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Der Paß voll Anterne

Das Tal von Servoz ist das erste, das sich zeigt, sobald man das Tal von Chamonix verläßt. Wenn der Schnee von den benachbarten Gipfeln verschwunden ist, wenn die Wiesen ihr Grün wiedererlangt haben, wenn die Abendsonne die Felsen, welche es einschließen, vergoldet, dann macht das Tal trotz seiner Wildheit einen lieblichen Eindruck. Einige Hütten sind darin zerstreut, darunter eine kleine Herberge, in der ich am 12. Juni abends anlangte.

Man kann aus diesem Tal auf sehr viele Arten und Weisen wieder herauskommen. Einige verlassen es auf der großen Landstraße, das ist das einfachste; aber zu jener Zeit war ich jung, und was mehr sagen will, ein Tourist; ich verachtete daher diese fade Art, Täler zu verlassen. Ein Tourist will Gipfel, will Pässe, will Abenteuer, Gefahren, Wunder: Warum? Das ist so seine Natur. Wie ein Esel sich nichts anderes vorzustellen vermag, als daß man von der Mühle zum Backofen auf dem kürzesten, ebensten, besten Wege einhertrottet, so kann sich ein Tourist gar nicht denken, daß man von Servoz nach Genf einen anderen, als den längsten, schwierigsten, abscheulichsten Weg wandern mag. Die Handlungsreisenden, die Käsehändler, die Finanzmänner, die alten Leute machen es wie der Esel; Schriftsteller, Künstler, Engländer und ich machen es wie der Tourist.

Als ich daher in dem kleinen Wirtshaus in Servoz angekommen war, unterrichtete ich mich sofort über die Beschaffenheit der Pässe und Übergänge. Man nannte mir den Paß von Anterne: das ist eine enge Schlucht, eingezwängt zwischen die Pics von Fiz und die Basis des Mont Buet; der Fußpfad ist schwierig, die Höhe rauh und kahl... Ich erkannte gleich, daß das etwas für mich wäre, und ich entschloß mich, den Übergang am nächsten Morgen mit einem guten Führer zu wagen. Unglücklicherweise gibt es aber keine Führer an diesem Ort, und man konnte mir nur einen Gemsjäger bezeichnen, der mir als Führer würde dienen können; es fand sich aber, daß dieser Mann bereits von einem englischen Touristen engagiert war, der sich auf demselben Wege, den ich einzuschlagen beabsichtigte, nach Sixt begeben wollte.

Diesen Touristen hatte ich bei meiner Ankunft auf der Schwelle der Herberge bemerkt. Es war ein »Gentleman« von gutem Aussehen, mit sauberer, sorgfältiger Kleidung und sehr feinen Umgangsformen; er erwiderte nämlich den Gruß, den ich im Vorbeigehen an ihn richtete, nicht; das gilt bei wohlerzogenen Engländern als Zeichen von gutem Ton und weltmännischer Gewandtheit. Gleichwohl, als ich erfahren, daß der einzige Ortskundige, der mich zum Paß von Anterne führen konnte, bereits von diesem Touristen engagiert war, kehrte ich noch einmal zu ihm zurück, von dem lebhaften Wunsche beseelt, ihn zu der Erlaubnis zu bestimmen, daß ich mich ihm bei dem Paßübergange anschließen, und natürlich auch die Hälfte des Führerlohns für den Gemsjäger bezahlen dürfe.

Der Engländer saß dem Montblanc gegenüber, den er aber keines Blickes würdigte. Er hatte eben gegähnt; als Zeichen der Teilnahme gähnte ich ebenfalls; danach glaubte ich einige Minuten verstreichen lassen zu müssen; während dieser Zeit sollte Mylord Gelegenheit haben, sich mit meiner Person zu befreunden; dann galt ich, wie ich annahm, als vorgestellt, als »bei ihm eingeführt«. Als der Augenblick mir günstig schien, sagte ich mit halblauter Stimme: »Herrlich«, und ohne mich an jemand zu wenden, fügte ich hinzu: »Großartiges Schauspiel.«

Nichts rührte sich, niemand antwortete. Ich trat darauf näher heran.

»Mein Herr,« fagte ich sehr verbindlich, »Sie kommen ohne Zweifel von Chamonix?«

»Ja.«

»Auch ich bin heute morgen von dort aufgebrochen.«

Der Engländer gähnte ein zweites Mal.

»Ich habe nicht den Vorzug gehabt, mein Herr, Sie unterwegs zu treffen; sollten Sie über den Paß von Balme gekommen sein?«

»No.«

»Vielleicht über den Prarion?«

»No.«

»Ich kam gestern über die Tête Noire und nehme mir vor, morgen über den Paß von Anterne zu wandern, wenn es mir noch gelingt, einen Führer zu finden. Sie sind so glücklich gewesen, wie man mir sagt, sich einen verschaffen zu können?«

»Jä.«

Jä, no! Der Teufel hole ihn, dachte ich bei mir selbst. Dummes Tier! Dann entschloß ich mich, die Sache abzukürzen: »Wäre es eine Unbescheidenheit, mein Herr, falls ich keinen Führer mehr finden sollte, Sie zu bitten, mich Ihnen anschließen und die Hälfte des Führerlohns beisteuern zu dürfen?«

»Jä, es sei sich einer Unbescheidenheit.«

»Dann bestehe ich natürlich nicht darauf.« Und ich entfernte mich, recht entzückt über dieses interessante Zwiegespräch.

Einen besonderen Reiz hat auf Reisen die Abendstunde, wenn man in einer wilden und einsamen Gegend aufs Geratewohl gemächlich einherstreift, ohne andere Absicht, als das zu sehen, was sich gerade bietet, mit einem Vorübergehenden zu plaudern, den Hunger reif werden zu lassen, den der bisherige Weg schon angeregt hat, und den die in Vorbereitung befindliche Mahlzeit bald stillen wird. So schlenderte auch ich dahin und lenkte meine Schritte zu einem mit Trümmern bedeckten Felsen: man nennt ihn den Mont Saint Michel. Zwei Ziegen weideten dort; bei meiner Annäherung flohen sie und ließen mich als Herrn des Platzes zurück. In der Nähe junger Erlen, die dort wachsen, ließ ich mich nieder.

