtigem ausarbeiten, zu einer Gestalt vollenden, die sie mit einigem Vertrauen ihren Nachkommen überliefern dürfen! Vielleicht, ja wahrscheinlich waren es die verschiedenartigen Verfassungen, alle die Überreste aus dunkeln Jahrhunderten, die das Reifen dieser Frucht bisher unmöglich gemacht. Besser, daß diese große Erschütterung, der die Welt nicht mehr ausweichen kann, uns von einer fremden gebildeten Nation mitgeteilt werde, die große Erfahrungen gemacht und überwunden, von einem Manne, vor dem sich zu beugen keine Schande ist, als daß diese Begebenheit aus der Verworrenheit der Menge, aus blindem Drangsal, aus der Schlaffheit hervorgehe. Kunst und Wissenschaft, Philosophie und Poesie, auf welche die Deutschen so eitel sind, mögen nun ihre Schwingen entfalten und den Flug um so höher richten, als sie nicht mehr gegen hemmende Politik und vielfältige bürgerliche Einrichtungen zu kämpfen haben. Die Freiheit der Presse ist wenigstens das erste Gut, auf welches wir mit Gewißheit rechnen dürfen. Alle die armen Journalisten, die bisher nur matt und leise dieses und jenes durften ahnen lassen, weniges lispeln, sie dürfen jetzt die Trompete nehmen und das von den Dächern verkündigen, was etwa nur noch in den vertrautesten Kreisen geflüstert wurde. Erst durch diese kann eine öffentliche Meinung in Deutschland geboren werden; und auch diese Kunst oder dies Handwerk, durch Journale und Zeitungen Gesinnungen zu verbreiten, müssen wir erst von den Franzosen und hauptsächlich von den Engländern lernen. Solange es bei uns noch ganze Dörfer gibt, die weder lesen mögen noch können, ist es mir immer, als ob man von einem Gespenste rede, wenn man von der deutschen Litteratur spricht. Überlege ich also unbefangen und in größerem Sinne das, was uns jetzt zugestoßen ist, so wage ich es zu behaupten, daß unser Verlust mit einem Mikroskop muß aufgesucht werden, daß unser Gewinn aber etwas Unermeßliches sei.«

Der Franzose lächelte selbstgefällig. Kronenberg schwieg nachdenkend und betrachtete den Grafen, der sich voll Verdruß auf die Lippen biß; der finstre Liancourt machte eine Miene, aus der man so wenig Beifall als Unzufriedenheit lesen konnte; und da alle schwiegen, machte der Redner eben Anstalt, in seiner Abhandlung fortzufahren, als Emmerich, glühend rot im Gesicht und mit glänzenden Augen, in diese Worte ausbrach:

»Wie? Litteratur, Kunst und Poesie könnten ohne Vaterland sein? Ohne dieses Grundgefühl, welches diesen Blüten erst Klima und Wärme verleihen muß? So leicht wollte ich glauben, daß der starre Leichnam eines Greises wieder zur Jugendfrische und allen Leidenschaften belebt werden könnte. Man kann noch fragen, was wir verloren haben? Nicht dieses und jenes, sondern alles; und daß es Deutsche gibt, die so fragen können, die mit sophistischer Überweisheit jene hohen, einzig hohen Güter verkennen und verschmähen, dies ist das Elend unserer Tage, daran sind wir zu Grunde gegangen. Geblendet vom Glanz ausländischer Herrlichkeit, strebten wir nach Dingen, die uns nicht aneignen,Gehören, für uns passen. die keine Güter, kein Glück für uns sind, und lernten die Gaben, das wahre Glück, die einheimische Trefflichkeit verschmähen, die uns ein gütiges Schicksal noch gegönnt und gelassen hatte. Wenn dieses Glück, diese Freiheit, die sich nicht in Zahlen, nicht in geschriebenen Paragraphen aufweisen läßt, einmal ganz verscherzt sein wird, dann werden wir an ihrem Grabmal erst wissen, was wir besessen haben. Und jetzt, durch diesen ungeheuern Schlag, sollte eine Freiheit, auch die kleinste nur errungen werden können? Das wenigstens, was man die Freiheit der Presse nennt? O, wir werden sehen, wie alle unsere Zeitungen, wie alle Flugblätter, die so oft die Miene der Freiheit angenommen haben, dem Sieger huldigen; wie dieselben Menschen, die bitter und ungerecht gegen ihre angebornen Fürsten waren, nun schmeichelnd im Staube kriechen. Freiheit! welch großes, schönes Wort! Welch edles Herz möchte nicht für dieses kostbare Gut erglühen? Nur wahre sich der Bessere, wenn er das Höchste zu verteidigen strebt, nicht aus mißverstandenem Eifer sich denen beizugesellen, die ohne Staat und Vaterland, Diener des Augenblicks und der bethörten Menge, dies heilige Wort in ihren Fahnen führen, um ihrem Groll, ihrem Haß der Obrigkeit, ihrer Zerstörungswut Bahn zu brechen. Drücken uns Mängel, bedarf der Staat neuer Kräfte, so erwecke man diese; man heile jene, aber auf dem gesetzlichen Wege; warne, unterrichte derjenige, der sich dazu berufen fühlt, und zeige in verständigen Schriften, daß er sein Vaterland kennt und liebt, daß er es verdient, Staatsmännern und dem Monarchen als Ratgeber, der Menschheit selbst als Wohlthäter zu erscheinen. Aber wie, den Journalen, den Zeitungen und Tagesblättern sollen wir dieses Palladium vertrauen? Diese Krankheit wünscht man uns als Gewinn, daß sie sich allgemein verbreite, an welcher England vielleicht einmal verbluten muß und gern die größten Opfer brächte, wenn es diese Preßfrechheit hemmen könnte? Wie gutmütig sorgen die Regierungen doch, daß auch der ärmste Unterthan schreiben und lesen lerne, wähnend, daß dieses nur Kennzeichen der Bildung des gemeinen Mannes sei; wie arbeiten sie sorgfältig, damit er nur ja in Zukunft alle die ungerechten und oft hämischen Angriffe erfahre, die die besten Bemühungen der Regenten erleiden müssen. Man sehe nur jene englischen Zeitungen an, wenn man mich der Übertreibung beschuldigt, die für den Landmann, ja für den Pöbel der Provinzen berechnet sind und wahrlich nicht Belehrung, Zurechtweisung, edlen Freiheitssinn enthalten, sondern nur immer wieder die verderblichen Funken ausstreuen, ob denn nicht einer einmal zum Mordbrand aufschlage. Und brauche ich denn jenseit des Meeres nach Beispielen zu suchen? Liegen sie uns nicht näher, wenn auch vielleicht nicht ganz so bösartig? Welche Masse von seichtem Räsonnement, welche elenden Deklamationen, welcher unberufene und unsinnige Haß gegen jede Obrigkeit hat sich bei uns seit dieser unseligen Revolution gesammelt und ausgesprochen! Welche unmenschliche Schadenfreude über das unerhörteste Unglück, welche Gleichgültigkeit bei den schrecklichsten Begebenheiten! Vorzeit und Gegenwart möchten die Schreier ebenso unphilosophisch als unhistorisch in den Abgrund werfen und vernichten, um nur ihre chimärische Zukunft, die tyrannische Oberherrschaft ihrer Grillen zu begründen. Sie zürnen in ihrem Freiheitseifer, wenn der Despotismus Heinrichs, des deutschen Kaisers,Heinrich IV. (1056-1106), Gegner Gregors VII. Tieck schließt sich hier der Auffassung Johannes Voigts an, der 1815 eine Schrift über Gregor veröffentlichte, in welcher er diesem Papste eine sehr günstige Beurteilung zuteil werden ließ. von einem kräftigen Papst gebrochen wird, der in jenem Zeitalter Freiheit fester gründete, als sie zu träumen vermögen; sie finden es aber ganz in der Ordnung, wenn Ludwig der MärtyrerLudwig XVI. von Frankreich (1774–93). von einem verruchten Revolutionstribunal gemißhandelt wird. Bis jetzt war es anders bei uns als in Frankreich und England, und unser Volk darf stolz darauf sein. Fast seit zwanzig Jahren ertönen diese Grundsätze durch unsre Gebirge und Fluren, die Heere des Feindes sind fast ebenso viele Jahre abwechselnd die Beherrscher verschiedener Provinzen; und wo ist ein Land, ein Stamm, eine Stadt, ja, ich möchte sagen, ein Dorf zu nennen, die ihrem angebornen Fürsten treulos geworden wären? Nein, fester sind die Bande gezogen, inniger ist diese Liebe entzündet. Was haben sie gelitten, die Ärmsten, und mit welchem Jauchzen haben sie ihre Fürsten wieder begrüßt! Nein, das können die deutschen Herrscher auch nie vergessen, nie diese Hingebung, diese Opfer, diese unwandelbare Treue (die sich immer wieder bewähren wird) mit Undank erwidern. Nie werden sie in den Irrtum verfallen, die Stimmen jener Blätter mit der Stimme ihres Volks zu verwechseln.«

