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Zimmer bei Eva Berg
Eva Berg springt aus dem Bett, beginnt sich hastig anzukleiden
Karl Thomas (im Bett). Wohin willst du?
Eva Berg. Arbeiten, lieber Junge.
Karl Thomas. Wie spät ist es?
Eva Berg. Halb sieben.
Karl Thomas. Bleib noch bis acht liegen. Euer Bürodienst beginnt doch erst um neun Uhr.
Eva Berg. Ich muß vorher zur Gewerkschaft. In einer Woche ist Wahl. Flugblätter für die Frauen haben sie gedruckt, scheußlich. Ich hab' gestern abend, als du schon schliefst, den Text für ein neues entworfen.
Karl Thomas. Dieses Leben ohne Arbeit macht mich von Tag zu Tag fauler.
Eva Berg. Ja, es wäre Zeit, daß du Arbeit fändest.
Karl Thomas. Manchmal denk' ich ... Bubikopf nennt ihr die Frisur?
Eva Berg. Gefällt sie dir? ... Zu dumm, im sechsten Bezirk fehlen noch Vertrauensleute. Wo habe ich nur die Papiere gelassen? ... Ach hier. (Liest, korrigiert, schreibt.)
Karl Thomas. Die Frisur kleidet dich, da du ein Gesicht hast. Frauen ohne Gesicht müssen sich in acht nehmen. Die Frisur macht nackt. Wie viele vertragen Nacktheit?
Eva Berg. Findest du?
Karl Thomas. Die Gesichter in Straßen, Untergrundbahnen, schauerlich. Ich habe früher nie gesehen, wie wenig Menschen Gesichter haben. Fleischklumpen die meisten, von Angst und Dünkel aufgedunsen.
Eva Berg. Der Schluß ist nicht schlecht ... Hat man Sehnsucht nach Frauen drinnen?
Karl Thomas. In den ersten sieben Jahren war ich begraben ... Im letzten Jahr litt ich furchtbar.
Eva Berg. Was tut man dann?
Karl Thomas. Die einen halten's wie Knaben, die andern glauben, Laken, Stück Brot, buntes Tuch seien Geliebte.
Eva Berg. Schlimm muß das letzte wache Jahr für dich gewesen sein.
Karl Thomas. Oft habe ich das Kissen an mich gepreßt wie eine Frau, gierig mich zu wärmen.
Eva Berg. In jedem bellen die Eishunde ... Du mußt Arbeit finden, Karl ...
Karl Thomas. Wozu ... Eva, komm mit mir. Wir reisen nach Griechenland. Nach Indien. Nach Afrika. Es müssen irgendwo noch Menschen leben, kindliche, die sind, nur sind. In deren Augen Himmel und Sonne und Sterne kreisen, leuchtend. Die nichts von Politik wissen, die leben, nicht immer kämpfen müssen.
Eva Berg. Dich ekelt vor Politik? Glaubst du, du könntest ihren Kreis durchbrechen? Glaubst du, du könntest über südlicher Sonne, über Palmen, Elefanten, farbigen Gewändern das wirkliche Leben der Menschen vergessen? Das Paradies, daß du dir träumst, existiert nicht.
Karl Thomas. Seit meinem Besuch bei Wilhelm Kilman mag ich nicht mehr. Dafür? Damit die Unsern als verzerrte Spiegelbilder der Alten in die Welt grinsen? Danke. Du sollst mir Morgen sein und Traum der Zukunft. Dich, dich will ich, nichts weiter.
Eva Berg. Flucht also?
Karl Thomas. Nenn's Flucht. Was liegt an Worten.
Eva Berg. Du betrügst dich. Schon morgen zernagte dich Ungeduld, Sehnsucht nach dem ... Schicksal.
Karl Thomas. Schicksal?
Eva Berg. Weil wir nicht atmen können in dieser Luft von Fabriken und Hinterhöfen. Weil wir eingingen sonst wie gefangene Tiere.
Karl Thomas. Ja, du hast recht.
(Karl Thomas beginnt sich anzuziehen.)
Eva Berg. Du mußt dich nach anderer Wohnung umschauen, Karl.
Karl Thomas. Darf ich bei dir nicht mehr wohnen, Eva?