Es ist durchaus kein Abenteuer, dessen Einzelheiten ich hier entwickeln will. Verspitze dich nicht etwa darauf, lieber Leser, ich bitte dich darum. Ich saß, das ist alles. Aber es ist viel, ich versichere es dir zu dieser Stunde und an dieser Stätte. Das Tal liegt schon im Schatten. Aber da, wo es sich zu dem nahen Montblanc öffnet, erleuchtet und färbt ein glänzendes Licht die Eismassen dieses majestätischen Gipfels, dessen Zacken sich prächtig von dem tiefen Blau des Himmels abheben. Je mehr die Sonne sinkt, desto mehr zieht sich der Glanz von den Eisflächen und den schimmernden Abgründen zurück, und wenn der letzte Lichtschein hinter der letzten Nadel verschwunden ist, dann scheint es, als ob das Leben aufgehört habe, die Natur zu beseelen. Dann beginnen die Sinne, die bis dahin aufmerksam, verzaubert, wie festgeschmiedet an die äußersten Gipfel waren, sich wieder des Tales zu erinnern; die Wange fühlt den erfrischenden Hauch des Windes, das Ohr vernimmt wieder das Murmeln des Baches, und von der Höhe seiner Betrachtung steigt der Geist herab und denkt an das Abendbrot.

Ein Hirte kam die Ziegen holen. Auf dem Rückwege schloß ich mich ihm an. Der Biedermann wußte einiges über den Paß von Anterne, und ich hätte ihm sicherlich den Vorschlag gemacht, mir am folgenden Tage als Führer zu dienen, wenn ich nicht eine ganz außerordentliche Furchtsamkeit an ihm wahrgenommen hätte. »Leute hier aus der Gegend,« sagte er, »das geht noch, aber Herren wie Sie, nein! Der Schnee liegt zu hoch da oben! Kaum acht Tage, daß da zwei Schweine umgekommen sind, dem Peter seine; und sein Weib dazu, das sie vom Markt in Samoïns zurückbrachte. Zwei selbstaufgezogene Schweine! Hätte sie sie wenigstens verkauft gehabt, so würde sich das Geld gefunden haben! Ich sage Ihnen, es ist ein schlechter Übergang im Juni.«

Gestützt auf mein Reisehandbuch hielt ich ihm entgegen, daß der Paß von Anterne im Gegenteil zu den leichtesten Übergängen zählt, da er sich nur 7086 Fuß über dem Meeresspiegel erhebt, während die Grenze des ewigen Schnees erst bei 7812 Fuß beginnt. Da aber die Kraft meiner Beweisführung den Hirten nicht überzeugt zu haben schien, so zog ich meinen Bleistift hervor, machte auf dem Umschlag meines Reisehandbuchs mit siegreichem Erfolge ein Subtraktionsexempel und bewies ihm, daß wir von der Paßhöhe ab noch 726 Fuß nackten Fels, ohne Schnee und Eis zu erwarten hätten.

»Dem soll man nicht trauen,« sagte er in seinem Platt. »Ihre Zahlen, die kenne ich nicht; aber warten Sie, vor zwei Jahren, im gleichen Monat hat ein Engländer da oben dranglauben müssen. Es war der Sohn. Ich sah den Vater ganz in Tränen und Trauer. In der Wirtschaft bei Renaud mühten sie sich um ihn; trockene Nüsse setzten sie ihm vor, Fleisch und alten Wein. Er nahm nichts. Er wollte seinen Sohn. Sechsunddreißig Stunden später hatte man ihn, aber es war nur der Leichnam.«

Es schien mir klar, daß der Mann mehrere Namen miteinander verwechselte; mein Reisehandbuch war zu bestimmt, mein Subtraktionsexempel schlagend. Außerdem wollte ich ja etwas Gefahr; und da ich voraussetzen durfte, daß der Hirt in seiner Furchtsamkeit Dinge übertrieb, die auf ihrem Grunde natürlich etwas Wahrheit bargen, so fand ich, daß der Paß von Anterne derjenige Paß wäre, der für mich unter allen Pässen ganz besonders paßte. Ich beharrte daher bei meinem Vorsatz, den Übergang ohne Führer zu machen, da ich keinen fand, aber mit Hilfe meines ausgezeichneten Reisehandbuchs und mit der Vorsichtsmaßregel, bald nach dem Engländer aufzubrechen, um von ferne seinen Spuren zu folgen.

Bei der Rückkehr ins Gasthaus fand ich das Abendbrot angerichtet. Ein kleiner Tisch war für mich aufgestellt; in einiger Entfernung davon hatte Mylord den seinigen, wo er in Gesellschaft eines jungen Mädchens, seiner Tochter, die ich bisher noch nicht bemerkt hatte, aß. Sie war schön, von strahlender Frische, und in ihren Bewegungen war ein Gemisch von Anmut und Steifheit, das man häufig bei jungen Engländerinnen antrifft, die den vornehmen Kreisen angehören. Da ich englisch verstehe, hätte ich ihre Unterhaltung genießen können, auch ohne daran teilzunehmen; aber diese beschränkte sich auf den Austausch einiger einsilbiger Wörter, mit denen sie ihre stolze Verachtung über die Bedienung, die Beschaffenheit der Gerichte und die zweifelhafte Sauberkeit des Geschirrs zum Ausdruck bringen wollten. Diese Gerichte selbst waren eigenartig ausgewählt und noch eigenartiger verteilt. Das gnädige Fräulein hatte sich ein großes Beefsteak geben lassen, und ihre hübschen Lippen verschmähten es nicht, einigen vollen Gläsern Wein Durchgang zu gestatten, der aus dem Reisevorrat zu stammen schien. Währenddessen war Mylord damit beschäftigt, seinen Tee zu machen, der seine ganze Mahlzeit bilden sollte. Er verrichtete dieses Geschäft mit der peinlichen Sorgfalt, der ernsten Wichtigkeit, die nur einem vornehmen Engländer eigen ist; und obgleich das ganze Haus aufgepflanzt dastand, bereit alles zu tun, bereit sich ins Feuer zu stürzen, wenn nur der Tee tadellos würde, behandelte Mylord das ganze Haus mit der zornigen Nichtachtung, die gleichfalls so häufig den Engländer von Stande kennzeichnet, wenn er sich auf Reisen im Wirtshause und auf dem Festlande befindet.

Gegen das Ende der Mahlzeit trat der Führer ein. »Holla, he, hört mal, lieber Herr, wir müssen morgen sehr früh aufbrechen. Hab' eben das Wetter beobachtet; gegen Mittag könnten wir leicht ein Gewitter haben, 's ist nicht gut da oben wegen der Schneefälle, das Fräulein würde sich da an ihrem Sonnenschirm nicht herausziehen können.«

Diese ritterliche Art, sich auszudrücken, verletzte Mylord sichtlich. Bevor er antwortete, begann er mit seiner Tochter ein Zwiegespräch auf englisch. Zur Klarheit meiner Erzählung gebe ich diese Zwiegespräche in der Mundart wieder, deren Engländer sich untereinander zu bedienen pflegen, wenn sie sich französisch unterhalten.