»Mithin«, warf der Musiker ein, »wird die jetzige große Begebenheit ohne allen Nutzen sein?«

»Der Himmel hat sie zugelassen«, antwortete Emmerich, »und aus dem tiefsten Elende blitzt mir eine Hoffnung entgegen. Wir werden alle zur Erkenntnis kommen; wir werden uns vereinigen, ein wahrer Nationalsinn wird und muß erwachen und alle Provinzen brüderlich verbinden. Vielleicht fällt dann einmal ein Glück, ein ungeheures Schicksal vom Himmel, und eine allgemeine Flamme lodert über Berg und Flur, ein Freiheitsruf ertönt durch alle Gauen, ein Fürstenwort erklingt durch alle Wälder, und nun versammelt sich jung und alt um die vielgeliebten Regenten, und es gelingt vielleicht durch des Himmels Gnade, was jetzt unmöglich scheint.«

»Sie werden zum Propheten!« sagte der Musikus hämisch; »in jener goldnen Zeit werden Sie sich dann ohne Zweifel niedersetzen und ein Journal oder Wochenblatt in einem ganz entgegengesetzten Sinne herausgeben, jedes Gebrechen loben, den Ministern schmeicheln, das Mittelalter zurückwünschen und den Despotismus predigen.«

»Nein!« rief Emmerich lebhaft aus, »wenn ich dann noch atme und mich bewegen kann; so nehme ich eine Muskete auf die Schulter und trete mit dem ärmsten und niedrigsten meiner Brüder in Reihe und Glied.«

Er konnte seine Rührung nicht verbergen und entfernte sich schnell; der Graf folgte seinem Lieblinge, erschrocken über das, was er auszusprechen gewagt hatte. Der Musikus schickte beiden ein lautes Gelächter nach, in welches der heitere Duplessis einstimmte; Liancourt aber stand auf und sagte: »Beim Himmel! Gibt es noch viele solche Menschen in Deutschland, so können wir hier noch einmal einen harten Stand haben. Er hat uns gesagt, was wir eigentlich nicht hören durften; aber er ist jung und brav, und wir sind hier Gäste und keine Spione. Ich kann die Dinge nicht ganz so sehn wie er, und über dieses Kapitel ließe sich noch vieles sagen, manches näher erörtern, anderes beschränken. Wo aber eine Gesinnung aus dem Vollen geht, da hat sie auf ihre Weise immer recht.« – Er ging hinaus und hörte kaum auf die Scherze, die Duplessis ihm nachrief. Jetzt entfernte sich auch der Musikus, und Duplessis sagte zu Kronenberg, mit dem er sich jetzt allein befand: »Auf diese Weise, wie es dieser verstimmte Jüngling sich träumt, geht es weder jetzt noch in der Zukunft; aber meine Imagination hat die ganze Nacht das verarbeitet, was Sie mir gestern und vorgestern eröffneten. Sie kennen meinen Haß gegen die jetzige Verfassung meines Vaterlandes, gegen den Mann, dem wir alle als unserm sogenannten Kaiser demütig huldigen müssen; er vergeudet unsere besten Kräfte und dankt uns kaum dafür; sein Ehrgeiz verpraßt das ungeheure Erbteil, das er aus den blutigen Händen des Aufruhrs empfangen, und er ruht nicht eher, bis er sich und zugleich uns alle zerschmettert hat.«

Kronenberg antwortete: »Wenn wir einmal wieder allein und ungestört auf Ihrem Zimmer sind, sollen Sie eine deutlichere Einsicht in jenen großen Plan haben, von dem Ihnen einige Erörterungen kaum noch einen fernen Anblick gewähren können. Durch ganz Deutschland, ja wohl noch weiter, zieht sich diese große Verbindung; die Brüder kennen sich und verstehen sich durch Zeichen, Schrift und Rede, die jedem andern unverdächtig sind. Wenn alles reif ist, so wird von allen Seiten das Ungeheure hervortreten und mit vielen, aber sichern Schlägen die Gestalt der Welt verändern.«

»Und wer lenkt«, fragte jener, »diese weitverschlungene Verbindung?«

»Man hat«, sagte Kronenberg, »trotz meiner Jugend viel Vertrauen in mich gesetzt, daß ich mich wohl ohne Eitelkeit einen der Regierenden nennen darf. Ich habe jetzt einen großen Teil von Deutschland gesehn und die Reise hieher benutzt, neue Fäden anzuknüpfen, neue, bedeutende Mitglieder anzuwerben und mich den obersten Häuptern bekannt zu machen. Jetzt nur hat meine unversehene Krankheit so manches gehindert, wenigstens verzögert; ich konnte nicht schreiben – man wußte nicht, wo ich war.«

»Ist der Graf in Ihrem Bunde?«

»Nein, er ist, wie seine Söhne, viel zu schwach, um teilzunehmen; seichte Schwärmer, wie jener Emmerich, könnten uns nur schaden.«

»Können Sie mir aber nicht einige der größten Häupter namhaft machen, damit ich der Sache noch mehr vertraue? Denn vornehme, wichtige Leute müssen doch, wie Sie selbst sagen, Mitglieder sein.«

»Nicht heut'!« erwiderte Kronenberg; »binnen kurzem sollen Sie alles erfahren, was ich selber weiß. Aber diese Aufstände im Rücken der Armee, diese kleinen Korps, die sich hier in unserer Nähe formiert haben, sind schon ein Vorspiel.«

Duplessis wurde von einer Ordonnanz abgerufen, und bald nachher trat Emmerich wieder herein. Er schien etwas sagen zu wollen und war doch verlegen. Endlich näherte er sich und faßte Kronenbergs Hand. »Mein Teurer«, fing er an, »den ich so gern meinen Freund nennen möchte – warum weichen Sie mir, und oft mit Verachtung, aus?« – Kronenberg war verlegen. »Sie vertrauen sich Menschen«, fuhr jener fort, »die es nicht verdienen, und entdecken ihnen vielleicht Dinge, die diese Fremden am wenigsten erfahren dürften. Ich zittre, wenn Ihnen etwas zustoßen sollte, und nicht bloß als Ihr Freund, sondern noch mehr als Freund des edelsten, schönsten und herrlichsten Wesens, das die Natur jemals erschaffen hat.«

»Wen meinen Sie?« fragte Kronenberg.