Eva Berg. Ehrlich, nein.
Karl Thomas. Meckert die Wirtin?
Eva Berg. Ich würde es ihr abgewöhnen.
Karl Thomas. Warum dann nicht?
Eva Berg. Ich muß allein sein können. Versteh mich.
Karl Thomas. Gehörst du nicht mir?
Eva Berg. Gehören? Das Wort ist gestorben. Keiner gehört dem andern.
Karl Thomas. Verzeih, ich hab' ein falsches Wort gewählt. Bin ich nicht dein Geliebter?
Eva Berg. Du meinst, weil ich mit dir geschlafen habe?
Karl Thomas. Bindet das nicht?
Eva Berg. Ein Blick, den ich mit fremdem Menschen tausche auf verwehter Straße, kann tiefer mich an ihn binden als irgendeine Liebesnacht. Die braucht nichts zu sein als sehr schönes Spiel.
Karl Thomas. Und was nimmst du ernst?
Eva Berg. Das hier nehme ich ernst. Auch Spiel nehme ich ernst ... Ich bin ein lebendiger Mensch. Habe ich, weil ich kämpfe, der Welt entsagt? Die Meinung, daß ein Revolutionär auf die tausend winzigen Freuden des Lebens zu verzichten habe, ist absurd. Alle sollen teilnehmen, das wollen wir doch.
Karl Thomas. Was ist dir ... heilig?
Eva Berg. Warum mystische Worte für menschliche Dinge? ... Du siehst mich an? ... Ich merke, wenn ich mit dir spreche, die letzten acht Jahre, in denen du »begraben« warst, haben uns stärker verwandelt als sonst ein Jahrhundert.
Karl Thomas. Ja, ich glaube mitunter, ich komme aus einer Generation, die verschollen ist.
Eva Berg. Was hat die Welt erlebt seit jener Episode.
Karl Thomas. Wie du von der Revolution sprichst!
Eva Berg. Diese Revolution war eine Episode. Sie ging vorüber.
Karl Thomas. Was bleibt?
Eva Berg. Wir. Mit unserm Willen zur Ehrlichkeit. Mit unserer Kraft zu neuer Arbeit.
Karl Thomas. Und wenn du ein Kind empfingst in diesen Nächten?
Eva Berg. Werde ich es nicht gebären.
Karl Thomas. Weil du mich nicht liebtest?
Eva Berg. Wie du vorbeiredest. Weil es Zufall wäre. Weil es mich nicht notwendig dünkt.
Karl Thomas. Wenn ich dumme Worte jetzt sage, falsche Worte, hör nicht drauf, hör auf das Unsagbare, an dem auch du nicht zweifelst. Ich brauche dich. Ich habe dich gefunden in Tagen, da wir den Herzschlag des Lebens hörten, weil der Herzschlag des Todes pochte, laut und unaufhaltsam. Ich finde mich nicht zurecht in dieser Zeit. Hilf mir, hilf mir! Die Flamme, die glühte, ist verlöscht.
Eva Berg. Du täuschst dich. Anders glüht sie. Unpathetischer.
Karl Thomas. Ich fühle sie nirgends.
Eva Berg. Was siehst du? Du fürchtest dich vor dem Tag draußen.
Karl Thomas. Sprich anders.
Eva Berg. Doch, laß mich sprechen. Alles Aussprechen beendet. Unwiderruflich. Entweder du gewinnst Kraft zu neuem Beginn oder du gehst zugrunde. Aus Mitleid dich in falschen Träumen halten, wäre Verbrechen.
Karl Thomas. So hattest du Mitleid?
Eva Berg. Wahrscheinlich. Ich bin mir nicht klar. Nie treibt ein Grund allein.
Karl Thomas. Welches Erlebnis hat dich verhärtet in diesen Jahren?