Mylord zu seiner Tochter: »Diese Führer hab' sich eine sehr unerbietige Benehmen.«

Die Tochter: »Er scheint mich eine Dummkopf zu sein. Sag' Sie ihm, daß ich nur gehen will, wenn die Himmel sich keiner einzigen Wolke hat.«

Mylord zum Führer: »Ich will Sie nur gehen, wenn die Himmel keiner einzigen Wolke hat.«

Der Führer: »Hallo, das gibt's nicht. Am frühen Morgen werden sicher Wolken da sein, das sag' ich Ihnen im voraus; trotzdem müssen wir sehr früh aufbrechen. Lassen Sie mich nur machen; wir Landbewohner kennen hier das Wetter und die Gelegenheiten.«

Mylord zu seiner Tochter: »Das sei eine Schurke.« Zum Führer: »Ich sag' Sie, ich will nur gehen, wenn die Himmel keiner einzigen Wolke hat.«

Der Führer: »Wie Sie wollen, es ist Ihre Sache. Ich wette, daß der Himmel um neun Uhr frei sein wird. Und nun will ich Ihnen was sagen: Sie sollen um neun Uhr abmarschieren, aber um zwölf Uhr kann sich das Gewitter entladen und um zwölf Uhr werden wir mitten im Schnee sein; während wenn wir ganz früh aufbrechen, wir zur Mittagszeit in Sixt sind und dann kann das Unwetter meinetwegen losplatzen!«

Mylord zu seiner Tochter: »Das sei eine Schurke. Versteh' Sie die Sach', Klara? Er kennen es, daß morgen sein wird schlechte Wetter und wollen uns doch bestimmen, früh zu gehen, weil, wenn später es wird regnen, er verliere sein Geld.«

Die Tochter: »Ich glauben auch.«

Mylord: »Diese Mensch sei ganz eine bemerkenswerte Räuber.«

Die Tochter: »Ganz! – Befehl' Sie ihm Ihre Willen. Sag' Sie ihm, daß er sei erkannt.«

Mylord zum Führer: »Mein Freund, ich durchschauen vollständig und ganz Ihre Stratadjem. Ich sag' Sie, daß ich nur gehn wollen, wenn die Himmel nicht mehr Wolke haben als auf diese Plate... (zu Klara): How do You say plate, Clara?«

Die Tochter: »Teller.«

Mylord: »... Wie auf diese Teller ... Versteh Sie?«

Der Führer: »Ich verstehe, verstehe, aber 's ist eine Torheit. Warten Sie, lassen Sie mich Pater holen. Mit seinen zwei Schweinen, die ihm das gekostet hat...«

Mylord: »Ich verbieten Sie, Schweine zu holen.«

Der Führer: »Es ist ja nur, um dem Herrn begreiflich zu machen...«

Mylord: »Ich verbieten Sie!«

Der Führer: »Wie Sie wollen.«

Mylord: »Ich verbieten, zum Teufel!«

Der Führer ging hinaus und so konnte ich gegen meine Gewohnheit nicht schon am Abende vorher die Stunde des Abmarschs festsetzen. Ich meinerseits war geneigt, den Erklärungen des Führers Glauben beizumessen, da ich aber weder Sitz noch Stimme im Kapitel hatte, so mußte ich mich damit begnügen, mein Schicksal mit dem Mylords zu verknüpfen, und mit diesem Entschlusse legte ich mich schlafen.

Führer haben ihre eigenen Gedanken. Trotz der empfangenen Befehle machte der unsrige bei Tagesanbruch einen Heidenlärm, um Mylord aufzuwecken und zum Abmarsch zu drängen. Mylord fühlte sich schon durch die geräuschvolle Art, mit der der Jäger seine Leute weckte, in seiner innersten Empfindlichkeit verletzt; er stieg aus dem Bett, steckte die Nase zum Fenster heraus, sah, daß der Himmel mit Wolken bedeckt war und konnte nun seine Entrüstung nicht mehr zurückhalten: »Sie sei eine Schurke, Herr, eine Schurke!« rief er dem Führer durch die Tür zu. »Ich kenne Sie, Ihr Stratadjem, ich kenne Sie...! Ich erklär' Sie noch einmal, daß ich nicht gehen will, wenn auch nur einer einzigen Wolke es gibt in das ganze Firmament ...! Geh' Sie raus! Ganz sofort, ganz ...«

Der Führer zog sich brummend zurück, ohne den Grund dieses schroffen Empfanges völlig zu begreifen. Seine Wetterprophezeiungen trafen übrigens genau ein. Von acht Uhr ab drang die Sonne durch den Wolkenhimmel, der bis dahin über dem Tal gelagert hatte; bald danach zerstreute sie die dünner gewordenen Nebel, und man sah den Himmel in völliger Reinheit erglänzen. Nun erst entschlossen sich Mylord und seine Tochter zum Abmarsch; sie bestiegen ihre Maultiere, die, gesattelt und gezäumt, seit mehr als zwei Stunden mit dem Führer vor dem Wirtshaus warteten. Ein drittes Maultier sollte auf einem kürzeren und leichteren Wege ihr Gepäck nach Sixt bringen. Ungefähr zwanzig Minuten nach ihrem Abreiten schulterte ich meinen kleinen Rucksack und folgte zu Fuß ihren Spuren.

Das Gebirge, welches wir überschritten, ist interessant und malerisch. Bis zu halber Höhe kommt man über prächtig bewachsene Hügel: zuerst Nußbäume, dann Buchen untermischt mit Fichten, bald danach die ersten Birken, deren zitterndes Laub die schlanken, silberfarbigen Stämme umkränzt; endlich die Felsen der Fizhörner. Sie ragen in den blauen Himmel empor, immer höher, immer drohender, je mehr man sich ihnen nähert; sie bilden eine ausgedehnte Kette nach Sallenche zu, wo sie in der majestätischen Nadel von Warens endigen. Die Felsen sind angefressen und unterhöhlt von der Macht des Wassers; infolge mehrerer Erdrutsche, deren letzter im vorigen Jahrhundert stattfand, haben sich die Hügel gebildet, die heute mit Bäumen bestanden sind und zwischen denen lachende Weiden schimmern; aber unter ihnen schlummern Menschen, Weiler, ja ganze Landstriche. Dann und wann sind einzelne kühne Jäger auf die Fizhörner geklettert. Sie sagen, daß auf dem rauhen Gipfel ein dunkler, tiefer See liegt, von dem man in der Umgegend die wunderbarsten Dinge erzählt.

Das letzte Dorf, durch das man kommt, wenn man von Servoz aus aufsteigt, ist das Dorf Mont. Ich war erstaunt über den Verfall, der in dem kleinen Weiler herrschte, wo ich weder Bewohner noch Haustiere bemerkte; an einem Brunnen hielt ich Rast, aber niemand erschien, den ich nach dem Grunde dieser tiefen Einsamkeit hätte fragen können. Wenn ich es gekonnt hätte, so würde eine traurige Enttäuschung die Folge meiner gestillten Neugierde gewesen sein; als ich nämlich am nächsten Morgen in Bonneville ankam, zeigte mir unser Kutscher mit dem Finger das Gefängnis, das alle unglücklichen Bewohner des Dorfes in sich barg.