»Sollten Sie es nicht wissen? Brauche ich Cäcilien noch zu nennen? Sie ängstet sich, daß sie Sie mit diesem langweiligen Fremden in so genauer Verbindung sehn muß; sie fürchtet davon die schlimmsten Folgen. Können Sie es denn über sich gewinnen, dieser holdseligen Erscheinung auch nur eine Sekunde ihres Lebens zu trüben? Wär' ich so glücklich wie Sie, welches Opfer wäre mir wohl zu groß? Und Sie können anstehn – daß ich es doch heraussage – Ihre Eitelkeit etwas zu zähmen? Denn sie ist die Kette, wodurch dieser Mensch Sie bindet. Er bewundert Sie, er vergöttert Ihre Talente, er schmeichelt Ihnen. Ob es ihm Ernst ist, weiß ich nicht; daß er aus Absicht lüge, will ich nicht behaupten – aber ganz unwahrscheinlich ist es nicht.«

»Sie kränken mich!« rief Kronenberg aus. »Ich halte Duplessis für einen edlen Menschen; auch habe ich weiter keine Verbindung mit ihm, als wie sie täglich unter Gebildeten stattfindet.«

»Sie wollen mich nicht verstehn«, fuhr Emmerich etwas beleidigt fort; »Sie weichen mir wieder aus, wie immer. Auch der Graf, der Sie wie ein Vater liebt, läßt Sie bitten, ja beschwören, vorsichtig zu sein.«

»Aber ich begreife nicht, wie die ganze Familie plötzlich zu dieser unnötigen Angst gekommen ist.«

»Lieber Feldheim, Sie wissen, mit welcher Sorgfalt der Graf jenes Buch aufhob, welches Sie mit sich führen, wie er es verbarg, weil nach dem Autor schon längst geheime Nachforschung geschieht. Sie forderten es zurück, und wir erstaunten, ja erschraken, als Sie es uns vertrauten, daß Sie der Verfasser seien. Die Bewunderung des Grafen ist freilich nicht größer als seine Furcht, daß Ihr Talent Sie unglücklich machen könne. Aber heute früh, als er und ich diesen Duplessis besuchen, finden wir das Werk dort offenbar liegen; er nennt uns Sie als den Urheber; mit einem Schwall von Hyperbeln erhebt er die Vortrefflichkeit des Buchs, vergöttert Sie und sagt mir, Sie hätten sich ihm unverhohlen entdeckt.«

Kronenberg war auf einen Augenblick verlegen; doch faßte er sich bald und sagte: »Ich ehre den Mann und hielt ihn nicht für so geschwätzig. Doch sehe ich auch kein Unglück, da er sich nur Leuten vertraut hat, die schon um die Sache wußten.«

»Davon ist die Rede nicht«, erwiderte Emmerich ernst; »Sie sollten unsere treue Warnung mehr achten.«

»Lieber Freund«, sagte Kronenberg mit einem geheimnisvollen Lächeln, »Sie ängstigen sich um Kleinigkeiten. Ich wünschte, Sie könnten größeren Ansichten Raum geben, so würde ich Ihnen manches entdecken, was Ihr Herz erhöbe und diese kleinliche Furcht auf immer verjagte. Darf ich zu Ihnen reden?«

Emmerich trat einen Schritt zurück. »Ist es möglich?« rief er aus, indem er ihn scharf betrachtete; »können Eitelkeit und Geheimniskrämerei den Menschen so tief aushöhlen, daß er das schönste Glück, das vor ihm liegt, mit Füßen von sich stößt, um Wolkengebilden nachzulaufen? – O, du arme Cäcilie!« – Mit diesen Worten verließ er eilig das Zimmer.


Man hatte sich vorgesetzt, an einem freundlichen Tage in der Nachbarschaft einen Besuch zu machen. Da alle Fremden mit eingeladen waren und außer den Offizieren noch andere Gäste im Hause wohnten, auch der Musikus und der vermeintliche Feldheim nicht fehlen durften, so wurden verschiedene Wagen gebraucht und eingerichtet, und die Gräfin, die gewöhnlich die Besorgung und Einteilung der Gesellschaft über sich nahm, hatte an solchen Tagen viel zu rechnen und zu überlegen. Es war ihr daher nicht angenehm, als sie während ihrer Betrachtungen durch ein zu lautes Gespräch im Nebenzimmer gestört wurde, in welchem die Kammerjungfern, von denen einige mitfahren sollten, lachten und schrieen und nur beruhigt wurden, als der alte Baron Mannlich zu der Schwester in das Zimmer trat. »Lieber Bruder«, sagte die Gräfin, »warum zeigst du deinen Gästen immer wieder von neuem diese Blöße und gibst Veranlassung, über dich zu scherzen?« – »Sei stille«, flüsterte der alte Mann, »es geschah zu deinem und zu aller Besten.« – »Zu meinem Besten?« – »Ich habe eben eine Untersuchung angestellt, die höchst wichtig war. Die Wäscherin ist drinnen, und da ich das eine Halstuch fortnehmen und dir bringen will, rissen sie mir es wieder weg, und das war die ganze Unruhe. Aber die Sache selbst ist wichtig. Denke dir, alle Wäsche unsers Vetters, des jungen Feldheim, ist mit v. K. gezeichnet. Wie erklärst du das?«

»Lieber Bruder«, sagte die Gräfin, »es ist höchst unschicklich, daß du dich immer in dergleichen Dinge mischest; vielleicht hast du nicht recht gesehn, vielleicht – wer weiß, woher es kommt. Ich habe keine Zeit zu diesen wichtigen Betrachtungen.«

»Auf seinem Zimmer«, fuhr der Alte fort, »habe ich diesen silbernen Stift gefunden, auch v. K. gezeichnet. Meine Augen sind noch gut; sieh selber her, so kannst du es erkennen. Ein Petschaft führt er gar nicht mit sich: kein Wappen! Ist das nicht unbegreiflich?«

»Du hast ja so oft gehört«, sagte die Gräfin, »daß ihm seine Brieftasche mit vielen andern Sachen ist entwendet worden.«

»Ich ruhe nicht«, rief der Alte, »bis ich weiß, wer er ist. Er hat noch keinen einzigen Brief bekommen, seit er hier ist – er hat noch keinem Menschen geschrieben. Ist das nicht unnatürlich?«

»Unnatürlich? bei dem jetzigen unsichern Postwesen? Und wer sollte er denn sein, wenn er nicht unser Vetter wäre?«

»Neulich«, fuhr der alte Mann fort, »erzählte ich ihm ein langes und breites von meiner Tante Kugelmann, die er doch in seiner Familie oft muß haben nennen hören; sie ist berühmt, die Frau, und nach einer Stunde nannte er sie Baronesse Kegelfrau. Da ist mir der Verstand völlig still gestanden.«

Die Gräfin lachte. – »Daß ich in Halle studiert habe, war ihm eine ganz neue Sache. Nun, das weiß doch die ganze Welt um wieviel mehr ein Vetter. Es war ihm auch was Neues, daß mein Bruder ein krummes Bein hat; den Mann in unserm Wappen hielt er vorgestern für einen Affen. Das alles geht mir so im Kopf herum, daß ich mich nicht zu lassen weiß. Darum muß ich Zerstreuung suchen.«

»Sei nur fertig, lieber Freund«, sagte die Gräfin, »denn wir fahren gleich, und du richtest es immer so ein, daß wir warten müssen, und kennst doch die Ungeduld meines Mannes.«

»Nächstens muß er mir«, rief der Alte, »das Wappen der Feldheim erklären, und wenn's da auch hapert –«

»Du weißt ja, Lieber, daß die jetzige junge Welt auf dergleichen nicht sehr achtet.«

»Es wird doch kein verruchter Gottesleugner sein!« rief der Alte im höchsten Zorne und entfernte sich, mit den Füßen stampfend.