Eva Berg. Schon wieder gebrauchst du Begriffe, die nicht mehr stimmen. Ich war ein Kind, zugegeben. Wir können es uns nicht mehr leisten, Kinder zu sein. Wir können Hellsichtigkeit, Wissen, das uns zuwuchs, nicht mehr in die Ecke werfen wie Spielzeug, das wir nicht mögen. Erlebnis – gewiß, ich habe viel erlebt. Männer und Situationen. Seit acht Jahren arbeite ich, wie früher nur Männer arbeiteten. Seit acht Jahren entscheide ich über jede Stunde meines Lebens. Darum bin ich, wie ich bin ... Glaubst du, daß es mir leicht wurde? Oft, wenn ich in einem dieser häßlichen möblierten Zimmer saß, habe ich mich aufs Bett geworfen ... hab' geheult, wie zerbrochen ... hab' gedacht, ich kann nicht mehr weiterleben ... Dann kam die Arbeit. Die Partei brauchte mich. Ich habe die Zähne zusammengebissen und ... Sei vernünftig, Karl. Ich muß ins Amt gehen. (Fritz und Grete lugen durch die Tür. Verschwinden wieder.) Bleib den Morgen hier. Brauchst du Geld? Sag nicht nein aus dummem Ehrgefühl. Ich helfe dir als Kamerad, basta. Leb wohl.
(Eva Berg geht. Karl Thomas bleibt Sekunden allein. Fritz und Grete, die Kinder der Wirtin, öffnen die Tür, schauen neugierig.)
Fritz. Darf man mal 'reinkommen?
Grete. Wir möchten Sie nämlich sehen.
Karl Thomas. Ja, kommt nur.
(Fritz und Grete herein, beide betrachten Karl.)
Fritz. Wir müssen nämlich bald gehen.
Grete. Wir haben Karten fürs Kino.
Fritz. Und heut abend gehen wir zum Boxkampf. Wollen wir mal boxen?
Karl Thomas. Nein, ich kann nicht boxen.
Fritz. Ach so.
Grete. Aber tanzen können Sie, nicht? Verstehen Sie Charleston oder Black Bottom?
Karl Thomas. Nein, auch nicht.
Grete. Schade ... Sie waren wirklich acht Jahre im Irrenhaus?
Fritz. Sie will's nicht glauben.
Karl Thomas. Doch. Ja.
Grete. Und vorher waren Sie zum Tode verurteilt?
Fritz. Mutter hat's uns erzählt. Sie las es in der Zeitung.
Karl Thomas. Eure Mutter vermietet Zimmer?
Grete. Freilich.
Karl Thomas. Eure Mutter ist arm?
Fritz. Reich wären heute nur die Schieber, sagt Mutter immer.
Karl Thomas. Wißt ihr auch, warum ich zum Tode verurteilt wurde?
Grete. Weil Sie im Krieg mit dabei waren.
Fritz. Gans! Weil er in der Revolution mit dabei war.
Karl Thomas. Was wißt ihr denn vom Krieg? Hat Mutter euch von ihm erzählt?
Grete. Nein, Mutter nicht.
Fritz. In der Schule müssen wir doch die Schlachten lernen.
Grete. An welchem Tag sie waren.
Fritz. Blödsinn, daß der Weltkrieg kommen mußte. Als ob wir nicht schon genug zu lernen hätten in der Geschichtsstunde. Von 1618 bis 1648 dauerte der Dreißigjährige Krieg.
Grete. Dreißig Jahre.
Fritz. Von dem müssen wir halb soviel Schlachten lernen wie vom Weltkrieg.
Grete. Und dabei hat der nur vier Jahre gedauert.
Fritz. Die Schlacht bei Lüttich, die Schlacht an der Marne, die Schlacht bei Verdun, die Schlacht bei Tannenberg ...
Grete. Und die Schlacht bei Ypern.
Karl Thomas. Mehr wißt ihr nicht vom Krieg?
Fritz. Es genügt uns.
Grete. Und wie! Das letztemal habe ich mangelhaft bekommen, weil ich 1916 mit 1917 verwechselte.
Karl Thomas. Und ... was wißt ihr von der Revolution?
Fritz. Von der brauchen wir nicht so viel Zahlen zu lernen, die ist einfacher.
Karl Thomas. Was bedeuten Leid und Erkenntnis von Millionen, wenn schon die nächste Generation dafür taub ist? Alle Erfahrung rinnt ins Bodenlose.
Fritz. Was sagen Sie?
Karl Thomas. Wie alt seid ihr?
Grete. Dreizehn.
Fritz. Fünfzehn.
Karl Thomas. Und ihr heißt?
Fritz, Grete. Fritz, Grete.