Es ist eine traurige Geschichte. In diesem Weiler wie in den andern des Tales hatten die Bewohner ihre guten und tugendhaften Seiten; wie in den andern erzeugten Arbeitsamkeit und Einfachheit der Sitten einen mäßigen Wohlstand. Die Generationen folgten einander, unscheinbar aber einig und friedlich. Mit dem Abschluß der Kriege des Kaiserreichs kehrten jedoch einige von draußen an den heimatlichen Herd zurück und brachten die Gewöhnung an Müßiggang und Trunk mit nach Hause. Dort verkündeten sie die Lehre, wie man anderwärts die Kirchen nicht mehr besuchte und sich über den Pfarrer lustig machte; sie sagten, daß die Savoyarden in Paris geschützt werden, daß sie dort in wenigen Jahren für keineswegs zu schwere Dienstleistungen ein schönes Stück Geld verdienen. So ließen sich mehrere verführen, wanderten aus und kehrten nach einigen Jahren zurück. Geld brachten sie in Hülle und Fülle mit, aber auch bis dahin unbekannte Laster, eine schmähliche Liederlichkeit, sowie die Kenntnis von und das Bedürfnis nach Ausschweifungen. Schon vorher hatte die Verachtung der althergebrachten Sitten, die Geringschätzung der ländlichen Gebräuche, des kirchlichen Herkommens den Boden vorbereitet; nun keimte die Fäulnis, schlug Wurzeln, breitete sich aus und drang bis in das Innerste der Hütten ein; die Unmäßigkeit, die Krankheit, das Elend nagten wie ebenso viele Geschwüre an den bis dahin gesunden, im Wohlstande lebenden Familien; nach Verlauf von wenigen Jahren war die kleine Gemeinschaft, welche die Gewöhnung an Ordnung und Arbeit verloren hatte, ruiniert; sie hielt nur noch durch das Band des Lasters und der gemeinsamen Bedürfnisse zusammen und schmiedete nunmehr gegen das Eigentum der benachbarten Gemeinden ein abscheuliches Komplott. Sie eigneten sich fremde Tiere an, machten andern willkürlich ihre Rechtsansprüche streitig, maßten sich Grundstücke an; vor die Gerichte gezogen, gewannen sie ihre Prozesse auf Grund von falschen Zeugnissen, zu denen sie sich gegenseitig durch einen verabscheuenswürdigen Schwur verpflichtet hatten. Endlich ereilte sie die Vergeltung für ihre Verbrechen: die Väter und Mütter wurden ins Gefängnis geworfen. Die Kinder, die Waisen, beschmutzt, zerstreut, aßen vor den Hütten, auf dem Pflaster der Straßen das Brot des Almosens.

Glücklicherweise wußte ich von alledem nichts. Ich saß an der Quelle und bewunderte ihr klares Wasser, den glänzenden Gischt. Ich stellte mir vor, daß die guten Leute, die auf der Schwelle ihrer Häuser und um die Ställe herum nicht zu sehen waren, in den Wäldern arbeiteten oder ihre zahlreichen Tiere weiden ließen. Wie sollte ich an dieser entlegenen Stätte, unter diesen lieblichen Schatten Menschen suchen, die von den Wunden zerfleischt werden, die die Bevölkerung der großen Städte verzehren? Wie sollte ich am Busen der Hochalpen auf den Zauber der Unschuld verzichten, den man hier, wie in einem unverletzlichen Zufluchtsort suchen geht? Und doch, so oft sie auch enttäuscht wird, die Hoffnung ersteht aufs neue, ohn' Unterlaß, denn uns Städter bewegt die große Natur im Innersten unserer Seele, zu uns spricht das Schweigen der Berge. Unser Herz erhebt sich, es wird reiner, es scheint zum Urzustande der Unschuld zurückzukehren; schon begreift es nicht mehr das Böse, die Laster, die verwerflichen Leidenschaften, und bekleidet alles mit dem Zauber, von dem es selbst berauscht wird.

Ich empfand ihn, diesen Zauber, in seiner ganzen Reinheit und immermehr, je höher ich stieg. Gegen elf Uhr schwebten einige Wolken über den tiefen Schluchten; der Montblanc gewährte einen glanzlosen Anblick: die Felsgrate zeichneten sich tiefschwarz auf einem Hintergrunde von mattem Weiß; von Süden her blies der Wind mit kalten, jähen Stößen. Ich dachte an die Prophezeiungen des Führers, aber nur, um über den guten Mylord zu lachen, der sich selbst eine Falle gestellt hatte aus Furcht, der Führer könne ihn täuschen. Von Zeit zu Zeit, wenn das Unterholz weniger dicht und der Abhang steiler war, sah ich die beiden Maultiere oberhalb meines Kopfes. Mylord und seine Tochter ritten gerade ohne ein Wort zu sprechen, als der Führer, der das Maultier der jungen Miß führte, stehenblieb, um ihr etwas zu zeigen, worauf sich ein Streit zwischen ihnen entspann.

Man muß nämlich wissen, daß die Führer an dieser Stelle den Reisenden einen eisenfarbigen Fleck zu zeigen pflegen, der in bedeutender Höhe gegen die Wand der Fizhörner sichtbar ist. Sie nennen diesen Flecken »den Mann der Fizhörner«, weil sie behaupten, daß er die Gestalt und das Aussehen einer gelben Hose hat, während darum herum, nach ihnen, andere Anzeichen die Gestalt eines Riesen vervollständigen. Diese eigenartige Erscheinung war es, die der Führer der jungen Miß mit dem Finger bezeichnete. Aber um ihr den Mann zu zeigen, bezeichnete er die Hose. Nun weiß man, wie unpassend dieses Wort für englische Ohren klingt; auch malte sich auf dem Antlitz der jungen Dame ein Ausdruck größter Prüderie, während Mylord auf dem seinen alle Zeichen einer höchst komischen Entrüstung erscheinen ließ.

