Ludwig Tieck
Ein Tagebuch
Ludwig Tieck

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16.

Der fremde Maler, der Martin heißt, ist nun gänzlich der Meinung Ferdinands und vielleicht mehr von Pietros Schlechtigkeit überzeugt, als dieser selbst. Martin ist Ferdinands eifriger Anhänger geworden und sie lieben sich nun beide von Herzen. Wenn ich einen wirklichen, wahren Freund erwischen könnte, wollte ich ihm auch sehr gern ein Paar von meinen besten Meinungen aufopfern, er sollte sogar das Aussuchen haben, und mehr kann man hoffentlich doch nicht thun. Dabei halte ich von meinen Meinungen gewiß eben so viel, als ein andrer verständiger Mensch.

Aber ich habe nun vor den Gedanken des Ferdinand selber mehr Respekt, seit er den Fremden überwunden hat; ich glaube nun fast, daß er so einfältig nicht sein kann, als er mir immer vorgekommen ist. Freilich giebt es nicht leicht einen Menschen in der Welt, der nicht seine Anhänger finden kann, wenn er sich nur die Mühe geben will, sie zu suchen. Nichts ist so bequem, als etwas zu glauben, das ein andrer meint, und dieser hat seine Meinung gewöhnlich auch nur vom Hörensagen. So kann man die Rechnung bis ins Unendliche fortsetzen. Es muß aber irgend einmal in uralten Zeiten einen gegeben haben, der wirklich und wahrhaft etwas gemeint hat: und so werden wir ganz von selbst und natürlicherweise auf die Offenbarung geführt. Die Menschen können ohne Offenbarung nicht fertig werden, das sehn wir täglich mit unsern Augen; was ich mir selbst nicht zutraue, traue ich auch keinem andern zu, und wenn ich nun auf diese Art mit meinem Schlüssel immer höher klimme, so komme ich am Ende an die 354 Pforte, aus der die Stimme den Menschen erschallte, die die hohe Weisheit ihnen zum bessern Verständniß in populäre begreifliche Sätze übersetzte: und davon hat man bisher gezehrt und wird zehren, so lange die Welt steht.

Man kann die Offenbarung fast auf alles in der Welt ausdehnen. Nicht bloß die Sprache, Vernunft, u. dergl., sondern auch die Kleidertracht ist offenbart; nicht bloß die Philosophie, sondern auch die Art Taback zu nehmen und zu niesen. Es giebt keinen Menschen, der es wagte, alle diese Dinge nach seinem eigenen Gusto, oder aus freiem Willen zu treiben.

Wenn es hin und wieder einmal Leute giebt, die sich gegen diese Offenbarungen sperren, so sind sie billig für Ketzer zu achten, und die übrigen Menschen thun wohl daran, den Umgang dieser gefährlichen Neuerer zu vermeiden.

Ich verliere mich immer in Gedanken, die ich anfangs gar nicht gesucht habe. ein schlimmer Erfolg des Nachdenkens.

Jetzt verfalle ich auf Emiliens Andenken. Es ist schändlich, daß ich seit langer Zeit so gar wenig an sie gedacht habe. Jetzt peinigt es mich, daß ich von ihr entfernt bin, und doch noch nicht zurückreisen darf: daß ich dem Endzweck meiner Reise noch um nichts näher gekommen bin. Ich weiß nicht, wie mein zukünftiger Lebenslauf aussehn wird, aber der jetzige gefällt mir gar nicht.

Die Langeweile ist das schlimmste Pockengift, das sich in diese arme Welt eingeschlichen hat. Und dagegen lassen sich gar keine Anstalten treffen; man kann sich nicht inokuliren lassen, um nachher davon frei zu sein, 355 denn sonst läse man eine Anzahl vortrefflicher Bücher hindurch, man besuchte eine Zeitlang gescheidte Leute, man hörte Predigten und studierte Journale, oder gäbe sich ordentlicherweise für die Krankheitszeit irgendwo in Pension; unsre Deutschen, denen es gewiß an praktischem Sinn nicht fehlt, und die gern Geld verdienen, würden sehr bald dergleichen Erziehungsanstalten anlegen: Waisenhäuser, Militairakademien, Gymnasien, durch die man hindurch müßte. Wenn man dann eine Zeitlang studirt hätte, müßte man ordentlich, wie es an vielen Orten eingeführt ist, examinirt werden, ob man reif sei, ob man wohl schon im Stande sei, andern Langeweile zu machen. Die sich ganz vorzüglich auszeichneten, müßten dann mit Stipendien versorgt und in bürgerlichen Geschäften vorgezogen werden.

Doch ich vergesse, daß diese Ideale zum Theil längst realisirt sind, und daß ich nur so über die Langeweile schreibe, um mir die Langeweile zu vertreiben.

Jetzt könnt' ich nun schon so lange verheirathet seyn, daß Emilie in meiner Gesellschaft Langeweile empfände; ich könnte auf dem Lande sitzen und an einem schönen Steckenpferde schnitzeln, um mir die Zeit zu vertreiben: etwa an einem fortlaufenden Auszuge aus der Hamburger Zeitung arbeiten, oder aus der Berliner das Avancement bei der Armee in ein Register tragen, und die Namen nachher wieder nach dem Alphabete rangiren; ich könnte mir auch eine Bibliothek von Schulprogrammen sammeln, oder in fünf bis sechs Lotterien setzen und nachher die Tabellen erwarten: kurz, ich könnte auf meinem Grund und Boden wie ein Fürst leben; aber das Schicksal, das boshafte, gönnt mir meine bescheidnen 356 Wünsche nicht, sondern zwingt mich, mich auf einer verflucht langweiligen Reise herum zu treiben.

Welch eine glückliche Idee, daß es mir einfiel, mir ein Tagebuch einzurichten! Ist dieser Umstand nicht noch mein einziger Trost? Würde ich ohne ihn nicht in eine reelle Verzweiflung verfallen? Ich möchte behaupten, es rettet ein Menschenleben. O, äußerst nützliches Tagebuch!

Wenn ich ein Dichter wäre, würde ich ohne Zweifel Verse machen. Gewiß muß man sich aus solchen Situationen den Ursprung der Dichter richtig vorstellen.

Ob Emilie wohl zuweilen an mich denkt? Hol's der Henker, warum kann ich durchaus nicht recht ernsthaft werden? Es ist ein wunderlicher Geist in mir, der alle vernünftigen Gedanken mit Gewalt zurückhält. Wenn ich im Stande der Ehe nicht verwandelt werde, so bin ich auf meine Lebenszeit ein verlornes Geschöpf. Darum sollte ich eben darnach trachten, sobald als möglich zurück zu reisen.

Ich muß mir von neuem Mühe geben, die erforderliche Portion Narren anzutreffen. Sollten sie denn wirklich allenthalben so selten sein? Was ich hier nicht finde, finde ich vielleicht anderswo; was heute nicht gelingt, geräth morgen, wenn nicht morgen, doch wohl übermorgen –

»Und kriecht bis zur letzten Sylbe der uns bestimmten Zeit, und alle unsere Gestern haben Narren zum staubbedeckten Tode hingeleuchtet.«

Ich muß mich schlafen legen, denn ich bin müde. Ein seichter und gewöhnlicher Grund, um einzuschlafen; aber ich habe keinen bessern. 357



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