Karl Thomas. Was ihr vom Krieg lerntet, ist sinnlos. Nichts wißt ihr vom Krieg.
Fritz. Oho!
Karl Thomas. Wie ihn euch schildern? ... Müttern wurden ... nein. Am Ende der Straße, was steht da?
Fritz. Eine große Fabrik.
Karl Thomas. Was wird darin gemacht?
Fritz, Grete. Säuren ... Gas.
Karl Thomas. Was für Gas?
Grete. Weiß ich nicht.
Fritz. Aber ich. Giftgas.
Karl Thomas. Wozu dient das Giftgas?
Fritz. Wenn die Feinde uns überfallen.
Grete. Ja, gegen die Feinde, wenn sie unser Land verwüsten wollen.
Karl Thomas. Wer sind denn eure Feinde? (Fritz, Grete schweigen.) Gib mal deine Hand Fritz ... Was wird mit dieser Hand, wenn eine Kugel sie durchlöchert?
Fritz. Dank' schön. Futsch.
Karl Thomas. Was wird mit deinem Gesicht, wenn es ein Quentchen Giftgas umnebelt? Hast du es in der Schule gelernt?
Grete. Und ob! Zerfressen wird's. Ratzekahl. Und dann stirbt man.
Karl Thomas. Möchtest du sterben?
Grete. Sie fragen komisch. Natürlich nicht.
Karl Thomas. Und nun will ich euch eine Geschichte erzählen. Kein Märchen. Eine Geschichte, die passiert ist, bei der ich dabei war. Während des Krieges lag ich irgendwo in Frankreich im Schützengraben. Plötzlich, nachts, hörten wir Schreie, so, als wenn ein Mensch furchtbare Schmerzen leidet. Dann war's still. Wird wohl einer zu Tode getroffen sein, dachten wir. Nach einer Stunde vernahmen wir wieder Schreie, und nun hörte es nicht mehr auf. Die ganze Nacht schrie ein Mensch. Den ganzen Tag schrie ein Mensch. Immer klagender, immer hilfloser. Als es dunkel wurde, stiegen zwei Soldaten aus dem Graben und wollten den Menschen, der verwundet zwischen den Gräben lag, hereinholen. Kugeln knallten, und beide Soldaten wurden erschossen. Noch mal versuchten's zwei. Sie kehrten nicht wieder. Da kam der Befehl, es dürfe keiner mehr aus dem Graben. Wir mußten gehorchen. Aber der Mensch schrie weiter. Wir wußten nicht, war er Franzose, war er Deutscher, war er Engländer. Er schrie, wie ein Säugling schreit, nackt, ohne Worte. Vier Tage und vier Nächte schrie er. Für uns waren es vier Jahre. Wir stopften uns Papier in die Ohren. Es half nichts. Dann wurde es still. Ach, Kinder, vermöchte ich Phantasie in euer Herz zu pflanzen wie Korn in durchpflügte Erde. Könnt ihr euch vorstellen, was da geschah?
Fritz. Doch.
Grete. Der arme Mensch.
Karl Thomas. Ja, Mädchen, der arme Mensch! Nicht: der Feind. Der Mensch. Der Mensch schrie. In Frankreich und in Deutschland und in Rußland und in Japan und in Amerika und in England. In solchen Stunden, in denen man, wie soll ich's sagen, hinabsteigt bis zum Grundwasser, fragt man sich: Warum das alles? Wofür das alles? Würdet ihr auch so fragen?
Fritz, Grete. Ja.
Karl Thomas. In allen Ländern grübelten die Menschen über die gleiche Frage. In allen Ländern gaben sich Menschen die gleiche Antwort. Für Gold, für Land, für Kohlen, für lauter tote Dinge, sterben, hungern, verzweifeln die Menschen, hieß die Antwort. Und dort und dort standen die Mutigsten des Volkes auf, riefen den Blinden zu ihr hartes Nein, wollten, daß dieser Krieg aufhörte und alle Kriege, kämpften für eine Welt, in der es alle Kinder gut hätten ... Bei uns verloren sie, wurden besiegt.
(Lange Pause.)
Fritz. Wart Ihr viele?
Karl Thomas. Nein, das Volk begriff nicht, warum wir kämpften, sah nicht, daß wir für sein Leben uns erhoben.