Als man zur Fahrt aufbrechen wollte, war lange ein Hin- und Herhandeln um die Plätze, und welche Kutsche früher, welche später abgehn könne. Kronenberg eilte noch einmal in den Saal, um ein entlehntes Buch wieder an seinen Platz zu stellen. Fast im nämlichen Augenblicke trat Cäcilie durch die andere Thür herein, um ihren Hut abzuholen, den sie hier vergessen hatte. Kronenberg bat um die Erlaubnis, sich zu ihr in den Wagen setzen zu dürfen; sie gewährte sie, im Fall es nicht der Einrichtung ihrer Mutter widerspreche. Im kleinen Hin- und Herstreiten verzögerten sie und achteten nicht auf eine leise Bewegung, die sie an der Thüre hörten. Sie war verschlossen, als sie endlich hinausgehen wollten; man wollte die zweite öffnen, sie widersetzte sich ebenfalls, und die dritte war in demselben Zustande. Kronenberg sah Cäcilien verlegen und errötend an. »O weh!« rief diese, »der böse, alte, zerstreute, wunderliche Onkel! Mit seinem Hauptschlüssel, den er immer bei sich führt, um sich mit allen Schlössern zu thun zu machen, hat er uns eingeriegelt! Und, sehn Sie, da fahren schon alle Wagen über das Feld im schnellsten Trabe hin!«

Kronenberg wollte ein Fenster aufreißen, aber Cäcilie hielt ihn zurück, indem sie sagte: »Keine Übereilung! Alle Bedienten sind mitgefahren und ‑geritten; Verwalter und Gärtner, Brauer und ihre Hausgenossen sind so entfernt, vielleicht auch ausgegangen, daß wir sie nicht errufen können. Einen zufällig Vorübergehenden in Anspruch zu nehmen, könnte nur dazu nutzen, den Schlosser aus dem nächsten Orte herbeizuholen; und welches Aufsehn, das ich durchaus nicht wünschen kann, würde die Begebenheit machen! Denn einzuholen sind die Reisenden nicht wieder.«

»Eine sonderbare Lage«, sagte Kronenberg.

»Die wir nur so wenig wie möglich zur Geschichte der Provinz machen müssen«, erwiderte Cäcilie. »Der Ort, wohin sie fahren, ist zwei Meilen von hier entfernt; sie können uns nicht früher als dort vermissen; senden sie auch in der größten Eile zurück, so braucht der Bote doch wieder zwei Stunden, und wir müssen also vier in Ruhe hier aushalten. Ob es dann noch der Mühe verlohnt zu fahren, ist die Frage. Sie können wenigstens hinüberreiten. Also Geduld ist das, was wir am nötigsten brauchen; fasten müssen wir auch. Setzen Sie sich also dorthin und lassen Sie, lieber Vetter, uns mancherlei erzählen, uns vielleicht etwas vorlesen, oder spielen Sie dort auf dem Fortepiano.«

Kronenberg that es. Er war über diese seltsame Lage, in die er plötzlich geraten war, so erstaunt, daß er selbst nicht wußte, wie er sich benehmen sollte. Konnte ein Liebender einen glücklicheren Zufall wünschen als diesen, der ihm so viele Stunden eine ungestörte Einsamkeit vergönnte: dem Gegenstande seiner Leidenschaft alle seine Gefühle zu sagen, wozu ihm in dieser unruhigen Zeit immer noch die Gelegenheit gemangelt hatte? »Eine Fee«, fing er an, »hat Sie, teure Cäcilie, in diese Gefangenschaft versetzt, damit Sie mich anhören sollen; damit Sie erfahren, wie ich von Ihnen denke.«

»Sie sollen auch wissen, wie ich von Ihnen denke«, erwiderte sie. »Vielleicht ist es möglich zu machen, daß wir uns verstehn. Und doch –«

»Wie? sollten Sie an meinen Empfindungen zweifeln können? Noch zweifeln, daß mein Glück oder Unglück an Ihren Lippen hängt?«

Cäcilie ging sinnend im Zimmer auf und ab; dann setzte sie sich zu Kronenberg und fragte: »Denken Sie sich denn auch bei diesen Worten etwas? oder sind es nur die hergebrachten Redensarten?«

»Sie kränken mich, Teuerste!«

»Nun ja, Vetter, ich will glauben, daß Sie mir gut, recht gut sind; ist das etwas Besonderes? Das bin ich allen Menschen. Was höher als diese Freundschaft, dieses Wohlwollen steht, kann etwas Himmlisches, Überirdisches sein, aber auch wohl, so ahndet mir, etwas recht Böses; oder auch nur Schein, mit Lüge und Trug vermischt. Ach, die armen Menschen! Sie wissen es ja oft selber nicht, wenn sie sich und andere hintergehen.«

Kronenberg faßte ihre Hände; er ließ sich auf ein Knie nieder; er küßte die dargebotene Hand und wiederholte seine Beteurungen. Wie erschrak er aber, als sie ihn plötzlich zurückstieß, wie entsetzt vor ihm floh, mit lautem Weinen und Schluchzen sich auf das Sofa setzte und das Haupt trostlos in die Kissen verbarg. Lange konnte sie auf seine Ermunterungen, auf seine Bitten keine Antwort geben; die Stimme versagte ihr immer von neuem, und da auch er zu Thränen gerührt wurde, erhob sie sich endlich, wie noch stärker erschüttert, und rief: »Feldheim! Vetter! Auch Thränen? Worüber?«

»Daß ich das Leben meines Lebens so trostlos sehen muß; daß ich verkannt werde.«

»Ach! Liebster!« klagte sie; »nein, ich, ich kenne Sie; von den übrigen mögen Sie vielleicht verkannt werden. Kann man den mißverstehen, den man liebt?«

»Sie lieben mich? O Cäcilie, ja, du bist meine Gottheit!« rief Kronenberg und stürzte wieder zu ihren Füßen nieder. »O, dann bin ich der Glücklichste der Menschen; dann sollst du mit mir selig werden.«

»Elend«, sagte sie mit schwerem Tone, »werden wir beide sein, vielleicht die Elendesten aller Menschen. Gibt es einen tiefern Jammer, ein kläglicheres Herzeleid, als lieben und nicht achten, eine, eine Seele auserwählen müssen, sich ihr ganz unbedingt hingeben wollen und doch nicht vertrauen können? Zweifeln, wo uns der schönste Glaube erheiternd erfrischen müßte? In den Tempel gehen, um in erster Frühlingswärme, im neuen Gesundheitsgefühl nach Todesnächten Gott anzubeten und auf dem Altar ein lügenhaftes Fratzenbild zu finden?«