»Hier oben, linker Hand,« wiederholte der Führer, »eine rote Hose.«

»Ich verbieten Sie, Führer, diese Wort zu sagen.« »Der Herr sieht sie bloß nicht. Warten Sie, gerade über der Spitze meines Stockes ... Eine gelbe Hose!«

Das schamhafte Unbehagen der jungen Miß vergrößerte sich, und Mylord, entrüstet über diesen Rückfall, schrie ihn an: »Sie sei eine unsaubere Herr! Ich hab' Sie gesagt, nicht auszusprechen diese schmutzige Wort. Ich zahl' Sie, dafür hab' Sie gehorsam zu sein. (Zu seiner Tochter.) Sporn' Sie das Maultier an, Klara.«

Die Karawane setzte sich wieder in Bewegung. Der Führer, der ein einfacher Gemsjäger war und nur gelegentlich einmal Führerdienste versah, war nicht so, wie es die Führer von Chamonix sind, mit den Sitten und Gebräuchen der Welt bekannt; er verstand daher immer weniger, mit wem er es zu tun hatte. Da er sich aber im Grunde nur um seinen Lohn sorgte, so bestand er nicht weiter auf seinem Vorhaben; vielmehr zog er aus seiner Tasche eine mächtig große, bis oben mit Tabak vollgestopfte Pfeife, steckte sie in seinen Mund und begann Feuer zu schlagen.

Klara zum Mylord: »O, der abscheuliche Perfium, wenn diese Mann will rauchen seiner Pfeife!«

Mylord zu Klara: »Ich hab' Sie noch nicht gekannt eine so unleidliche Mensch. (Zum Führer.) Ich verbieten Sie, Führer, zu rauchen, warum mein Tochter fürchtet die Perfium...«

»Das ist kein Perfium, das ist guter Tabak, noch dazu wirklich guter.«

»Das ist eine schlechte Perfium, ich verbieten Sie.«

»Na, warten Sie mal, das Tier ist sicher, ich werde hinterher gehen.«

Klara: »O, o, lass' Sie nicht das Maultier los.«

Mylord: »Lass' Sie nicht los! Hallo! What fellow we have there. Ich verbieten Sie zu rauchen. Wenn Sie rauch', ich verweigere gar und ganz, Sie zu zahlen.«

»Na, das sind mir die Rechten, lieber führ' ich noch Tiere zum Markt sagte der Führer und steckte seine Pfeife wieder in die Tasche. »Nun aber vorwärts,« fügte er hinzu. »Der Himmel bezieht sich, wir müssen eilen, durch den Schnee durchzukommen.«

In der Tat hatte sich der Himmel von neuem ganz in Wolken eingehüllt; alle Gipfel waren verborgen, und der Wind, der immer heftiger wurde, ließ den Staub der Schluchten im Wirbel umhertanzen. Seit mehr als drei Stunden stiegen wir unausgesetzt, trotzdem erschien die Paßhöhe noch entfernt. Seit wir die untersten Felsen der Fizhörner erreicht und gleichzeitig die letzten Spuren des Pflanzenwuchses hinter uns gelassen, verbargen uns die Felsen, die wir jetzt zu umgehen begannen, die Aussicht auf das Tal von Servoz. Der Anblick war nun ein anderer. Zur Linken senkrecht aufstrebende Felsen; zur Rechten der Grundstock des Mont Buet, nur Eis und nackter Fels; um uns eine wüste, finstere Gegend, die nur durch die weißen Schneeflecken eine Abwechslung erfuhr, welche immer häufiger auftraten und bald zusammenhängend wurden.

Mylord zu Klara: »Ich hab' Sie die Verdacht, daß diese Schurke nicht die true Weg kennen tut.«

»Ich hab' Sie auch,« antwortete Klara mit beunruhigtem Ausdruck.

Mylord: »Sie führ' uns in eine schlechte Weg, Führer.«

»Hier? da dürfen Sie sich noch nicht beklagen. Warten Sie nur, bis wir erst oben sind. Vorwärts, vorwärts!«

Klara zu Mylord: »O, ich fürchten sehr, mein Vater!«

»Vorwärts, vorwärts! Gestern haben Sie nicht auf mich hören wollen; nun müssen wir sehen, wie wir wieder herauskommen.«

»Ich wollen umkehren, durchaus umkehren,« rief die junge Miß im höchsten Schrecken.

»Unmöglich, Fräulein. Aber das ist sicher, es wäre besser, wenn wir uns um diese Zeit schon auf der andern Seite befänden.«

»Halt' Sie die Maultier an, Führer, halt' Sie!« sagte Mylord. Der Führer, der ganz mit seiner Aufgabe beschäftigt war, beachtete den Zwischenruf nicht. »Halt' Sie an,« wiederholte die Miß. »Halt' Sie an,« wiederholte Mylord, »ganz sofort, ganz.«

Der Führer hielt weder an, noch antwortete er; er beobachtete nur aufmerksam den Himmel hinter uns. »'s sieht schlecht aus,« sagte er. Dann hemmte er plötzlich den Gang der Maultiere.

»Gnädiger Herr, Fräulein, Sie müssen absteigen,«

»Absteigen?« riefen nun auf einmal beide gleichzeitig.

»Und zwar schnell. Umkehren ist unmöglich. Da steigt schon das Unwetter im Rücken von uns auf: der Wind führt es in raschem Tempo auf uns zu. Wir haben nur die eine Aussicht, daß es uns nicht mehr erreicht. Die Paßhöhe ist noch fern, wenn wir da herüber wollten, würden wir vorher umkommen. Wir müssen hier zur Linken über die Erhöhung klettern, sie kürzt unsern Weg ab; auf der andern Seite sind wir außer dem Bereich des Windes. Also herunter. Die Maultiere werden allein ihren Weg finden. Herunter doch.«

Die Kaltblütigkeit des Mannes flößte dem Engländer Achtung ein; gleichzeitig versetzten ihn aber die Worte in lebhafte Unruhe. Er stieg wortlos ab, während ich mich ihm näherte. Die junge Miß zitterte am ganzen Körper. Ohne erst um Erlaubnis zu bitten, half ich ihr aus dem Sattel und richtete einige ermutigende Worte an sie. Als der Vater sah, wie ihre zarten Füße tief in den Schnee einsanken, malte sich eine Bewegung des Schreckens in seinem Antlitz.

»Führer,« sagte ich nun zu dem Manne, der in aller Eile die Steigbügel an dem Sattel der Maultiere befestigte, »Ihre Aufgabe ist es, uns aus dieser Klemme zu befreien. Man hat mir so viel von Ihrem Mut, Ihrer Kraft erzählt; Sie sind Félizas, der geschickteste Jäger des Tales; wir vertrauen uns Ihnen vollständig an.« Darauf wandte ich mich an Mylord: »Fürchten Sie nichts mein Herr! Auch ich kenne die Berge. Wir beide, dieser wackre Mann und ich, werden das gnädige Fräulein stützen, wenn sie dem Übermaß der Anstrengung erliegen sollte.«

»Sehr verpflichtet,« antwortete er, völlig zerstreut in seiner tiefen Erregung.

Weniger verwirrt als der Engländer, befand ich mich doch in nicht geringerer Unruhe. Die Erzählungen des Hirten, denen ich tags vorher kaum zugehört hatte, standen mir im Geiste wieder vor Augen und ließen mir unsere Lage als sehr gefährlich erscheinen. Der Mann hatte mir mit allen Einzelheiten die Umstände berichtet, von denen der Tod des jungen Engländers und der Frau von Peter begleitet war. Alles das sah ich jetzt im Geiste sich mit erschreckender Wahrheit wiederholen. Die Unglückliche war eben mit ihrer Begleitung auf der Paßhöhe angelangt, hatte nicht mehr die Kraft gehabt zu fliehen, war von dem Windsturm erfaßt und begraben worden und umgekommen. Der Windsturm oder Windhose ist ein Unwetter, das in den Vertiefungen der engen Schluchten braust, dort mit Macht umherwirbelnd riesige Schneemengen mit sich führt, die alle Gegenstände, an denen es seine Wut austobt, wie mit einem Totentuch zudecken. Solch ein Wirbelwind war es, der sich hinter uns im Grunde des Tales erhob und uns in wenigen Augenblicken erreichen zu müssen schien. Seit der Führer ihn bemerkt hatte, und lange bevor wir eine Gefahr ahnen konnten, hatte er ihn nicht mehr aus den Augen gelassen; er maß mit Scharfsinn die Entfernung, fühlte die Richtung, und urteilte mit ebenso sicherem wie rechtzeitigem Blick, daß wir, wenn wir nicht zugrunde gehen wollten, aufs schnellste den Abhang erklettern mußten, den er uns soeben gezeigt hatte.

Damit begannen wir nun. Die Maultiere fühlten sich kaum frei, als sie auch schon, den Kopf hoch, die Nüstern im Winde, behende davoneilten. Geleitet durch ihren Instinkt verließen sie den Fußweg, auf dem wir gekommen waren, hielten sich nach links herüber, um sich von der Windhose zu entfernen und drangen in eine dunkle Schlucht ein, wo wir sie bald aus den Augen verloren. »Vorwärts, damit wir hinkommen,« rief ohne Unterlaß der Führer. Aber der Abhang war so steil, daß, wenn sich nicht der Schnee unter unsern Füßen zusammengeballt hätte, es auch dem geschicktesten Jäger unmöglich gewesen wäre, sich aufrecht zu erhalten. Trotz dieses günstigen Umstandes kamen wir kaum vorwärts und wurden durch die dringenden Zurufe des Führers mehr in Verwirrung gesetzt als unterstützt. Die junge Miß bezwang ihre Angst, um den Schrecken, der ihren Vater festzunageln schien, nicht noch zu erhöhen, und machte unglaubliche Anstrengungen, um höher zu kommen; aber ihre Kräfte verzehrten sich dabei; zuerst hatte sie in natürlicher Zurückhaltung eine gewisse Verlegenheit empfunden, wenn sie zur Unterstützung meine Hand annahm; jetzt hing sie sich fest an meinen Arm und überließ mir immer häufiger die Sorge, sie zu unterstützen, sie fast zu tragen. Ich fühlte mich selbst erschöpft und glaubte mich jeden Augenblick am Ende meiner Kräfte angelangt; aber die äußerste Gefahr, in der sich das junge Mädchen befand, belebte immer wieder meinen Mut, und ich wagte noch eine Anstrengung. Endlich erreichte sie den höchsten Punkt des Abhangs. Wir ließen sie dort, denn ihr Vater heischte jetzt dringend unseren Beistand.

Ein eigentümlicher Umstand hatte die Not dieses armen Herrn noch erhöht. Um die Steilheit des Abhangs zu vermindern, hatte er versucht, Zickzacklinien zu beschreiben; dabei hatten ihn seine Füße auf einen unter der Schneedecke verborgenen Felsblock geführt, der, wie das manchmal vorkommt, in der Schwebe lag. Durch sein Körpergewicht hatte er diese riesige Masse in eine schaukelnde Bewegung versetzt; der Schrecken, den Mylord darüber empfand, war so plötzlich und lebhaft, daß er sich unfähig fühlte, ihn zu überwinden, und sich auf seine schlotternden Knie niedersinken ließ. Sein Antlitz war blaß und entstellt: seine Tochter, die ihn von oben in diesem Zustande bemerkte, stieß verzweiflungsvolle Rufe aus, und auch wir wußten nicht, wozu wir uns entschließen sollten. »Laßt mich,« rief er uns zu, »und rettet mein Kind.«

Doch der Führer rief ihm zu: »Mut, mein guter Herr, das schadet nichts,« und zu mir gewendet: »wir wollen ihn herauftragen.«

Wir vereinigten unsere Anstrengungen und nach unendlicher Mühe erreichten wir den Gipfel. Auf diesem Gipfel war ein Raum von wenigen Fuß im Umkreise, der fortwährend vom Winde gefegt wurde und deshalb schneefrei war. Dort fanden wir uns alle vier vereinigt wieder. Der Wirbelsturm näherte sich immer mehr.

»Hier oben dürfen wir nicht alt werden,« sagte der Führer. »Ich nehme den Herrn, der ist schwerer. Sie das Fräulein. Wir haben jetzt nur noch bergab zu steigen, aber durch zwanzig Fuß Schnee. Setzen Sie alle nur stets Ihre Füße dahin, wo ich die meinigen gesetzt habe: vergessen Sie das nicht; es ist nötig, um die Löcher zu vermeiden, die um die Felsen herum sind. Mut, mein guter Herr, Mut Fräulein, es hat alles nichts zu bedeuten. Halt, hier ist etwas, was Sie stärken wird.«

Bei diesen Worten zog der Führer eine alte Kürbisflasche im Lederfutteral aus der Tasche, die noch einige Tropfen schlechten Landbranntweins enthielt. »Not kennt kein Gebot,« sagte er und kredenzte die Flasche der jungen Miß. Diese kostete von dem Getränk und reichte ihm die Flasche mit dankbarem Lächeln zurück. Darauf ließ der Führer Mylord trinken und gab die Flasche dann mir; sie war schon recht leicht; »Sie zuerst, Führer,« sagte ich deshalb.