Kronenberg war vernichtet und vermochte keine Antwort zu geben; denn jeder Gedanke versagte ihm. Sie konnte ungestört fortfahren: »Wenn ich schon sonst von dir reden hörte, wie malte meine neugierige Phantasie dein Bildnis aus. Du solltest kommen. Die Stunde schlug, und das Entsetzlichste geschah; eine Begebenheit, schlimmer als Tod, ereignete sich vor meinen Augen. Ich kannte dich nicht, nur meine Schmerzen um dich. Wie ein Heiliger warst du mir geworden. O, Himmel! Wie wenig verstehen die Menschen, was Wohlthun ist! Sie belächeln oft meine teure Mutter. Ist sie dir denn nicht auch Mutter, fast mehr als Mutter geworden? Zum zweitenmal bist du durch sie da und genießest des Lichtes und deiner selbst. Ein Gegenstand freudiger Rührung, wehmütiger Wonne war mir dein Krankenlager. Dein Erwachen, dein erster Blick, der in mein Auge traf, war wie ein Strahl des Himmels, wie ein Aufschaun aller Liebe, die durch alle Welten leuchtet und waltet. Ich sah dich öfter, und mir war, als würde kein heller Tag, wenn ich nicht deinen Blick gefühlt hatte. Schlief doch mein Auge noch und war bewölkt, bis des deinen brauner Glanz es erweckte. Ich hatte nun erst erfahren, was die Augen bedeuten. Ach! was schwatze, was fasele ich alles durcheinander, ich armes Kind? Mit der zunehmenden Gesundheit, mit der verschwindenden Gefahr kamst du mir immer näher: ich ward dir inniger vertraut. Ich glaubte immer deine Gedanken zu hören, und oft sprachst du auch das, was ich eben gedacht hatte, wörtlich und buchstäblich so, nur alles in süßem Klang, in Feuer und Herzlichkeit getaucht. Ich wußte nur von dir, und kaum noch, daß ich lebte, als nur in dir. – – Und nun –!«

»Nun? O, halten Sie ein, Geliebteste! Nein, fahren Sie fort, sagen Sie mir alles, zerschmettern Sie mich ganz.«

»Nun wieder wohl und gesund, sprechend und scherzend in der Menschenmenge, geliebt von uns allen, geschmeichelt von jedem; und, wenn ich hinzutrat, als wenn ich in einen tiefen Abgrund schaute, in eine unabsehliche Herzensleere und kalte Öde. Jeder fremde Ton, das unbekannteste Wesen stand Ihnen näher, war Ihnen mehr als ich und mein Jammer. Ich schwindelte mit Entsetzen in diese Tiefe hinunter. Der kalte Schauer, der in früher Kindheit über mich kam, wenn ich meinen geliebten Wachspuppen nun endlich recht in die Augen von Glas schauen wollte und einen Blick des Bewußtseins erhaschen, kam über mich. In dem Wesen, das mein sein sollte, dem ich schon ganz gehörte, Grauen und Finsternis, Tod; aus ihm ein nichtiges Gespenst blinzend und lachend – und wandte ich von dort den Blick in die übrige Welt, die mir bis dahin so lieb gewesen war: kalte Trostlosigkeit des Grabes. Kein Mann kann diesen fürchterlichen Zustand ermessen und verstehen. Ich fühlte mich ganz, ganz verloren und ohne alle Aussicht, mich jemals oder irgend etwas zu gewinnen. Jede Sprache ist zu arm, das Entsetzen dieses Bewußtseins auszusprechen. Alles war mir verständlicher, als der eine; wie lieb, wie hold war Emmerichs Auge! wie vertraute ich seinem Herzen! wie edel erschien mir der finstre Liancourt! ja selbst Duplessis war mir näher, nur du mir völlig entrückt; und doch war mein Herz wie durch einen gräßlichen Zauber gebunden, und so oft ich strebte, es loszureißen, fühlte ich auch, daß die Fäden meines Lebens, ja die Fugen meines Geistes, möcht' ich fast sagen, brechen wollten.«

Kronenberg war so heftig erschüttert, daß sein ganzer Körper zitterte. Sein Gesicht war leichenblaß, und keine Thräne drang aus dem starren, fast gebrochenen Auge.

»O, des Jammers!« fuhr Cäcilie klagend fort, »das ist also, mußt' ich zu mir selber sagen, das Glück der Liebe? Das ist es nun, womit die Menschen heucheln und spielen, und in kläglicher Eitelkeit, in beweinenswürdiger Verblendung den Unsinn des Lebens, die Verzweiflung des Daseins in Grimasse und Redensart, in abgeschmackten Selbstbetrug hinein retten, um nur das göttliche Angesicht der Wahrheit nicht zu erblicken? Und ich Ärmste mußte nun unter Millionen erlesen sein, Ernst damit machen zu wollen; mit einem Gefühl, als sollte ich Stücke meines Körpers, Hand, Arm, das zerrissene Herz als Karten ausspielen, um die andern Mitspieler zum Lachen oder Entsetzen zu bewegen. Was quäl' ich mich, dir, Abgestorbener, dir, wandelnde Leiche, deutlich zu machen, wovon auch kein Sonnenstaub des Gefühls in deinem verfinsterten Geiste schimmern wird? Gäbe es noch Klöster, dahin würde ich flüchten. Nur ganz sich Gott in stillster Grabeseinsamkeit widmen, kann vielleicht Trost für diese Schmerzen bieten.«

Kronenberg erhob sich, und es war ihr, als komme ein ganz verwandelter Mensch ihr entgegen. »Sie haben gesiegt«, sagte er mit matter Summe, »und – ich fühle es mit stiller Beruhigung, ich darf es aussprechen, für die Ewigkeit. Ja, Liebste, Ihre Seele hat mich erkannt, aber auch wie mit magischer Kraft auf die meinige, die entschlummert war, gewirkt. Ich fühle es, der Mensch kann und muß zweimal geboren werden, und dies war der große, wichtigste Moment meines Lebens, wo der Ewige selbst durch diesen Mund zu mir gesprochen hat. Ein ungeheurer Schmerz hat meine Seele entbunden; aber jetzt fühle ich mich wohl und heiter, leicht und klar; ein süßer Tod hat nun alles begraben, was nicht zu mir und meinem Selbst gehörte.«

Cäcilie sah ihn getröstet an. »O, Teurer«, rief sie, »aus diesen Augen sieht jetzt ein Kindergeist, ja, die Unschuld selbst, die Wahrheit. Kann es, wird es so bleiben? Wird nicht wieder der Schein diesen redlichen Blick verlocken und umwandeln?«

»Nein«, sagte Kronenberg. »Ich weiß es jetzt, wie die Nichtigkeit, die mit unserm innersten Wesen verwebt ist, wie dieser leere Schatten der Wirklichkeit mich ganz umdunkelt hatte. Das ist die arme Schwäche unsers Wesens, die Sterblichkeit, daß wir dieses Leere für ein Wahres halten, uns selbst entfliehn und immer wieder, wenn die innere Stimme ruft, wenn das Göttliche sich erhebt, dieses Nichtsein dem Himmel und der Wirklichkeit vorbauen. Dies, ich habe es längst geahndet und in dieser Stunde geschaut, dies ist der böse Geist in uns, von dem die Thorheit so viel gefabelt hat; Fabeln, die er selbst ihr in den Mund gelegt; denn hat man dieses Unwesen erkannt, so ist es gräßlicher als das wildeste Gespenst, als alle satanische Ungeheuer, die die Fieberkranken je schauten. Dieses Wesen ist da und nicht da, es ist Unsinn, ein Nichts, die Ohnmacht selbst und doch so furchtbar und gewaltig, so greulich wirklich, weil es die Wahrheit, Vernunft, Wirklichkeit, das Göttliche in uns bemeistern und vernichten kann. So arm ist unser irdischer Zustand, den nur die Liebe von seinen Banden erlösen konnte und immer von neuem erlösen muß.«