»Trinken Sie nur,« erwiderte er und schickte sich an, aufzubrechen. »Werden so schon kaum noch etwas finden.« Dann blickte er über sich. »Vorwärts,« rief er plötzlich und wie wenn er selbst überrascht wäre über den Anblick, den der Himmel bot. In der Tat kam die Windhose, ähnlich einer riesigen Säule, in schräger Richtung auf uns zu; schon überdachte ihr oberer Teil die Stelle, auf der wir uns befanden und verbarg uns die Gipfel der Fizhörner zu unserer Linken. Der kleine Schluck Branntwein hatte unsere Kräfte ein wenig belebt; wir begannen den Abstieg. Aber schon bei den ersten Schritten stellten sich uns unüberwindliche Hindernisse entgegen. Auf dieser Seite des Berges, die im Schutz vor dem kalten Winde lag, der auf der andern Seite wehte, hatte sich der Schnee erweicht; wir sanken bei jedem Schritt bis zur Hüfte ein. Bald waren die Kleider der jungen Miß völlig durchnäßt; sie klebten an ihren Beinen, ließen sie vor eisiger Kälte erschauern und hinderten sie zudem bei jeder Bewegung. Jeden Augenblick sah sie sich aufgehalten, ohne daß ich im Hinblick auf die Natur des Hindernisses in der Lage gewesen wäre, ihr eine Erleichterung zu gewähren. Auch der Führer bemerkte es und schalt sich selbst: »Dummkopf, der du bist, dort oben mußtest du sprechen... Ja, was hilft's, liebes Fräulein, Sie müssen sich, wie die Frauen hier zu Lande, aus Ihren Röcken eine Hose machen...!«

Die Lage war seit einigen Stunden ganz verwandelt. Zwar nicht ohne Verlegenheit, aber dieses Mal ohne falsche Prüderie, machte sich die junge Engländerin an die Arbeit, raffte das vordere Ende ihres Kleides nach hinten, befestigte es dort mit einer Nadel und stellte so eine Art bauschiger Hose her, die es ihr gestattete, ein Stück Weges mit größerer Leichtigkeit zurückzulegen.

Was Mylord anbetraf, so war er von der Sorge um seine Tochter völlig eingenommen. »Sehr verpflichtet,« sagte er bei jedem Schritt zu mir, »sehr verpflichtet. Mein Gott, mein Gott, Führer, hab' wir Sie noch lang' so zu gehen?«

»Warten Sie,« versetzte der Führer, »wir sind gerettet, aber sehen Sie dorthin, wo wir eigentlich unsern Weg hätten nehmen sollen.« Bei diesen Worten des Führers trennten wir uns unwillkürlich voneinander, wandten unsere Blicke nach der bezeichneten Seite und blieben in stiller Betrachtung versunken. Die Windhose zerbarst mit unendlichem Getöse. Riesige Schneestreifen schlugen auf die Felsen auf, zerstäubten wieder in die Lüfte, der Sturm packte diese verirrten Garben aufs neue und stieß sie gegeneinander; es sah so aus, als ob eine große Wolkenschicht plötzlich von allen entfesselten Winden zerrissen wurde. Beim Anblick dieser Schrecken wandte sich Mylord, der seine Tochter kaum einem furchtbaren Tode entronnen glaubte, in tiefer Bewegung ihr zu, um sie in seine Arme zu schließen ... Aber selbst tief bewegt und von der Kälte erstarrt, verlor das junge Mädchen in diesem Augenblick das Bewußtsein.

Ich zog sofort meinen Rock aus, mit dem ich das junge Fräulein umhüllte; dann nahm ich sie in meine Arme, während ihr Vater aus seinem Ranzen einige Lappen hervorholte, mit denen wir ihre eiskalten Beine und Füße umwickelten. Sie öffnete die Augen und errötete, als sie sich in meinen Armen sah. »Es geht ihr schon besser,« sagte ich zu Mylord, »nehmen Sie wieder den Arm des Führers, mein Herr, ich werde das Fräulein tragen, bis wir an eine bessere Stelle kommen.«

In diesem Augenblick sagte die junge Miß mit schwacher Stimme: »Danke, mein Herr ..., geh' Sie, mein Vater, ich bitt' Sie.«

Dabei legte sie ihren Arm um meinen Hals, um mir die Last ihres Körpers weniger fühlbar zu machen. »Wenn es so steht,« sagte der Führer, »dann wollen wir uns nach rechts wenden, da weiß ich eine Sennhütte.«

In der Tat, nach Verlauf von zwanzig Minuten fand der wackere Mann ein kleines Hänschen, dessen Schornstein allein aus dem tiefen Schnee, unter dem es begraben lag, hervorragte. Diese Hütten sind sehr niedrig; der Führer räumte den Schnee weg, machte ein Loch in das Dach, stieg selbst zuerst herein, empfing dann aus meinen Armen das junge Mädchen und bald waren wir alle in dieser Wohnung geborgen; als Wände hatte sie schwarze, verräucherte Balken, als Fußboden feuchte Erde, deren Beschaffenheit zeigte, welchen Gebrauch davon die Herden gemacht, die hier im verflossenen Sommer geweilt hatten.

Ohne diese elende Behausung, die uns so kostbar wurde, ist schwer zu sagen, was aus unserer jungen Begleiterin geworden wäre. Dem Unwetter, das ausgebrochen war, bevor es uns erreichen konnte, war ein kalter, mit Schnee untermischter Regen gefolgt, dessen dichte Tropfen dem Gesicht wehtaten, unseren Blick behinderten und den Horizont schon auf wenige Schritte abschlossen, so daß selbst der Jäger kein anderes Anzeichen als den Abhang des Berges hatte, um uns zu führen: es war der letzte Teil des Unwetters, der so über unsere Köpfe hinging. Im übrigen wäre es mir, wie leicht die junge Miß auch war, unmöglich gewesen, sie noch weiter zu tragen; der Führer seinerseits hätte mich in meinem Amte nicht ablösen können, ohne die Leitung unserer kleinen Karawane mitten auf einer Straße aufzugeben, deren Schwierigkeiten und Gefahren seine ganze Aufmerksamkeit und Bewegungsfreiheit erforderten. Das alles hatte der wackere Mann schon früher als wir empfunden, als er plötzlich ausrief: »Ich kenne eine Hütte.« Sobald wir eingetreten waren, lockerte er die Tür, hob sie aus ihren Angeln und legte sie bequem und dergestalt hin, daß sie uns die weniger nasse Seite zukehrte; nun breitete ich auf ihr alles aus, was mein Rucksack enthielt, und dann betteten wir die junge Miß darauf. Mylord blieb schweigsam, war aber sichtlich die Beute einer tiefen innerlichen Bewegung. Mit einem Arm hielt er den Kopf seiner Tochter, damit er nicht auf dem Holz selbst zu ruhen brauchte, mit dem andern suchte er seinen erstarrten Körper mit allem, was uns noch an trockenen Kleidungsstücken geblieben war, zu bedecken.

Unterdessen hatte Félizas unter den Holzschindeln des Daches die kleine Zahl derer ausgesucht, die vom Tauwetter des Frühlings noch nicht berührt waren, und sie in einem Haufen auf einige Strohhalme gelegt, die er einzeln zwischen den Balken des Häuschens zusammengesucht hatte. Nun zog er sein Feuerzeug aus der Tasche und sagte zu Mylord: »Fürchten Sie nichts, 's ist nicht für die Pfeife diesmal.«

Bei diesem Wort, das ohne Absicht seitens des armen Jägers einen recht grausamen Vorwurf in sich schloß, durchdrang ein lebhaftes Bedauern das Herz des Engländers und ließ die Röte auf seine Wangen zurückkehren. Sein Mund blieb stumm, aber sein Auge ließ eine Beschämung erkennen, die bei einem bejahrten Mann stets bewegend wirkt; ich konnte in seinem Auge lesen, daß er es sich nicht verzieh, hart gegen den Mann gewesen zu sein, dem er jetzt das Dasein seiner Tochter zu verdanken hatte.