»Ich verstehe Sie ganz«, sagte Cäcilie erfreut. »O, himmlische Wahrheit und Unschuld! Jeder Mensch hat doch einmal deine Süßigkeit geschmeckt, und doch gehen fast alle wieder zur finstern Lüge hin, die ihnen nur Wermut bietet. Wie ein freigemachter Vogel flattert die Seele in diesen reinen blauen Himmel hinauf, um im klaren Licht zu schwimmen – und mit elendem Netze, mit Leim läßt sich das Unsterbliche wieder in den Schmutz hinabziehen und festkleben.«

»Hören Sie jetzt alles«, rief Kronenberg aus, »alles, in dieser feierlichen, großen Stunde. Und müßte ich augenblicks sterben, ja müßt' ich Ihre Liebe auf immer verlieren und ewig nur Ihren Hohn und Verachtung fühlen: es ist ein Mut, eine Ruhe in mir, daß ich auch dies ertragen könnte. Ich habe Ihnen viel, weit mehr zu sagen, als Sie vermuten. Um so mehr Sie mir zu vergeben haben, um so größer kann sich Ihre Liebe zeigen.«

Er warf sich nieder und lehnte seinen Kopf in ihren Schoß. »Jetzt nicht, lieber Vetter«, sagte sie aufstehend, »in diesem Augenblick nicht! Ich bin zu sehr erschüttert. Gönnen Sie mir ein Weilchen Ruhe, nachher wollen wir sprechen.«

Sie setzte sich an den Flügel und phantasierte in schwermütigen Passagen. Der sonderbare Moment war vorüber, in welchem der bereuende Kronenberg sich ganz hatte entdecken wollen. Jetzt weinte Cäcilie und ward immer ruhiger, große Thränen rollten durch die schönen Augenwimpern auf die Tasten nieder; aber sie spielte ungestört weiter und endigte zuletzt mit ganz heitern Akkorden. »Nun ist mir wohl!« rief sie aus, aufstehend; »so soll, so wird es immer zwischen uns bleiben. Das ist das Glück; nicht wahr, mein Lieber?«

Kronenberg, der im Fluß seiner Gedanken gestört worden war, konnte das Wort nicht finden, um wieder anzuknüpfen. Von diesen seinen Stimmungen der Seele hängt im Leben weit öfter Glück oder Unglück ab, Entzweiung der Freunde, Verkanntwerden, Groll, der sich immer stärker und stärker festsetzt und das Dasein verbittert, als die meisten Menschen es glauben oder beachten. So konnte sich jetzt der junge Mann nicht entschließen, gewaltsam wieder einzusetzen, um das Bekenntnis alles Thörichten und aller Unwahrheiten, die er sich erlaubt hatte, in das Herz seiner Geliebten niederzulegen, wozu es ihn mit allen Kräften drängte, diese letzte Last von seinem Busen zu wälzen. Sie kramte indessen, um ihre Gefühle zu beruhigen, in Papieren und alten Zeitungen. »Welcher Wust!« rief sie aus; »und lauter Unheil! Nichts als Elend! Kommen Sie, Vetter, lesen Sie! Mein Kopf ist so schwach. Aber nicht von den politischen Artikeln! Suchen Sie unter den Anzeigen, Aufrufen und dergleichen, wo man oft sonderbares und lächerliches Zeug findet.«

Kronenberg nahm eines der ältern Blätter in die Hand, und ihm schwindelte. Er sah eine Ladung seiner Gläubiger, die ihn aufforderten, sich zu stellen, mit voller Nennung seines Namens. Er verbarg das Blatt schnell, und ein schadenfroher Geist ließ ihn ein zweites aufschlagen, in welchem ein Kronenberg beschrieben und als verdächtiger Mensch verfolgt wurde. Es mußte jener Armselige sein, der ihm wahrscheinlich seine Schreibtafel entwendet hatte. Aber so erschreckt, zagend, nachdenkend, hatte er Mut und Entschluß verloren, dem geliebten Wesen seinen wahren Namen und sein Verhältnis zu entdecken.

Kronenberg ergriff die Hand Cäciliens und sagte: »Jetzt, Teure, lassen Sie uns nicht die Stunde mit den unnützen Blättern verderben. Ich sehe, wie angegriffen, wie schwach Sie sind. Die Zeit vergeht, Sie haben nichts genossen, es ist schon spät und immer noch nicht abzusehn, daß Sie vor dem Abend Hülfe bekommen können.« Er ging mit ihr im Saale auf und ab, dann lehnten sie sich Hand in Hand an das Fenster, und er sah verlegen und nach Gedanken suchend in das Feld hinaus. Jenseit des Gartens sahen sie Gewehre blinken, welche sich näherten. »Schon wieder verdrießliche Einquartierung!« rief er aus, »das hat kein Ende. Ich bewundre die Geduld Ihrer Eltern, und daß sie gegen jeden Fremden, sei er noch so roh und ungebildet, dieselbe Freundlichkeit behalten können.«

»Was ist zu thun?« antwortete Cäcilie. »Doch besser so, als sich durch Groll und Empfindlichkeit die Plage noch schwerer machen. Und am Ende belohnt sich diese Freundlichkeit doch; denn auf unsern Gütern ist noch nichts vorgefallen, da man auf so vielen andern manche Unthat beklagt.«

Das Kommando rückte näher. Es trat jetzt in den Garten, und Kronenberg bemerkte zu seiner Verwunderung, daß sie jetzt, als sie in das Thor traten, den Gärtner gebieterisch in ihre Mitte nahmen. Sie schritten durch den Garten, den Fenstern des Saals vorbei. Der Anführer fragte den Gärtner: »Hier wohnt doch ein Baron Feldheim?« – »Ja«, antwortete dieser; »aber er ist heut' so wenig zu Hause geblieben als die übrigen; alle sind ausgeflogen.« – »Wir wissen es«, antwortete jener; »besetzt, Leute, alle Zugänge, alle Thüren des Schlosses, laßt jeden hinein, aber keinen, bis auf weitere Order, heraus! Ihr, Freund«, indem er sich zum Gärtner wandte, »müßt in unserer Mitte bleiben und Ihr dürft mit keinem Menschen sprechen.« – »Warum?« – »Bis wir den Vogel haben«, antwortete die rauhe Stimme. »Ihr könntet ihn wohl warnen lassen, daß er umkehrte und seinen Weg durch die Felder suchte. Nachher könnt Ihr gehn, wohin Ihr wollt.«

»Was ist das?« sagte Cäcilie zitternd, als sie vorüber waren. – »Ich selbst«, antwortete Kronenberg, »habe mir Verderben durch kindische Prahlerei, durch eine Eitelkeit, die mehr als abgeschmackt ist, zubereitet. Ich bin verloren, wenn ich mich nicht retten kann.« – »Aber wie?« – »Der Garten ist nicht besetzt, ich steige durch jenes Fenster hinunter; es muß gehn, wie es kann – die tiefen Fugen in den Steinen der RustikaRustica (ital.) = bäuerliche Bauart, Bauernarchitektur, eine Erfindung der Frührenaissance, die sich dadurch kennzeichnet, daß die Umrisse der auf der Außenseite roh behauenen Quaderwerkstücke (Bossagen) durch tief eingeschnittene breite Fugen hervortreten. bieten Raum für Fuß und Hand – ich treffe dann das Pfirsichspalier. Habe ich doch wohl ehemals ohne Not noch gefährlichere Dinge unternommen. Noch ist Haus und Garten leer, noch kann es in dieser Einsamkeit des Sonntags gelingen.«

Er öffnete behutsam das Fenster. »Vetter!« sagte Cäcilie und sah ihn mit einem durchdringenden Blicke an; »also so weit hast du dich nun geführt? So wird unser neuer Bund auf die grausamste Art zerrissen? Und ich darf nicht einmal fragen, was dich von mir treibt. Mußt du entfliehn?«

»Jetzt muß ich«, rief er aus. »In kurzer Zeit sehn wir uns wieder; ich selbst werde die Wetterwolken zerstreuen, die mir jetzt drohen. Lebe wohl.« Er breitete die Arme aus, sie kam ihm entgegen und drückte den ersten Kuß mit zitternden Lippen auf seinen Mund. Das Fenster war schon geöffnet, er stieg behutsam hinaus. Vom Rande suchte er mit dem Fußspitzen die Fuge – es gelang; er half sich mit aller Vorsichtigkeit hinunter – schon war er dem Spalier nahe – er stützte sich auf dieses – aber die Stange brach, und er stürzte hinab. Mit einem tiefen Seufzer schloß Cäcilie das Fenster; sie wagte nicht zu fragen, nachzusehn, um ihn nicht zu verraten.

Als Kronenberg sich wieder besann, fühlte er, daß der eine Fuß ihm seinen Dienst versagte. Er wußte nicht, ob das Bein gebrochen oder nur ausgerenkt sei. So empfindlich die Schmerzen waren, so unterdrückte er doch jede Klage; er kroch über die Beete und durch die Hecken, um sich dem Gartenthor zu nähern. Er wußte zwar nicht, wie er sich im Felde forthelfen sollte, es schien ihm aber notwendig, alles zu wagen, denn er sah nun wohl ein, daß Duplessis ihn verraten habe. Durch ein seitwärts stehendes Gebüsch näherte er sich jetzt dem Thorweg, der in das Feld führte; er beugte um, sah aber zu seinem Erschrecken auch hier einen Soldaten Wache halten. Dieser hatte die kriechende Gestalt bemerkt, ging ihr näher und nahm sie fest, da er sie für verdächtig halten mußte. Er rief seine Kameraden herbei, und da man auch den Gärtner holte, ward der Fliehende sogleich als der Feldheim, der arretiert werden sollte, erkannt. Man führte ihn, weil er nicht gehen konnte, nach dem Gartensaal. Jetzt hörte man auch schon die Gesellschaft in den verschiedenen Wagen zurückkommen. Die Eltern, die sich um die vermißte Tochter ängstigten, deren sonderbares Ausbleiben sie nicht begreifen konnten, waren schnell, nach kurzer Begrüßung der Freunde, wieder umgekehrt. Noch ehe sich die sonderbare Ursache aufklärte, die ihnen bald nicht mehr so wichtig war, vernahmen sie das unglückliche Schicksal ihres Verwandten. Die Verwirrung war allgemein. Herrschaft und Diener stürmten und liefen durcheinander. Ein Chirurgus ward geholt. Dieser renkte dem Kranken den Fuß, der nicht gebrochen war, bald wieder ein; doch blieben Schmerzen und Geschwulst. Aber es schien alles unwichtig gegen jenes furchtbare Schicksal, welches den geliebten Verwandten bedrohte. Dieser saß wieder, wie in der ersten Zeit der Genesung, betäubt im großen Saal. Der Vater nahm den finstern Liancourt beiseite und fragte nach dem Zusammenhang; Duplessis war nicht mit zurückgekommen, sondern hatte sich zu seinem General verfügt. »Der unglückliche junge Mann«, sagte der Offizier, »hat sich gegen meinen Kameraden als Verfasser jenes berüchtigten Buches bekannt – noch mehr, er hat sich gerühmt, geheime Verbindungen zu leiten, die unsere Armee und den Kaiser bedrohen. Nach dem Verfasser jenes Buchs ist seit lange geforscht – Duplessis zeugt gegen ihn – er selbst kann sein Wort nicht leugnen. Soeben erhalte ich die Order, ihn selbst nach der Stadt zu bringen; er muß sich dort vor ein Kriegsgericht stellen, er wird in wenigen Tagen erschossen.«

Der alte Baron Mannlich, der sich mit seinem greisen Kopf dicht zwischen die Sprechenden geschoben hatte, brach jetzt in ein lautes Geschrei aus, wodurch er das laut bekannt machte, was für alle übrigen noch ein Geheimnis bleiben sollte. »Erschossen?« rief er heftig, indem er den Kranken in die Arme nahm; »was? unser eigner leiblicher Vetter, so aus unsrer Mitte heraus? Das ist uns noch niemals begegnet. Unsere Verwandtschaft ist schon nur so klein, und sie soll auf solche barbarische Weise noch mehr vermindert werden? Ja, lieber, guter Vetter, Sie sind gewiß mein Vetter, wenn Sie auch mein Wappen für einen Affen hielten. Ach! wir sind ja alle Menschen und können irren. Ein Tag ist nicht wie der andere. Sie wären gewiß zur Erkenntnis gekommen. Sehen Sie, Freund, das kommt davon, wenn Edelleute Bücher schreiben wollen – sie verstehn das Ding nicht recht anzufassen; nein, niemals bin ich darauf verfallen. Und geheime Gesellschaften! Pfui! das ist nun vollends ganz unanständig. O, Herr Major, lassen Sie uns doch den lieben, trefflichen Vetter.«

Er warf sich auf den Unglücklichen und bedeckte ihn mit seinen Thränen. Es war nur schwer, ihn von Kronenberg zu entfernen, denn er hielt es für Pflicht, seinen Schmerz recht unverkennbar zu zeigen.

Cäcilie war auf ihr Zimmer gegangen und wollte sich weder von der Mutter noch von ihren Schwestern Trost einsprechen lassen. Emmerich drängte sich herzu, sagte ihr ein paar Worte, sprach dann mit dem Vater und eilte in den Stall, um ein Pferd satteln zu lassen. Noch in der Nacht ritt er mit der größten Eile davon. Der Vater sprach mit Kronenberg; dieser aber antwortete wenig und erklärte nur, er habe sein Schicksal verdient, und zwar, weil er mit der Wahrheit so freventlich gespielt, nicht, weil die Dinge wirklich geschehn wären, die seine Eitelkeit nur ausgesagt hätte.

Die Verwirrung des Hauses sollte noch vermehrt werden. Denn als man sich zur traurigen Abendmahlzeit niederlassen wollte, ward ein Kapitän mit zwei Gefangenen gemeldet. Er erschien und erklärte, daß er mit einem Kommando im Dorfe Platz nehmen müsse, denn er habe schon fünf Meilen gemacht. Er hatte sich gestern bei einem Städtchen gegen eine Überzahl von Bauern und deutschen Soldaten schlagen müssen, mit einem jener kleinen Korps, von denen man neulich gesprochen hatte. Endlich sei ihm gelungen, ihrer Meister zu werden; nach einigem Verlust sei die Mannschaft entflohn und ihre beiden Anführer gefangen genommen worden. Er beklagte die jungen Leute. Sie waren auf ihr Wort frei gewesen und hatten in einem kleinen Städtchen jenseits des Flusses ihr Standquartier gehabt. Von der Not des Vaterlandes bedrängt, hatte der ältere wie in Verzweiflung eine Anzahl junger Bursche und Soldaten zusammengerafft, den zweiten Offizier überredet, und so waren sie, von einem unseligen Geiste getrieben, freiwillig in ihr Unglück gerannt.