Nun prasselte die Flamme auf dem Herd, und wir näherten uns ihr. Bei der sanften Wärme kam die junge Miß zum Leben zurück, die Farben erschienen wieder auf ihrem schönen Antlitz. Allmählich verloren ihre Glieder die Steifheit und gestatteten ihr wieder leichte Bewegungen; ihre ersten Worte, die voller Dank für unsere Sorge um sie waren, gaben ihr einen Ausdruck bezaubernder Anmut, während ohnehin mitten in dieser geschwärzten Behausung und bei der Flamme des Herdes ihre Schönheit in unerwartetem Glanz erstrahlte. Mylord, der jetzt ganz darüber beruhigt sein durfte, daß seine Tochter ihm zurückgegeben war, machte in diesem Augenblick noch einmal alle inneren Bewegungen, von der lebhaftesten Angst bis zur mächtigsten Freude, durch, und noch ehe er ein Wort hatte sprechen können, rannen ihm die Tränen vom Antlitz herunter. Von Zeit zu Zeit ließ er die Hand seiner Tochter los, um die meinige und dann die des Führers zu drücken, und dieser Mann antwortete ihm dann in seiner Einfachheit: »Ich sagte es Ihnen ja, mein guter Herr, es hat nichts zu bedeuten ...« Nein, sich in der größten Gefahr zu befinden, während zweier Stunden die Berührung des Todes ganz nahe, fast gegenwärtig ansehen zu müssen, heißt doch nicht solche Augenblicke ohnegleichen zu teuer erkaufen, in denen die Hoffnung aus der Angst entsteht, wo das Glück plötzlich in seiner lebendigen Wärme wieder erscheint, wo die Freude des Herzens überströmt, sich nach außen verbreitet und sich mit der Freude aller und eines jeden vermengt. Ich werde viele tolle Genüsse, manche lachende Freude vergessen, die ich auf meinem Lebenswege gepflückt; aber niemals wird mein Herz die Erinnerung an diese Stunde vergessen, die ich mit drei Fremden in einer verräucherten Sennhütte tief im Schnee und beim Toben des Sturmes zugebracht habe. Der Führer, immer tätig und vorausdenkend, hatte neben dem Feuer eine Art Ständer hergerichtet, an dem er unsere Kleidungsstücke aufhing und umwendete; die der jungen Miß waren an ihrem Körper getrocknet; sie saß schon wieder aufrecht da und versicherte, weitergehen zu können. Durch das Loch, welches wir in das Dach gemacht, und das Félizas noch vergrößert hatte, um unserem Feuer Nahrung zu geben, brach jetzt ein Strahl des Sonnenlichts und gab uns vollends unsere Sicherheit wieder. »Ein Zeichen von Kälte,« sagte der Führer, »der Schnee wird uns tragen. Gleichviel, auf den Steinen werden diese Schuhe nicht überflüssig sein!«

So nannte er eine Sohle ans Holz, die er mit seinem Messer zum Gebrauch für die junge Miß zurechtgeschnitten hatte, deren feines Schuhwerk schon sehr mitgenommen war und weder dem Schnee noch der Rauheit des Fußpfads mehr widerstehen konnte. Während wir andern die Vorbereitungen zum Abmarsch trafen, paßte er ihr selbst die Sohlen an, und bald darauf verließen wir die Hütte, nachdem wir das Feuer mit Schnee ausgelöscht hatten.

Der Abend war schön, und welch anziehenden Schimmer gaben ihm in unseren Augen die eben erst verronnenen Stunden! Wie stimmte der sanfte Glanz des Abends überein mit der Heiterkeit, die unsere Seelen nach so viel finsteren Aufregungen erfüllte! Wir gingen zusammen, glücklich, nichts mehr fürchten zu müssen, und doch noch vereint durch die frische Erinnerung an die gemeinsame Gefahr. Die junge Miß stützte sich auf meinen Arm; ihr Vater hatte es gewollt, als sie in ihrer Zurückhaltung es ablehnte. In ihren Augen war es eine Rücksicht, die sie mir schuldeten; in den meinigen war es ein Vorgang, dem ich ebensoviel Wert beimaß, wie ich Vergnügen darüber empfand. Nach dreiviertel Stunden waren wir aus dem Bereich des Schnees heraus. »Jetzt,« rief Mylord mit Entzücken aus, »sei ich Sie glücklich, sehr viele glücklich, und ich danke Gott!« Dann wendete er sich zu mir: »Sie sei mein Freund, Herr! Mehr kann ich Sie nicht sagen... Sie, die Führer, forder' Sie von mir und Sie erhalt' alles von meine Dankbarkeit und meine Zuneigung. Sie sei eine ausgezeichnete, eine würdige Mann. Ich hab' Sie gestern schlecht geurteilt und ich hab' Sie eine große Gewissensbissen. Tu' Sie mir den Gefallen und rauch' Sie die Pfeife, mein Freund, um mich zu verpflichten.«

»Daran soll es nicht fehlen,« antwortete Félizas und machte sich sofort ans Werk.

Die letzte Strecke des Abstiegs war leicht; vor Einbruch der Nacht kamen wir in Sixt an. Dort fanden der Engländer und die junge Miß ihr Gepäck vor und konnten endlich die Kleider wechseln. Sie verlangten, daß ich das Abendessen mit ihnen teilte; dabei gaben sie mehr einer Regung ihres Herzens nach, denn die äußerste Ermüdung mußte sie ein großes Bedürfnis nach Ruhe empfinden lassen. Gegen das Ende der Mahlzeit wurde der Führer gerufen; Mylord brachte einen Toast auf ihn aus, und indem er einige Goldstücke in seine Hand gleiten ließ, verstand er es, ihm auszudrücken, daß es Dienste gibt, die sich weniger durch Geld als durch Hochachtung und durch zuneigungsvolle Dankbarkeit vergelten lassen.

Am nächsten Morgen trennten wir uns. Der Tag erschien mir lang, der Weg unschön; was soll ich noch mehr sagen? Ich hatte die junge Miß in meinen Armen gehalten; während einiger Augenblicke waren ihr Leben, ihre Anmut, ihre Schönheit der Gegenstand meiner lebhaften, zärtlichen Fürsorge gewesen. Bedurfte es noch mehr, um mich noch viele Tage danach alle Stätten öde finden zu lassen, wo sie nicht war?!


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