»Das verstärkt leider Ihre Selbstanklage«, sagte Liancourt, sich teilnehmend zu Kronenberg wendend. – Die Thüren öffneten sich wieder, und die beiden Gefangenen wurden hereingeführt. Der ältere, braun und wild, hatte den Ausdruck resignierter Verzweiflung; der jüngere war blond, und sein Gesicht war nur eine stille Klage über sein Unglück und seinen frühen Tod, in so frischer unerfahrner Jugend. Diesen jüngeren kannten die Mädchen, und die Wehklage ward laut und allgemein, so daß Kronenberg auf einige Zeit vergessen schien. In früheren Jahren war der junge Mensch ein Spielgefährte im Hause gewesen, wenn er zuweilen mit seiner alten Mutter zum Besuch herübergekommen war. Es war rührend, ihn von seinem Unglück erzählen zu hören. »Nach jener unglücklichen SchlachtBei Jena und Auerstädt, den 14. Oktober 1806.«, sagte er, »ward ich, wie so viele, gefangen, ich ward auf mein Wort freigelassen, und jenes Städtchen, nicht weit von hier, ward mir zum Aufenthalt angewiesen. Der schmale Sold, den man uns versprochen hatte, blieb freilich aus; indessen, da der Feind so manches wichtigere Versprechen bricht, hätten wir darüber nicht zu klagen gebraucht, denn die Bürger des Orts und die wohlhabenden Einwohner unterstützten uns. Mein Freund aber war nicht so ruhig wie ich. Er nannte mein Wesen Feigheit und Engherzigkeit. Bei jeder neuen Nachricht ward er wild. Er ist immer ein tüchtiger Offizier gewesen, und ich hatte schon seit Jahren die größte Hochachtung vor ihm. Er brachte mir endlich auch seine Gesinnung bei, daß es ehrlos sei, beim völligen Untergange des Vaterlandes so still zu sitzen und sich von Almosen füttern zu lassen. So zog ich mit ihm aus. Wir waren beide und auch die übrigen wie berauscht; denn es war uns nicht anders, als könnten wir mit unsern geringen Kräften unsern geliebten König retten. Wir wurden geschlagen, mein Freund gefangen. Mir gelang es zu entkommen: mein voriger Wirt im Städtchen verbarg mich unter seinem Dache unter Säcken und Geräten. Die Franzosen rückten nach und vermuteten, daß ich dort sei; man drohte, wer mich verborgen hielte, solle erschossen und sein Haus der Erde gleich gemacht werden. Da kam der alte weißhaarige Bäcker weinend zu mir gelaufen. Er hatte allen Mut verloren. Was war zu thun? So ging ich denn als freiwilliger Gefangener in die untere Stube hinab, wo ich meinen Freund schon traf. Ich weiß nicht, was geschehen kann. Man sagt, sie werden uns erschießen.«

Er endigte seinen Bericht nicht ohne Thränen, vorzüglich da er die jungen Mädchen so heftig weinen sah. Der Musikus, über den Saal schleichend, sagte jetzt zu Liancourt laut genug: »Das ist die Soldatenehre dieser Deutschen! Ihr heiliges Wort zu brechen, um Meuter zu werden.«

»Schweigen Sie, mein Herr!« sagte Liancourt heftig, »wenn ich nicht vergessen soll, was ich diesem Hause schuldig bin. Achten Sie das Unglück dieser Armen, wenn Sie kein Mitleid fühlen. Die Form haben sie verletzt und sich gegen uns schwer vergangen; aber, bei Gott, wenn die Mehrzahl des Heeres und der Anführer dieses Gefühls gewesen wären, so stünde es wohl um Deutschland und Frankreich anders.«

Man setzte sich endlich zu Tische. Der hinzugekommene Offizier wollte seine Gefangenen ermuntern und sagte: »Froh, meine Herren; es wird so schlimm nicht werden.«

»Das Schlimmste«, rief der ältere Gefangene, »kann mich nicht überraschen, und sollte ich freigesprochen werden, so erkläre ich meinen Richtern, daß ich das wieder thue, weshalb ich jetzt vor sie geführt werde.«

Der Offizier erzählte hierauf noch vom gestrigen Gefecht. »Wunderbar«, fügte er hinzu, »daß ein fremder Herr und eine Dame auch darein verwickelt wurden. Sie waren auf der Landstraße, und da wir plötzlich aus einem Hinterhalte hervorbrachen und jene Mannschaft uns entgegeneilte, waren sie abgeschnitten und mußten, da wir sie in die Mitte nahmen, die Kugeln um sich pfeifen hören. Der junge Mann ist auch am Arm verwundet. Er ist auf einem elenden Wagen bis hieher gefahren und hofft hier im Orte eine bessere Gelegenheit zu finden. Er ist mit seiner schönen Frau in der Schenke abgestiegen.«

Da der Graf dies hörte, schickte er sogleich seinen Jäger hin, um ihn einzuladen; ein Mann von Erziehung, mit seiner Gattin, und obenein verwundet, mahnte ihn zu dringend, ihn als Gast aufzunehmen, so übervoll sein Haus auch am heutigen Tage schon war. Nicht lange, so erschien ein junger, wohlgebildeter Mann mit einer schönen Frau am Arm, der sich entschuldigte, daß er den Wirten noch überlästig sei. Kronenberg, der seitwärts in einem Sessel saß, hätte versinken mögen, denn die Dame war niemand anders als jene verlassene Cäcilie, gegen die er sich so viel vorzuwerfen hatte, und in ihrem Begleiter erkannte er jenen jungen Mann, der ihn so plötzlich aus der Familie zu Neuhaus vertrieben hatte. Sie bemerkten ihn beide nicht sogleich. »Da Sie mir«, fuhr der junge Mann fort, »auf meinen langen Brief, den ich schon vor sechs Wochen absendete, nicht geantwortet haben, so schloß ich daraus auf Ihren Zorn und wollte Ihnen auch jetzt nicht beschwerlich fallen; nun laden Sie uns aber doch so freundlich ein, und ich muß Sie für versöhnt halten.«

»Wie?« sagte der Graf; »versöhnt? Einen Brief? Kennen wir uns denn?«

»Lieber Himmel!« rief jener aus, »Sie haben wohl durch die Unruhe der Zeiten meine Entschuldigung, vielleicht Rechtfertigung, gar nicht erhalten? Ich sollte Sie ja schon im Sommer besuchen, lieber Onkel; ich heiße Feldheim, und das ist meine Gattin, Gräfin Burchheim. Alles, alles enthielt mein Brief.«

»Ich träume wohl,« rief der alte Graf; »mein Vetter Feldheim? Sie? Und jener junge Mann dort? Der ist ja mein Neffe!«

Kronenberg erhob sich. »So ist denn der Augenblick gekommen«, sagte er, »wo alles zusammenbricht; und mag es doch! verdiene ich ja die kleinste Achtung nicht mehr. Die Kugel, die mein elendes Herz zerreißt, soll mir willkommen sein.«

Alle waren erstaunt. Cäcilie erzählte ihnen mit einiger Überwindung, wer der Fremde sei, und auch der wahre Feldheim erkannte ihn jetzt wieder. »Also Spitzbuben und Betrüger«, rief der alte Baron aus, »wollen sich in meine Familie schleichen? Darum wußte der Herr also nichts von den krummen Beinen meines ältesten Bruders? Darum das Zeichen in der Wäsche? O, es bleibt dabei, ich bin der einzige Kluge im Hause, und meine überweise Frau Schwester wird künftig mehr auf mich hören.«

Ohne noch ein Wort zu erwidern, ging Kronenberg aus dem Saal. Der Vater folgte ihm auf sein Zimmer und sprach lange mit ihm. Dann ging er zur Tochter, die noch wachte. Allen verging die Nacht in Sorge und Kummer.



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