Fritz. Auf der anderen Seite, waren da viele?
Karl Thomas. Sehr viele. Waffen hatten sie und Geld und bezahlte Soldaten.
(Pause.)
Fritz. Und Ihr wart so dumm zu glauben, Ihr könntet siegen?
Grete. Ja, da wart Ihr recht dumm.
Karl Thomas (starrt sie an). Was sagt ihr?
Fritz. Dumm wart Ihr.
Grete. Sehr dumm.
Fritz. Jetzt müssen wir gehen. Sput dich, Grete.
Grete. Ja.
Fritz, Grete. Guten Tag. Auf Wiedersehen.
(Pause. Eva Berg kommt zurück.)
Eva Berg. Nun könnte ich mit dir reisen.
Karl Thomas. Was ist?
Eva Berg. Prompte Antwort.
Karl Thomas. Sprich!
Eva Berg. Ich kam nicht hinein ins Amt. Der Pförtner gab mir den Entlassungsbrief. Aus dem Dienst gejagt.
Karl Thomas. Kilman!
Eva Berg. Weil ich gestern nachmittag zu den ausgesperrten Arbeiterinnen sprach.
Karl Thomas. Dieser Kerl!
Eva Berg. Es wundert dich? Wer mit Lehm patzt, muß kneten.
Karl Thomas. Bist du überzeugt nun, Eva? Komm. Hier liegt ein Kursbuch. Wir fahren noch heute nacht. Fort! Nur fort, nur fort!
Eva Berg. Du sprichst von uns beiden? Nichts hat sich geändert. Glaubst du im Ernst, ich würde die Kameraden im Stich lassen?
Karl Thomas. Verzeih.
Eva Berg. Magst du nicht mit uns arbeiten? ... Überleg's dir.
(Eva Berg geht. Karl Thomas starrt sie an. Dunkel.)
Osten einer Großstadt
Fabriken
Schornsteine
Feierabend
Arbeiter verlassen Fabrik
Menge in Straßen
Arbeiterwirtschaft
Der hintere erhöhte Raum ist als Wahllokal eingerichtet. Am Tisch der Wahlleiter, neben ihm die Wahlbeisitzer. Rechts die Wahlkabine. Eingang dem Zuschauerraum zugewandt. Vorne an Tischen Gäste. Wenn an einem Tisch gesprochen wird, ist er hell beleuchtet, der andere Raum dunkler. – Herein dritter Arbeiter
Dritter Arbeiter. Na, hier flutscht es. Der Schwindel blüht.
Zweiter Arbeiter. Mensch, schweig doch. Mit deinem blöden Anarchismus kämen wir auch nicht weiter.
Dritter Arbeiter. Weiß schon, wenn ihr wählt, da kommt ihr weiter.
Erster Arbeiter. Es hat alles seine Richtigkeit. Auch die Wahl. Sonst wäre sie nicht da. Wenn du so dämlich bist, das nicht zu begreifen...
Dritter Arbeiter. Nur die allerdümmsten Kälber wählen ihre Metzger selber.
Erster Arbeiter. Meinst du uns?
Zweiter Arbeiter. Kinnhaken gefällig?
(Von hinten.)
Wahlleiter. Ruhig vorne. Man kann seine eigene Stimme nicht verstehen... Wie heißen Sie?
Alte Frau. Barbara Stilzer.
Wahlleiter. Wo wohnen Sie?
Alte Frau. Ab ersten Oktober werde ich Schulstraße sieben wohnen.
Wahlleiter. Wo Sie jetzt wohnen, möchte ich wissen.
Alte Frau. Wenn der Hauswirt glaubt, er könnte mich kujonieren, weil ich mich beschwert hab' beim Mietsamt... Margaretenstraße elf, vierter Stock.
Wahlleiter. Stimmt. (Alte Frau bleibt stehen.) Sie können Ihren Stimmzettel abgeben.
Alte Frau. Ich komme nur, weil's heißt, sie bestrafen einen, wenn man nicht wählt.
Wahlleiter. Also, liebe Frau, Sie nehmen den Bleistift, malen ein Kreuz hinter den Namen Ihres Kandidaten und tun ihn in die Urne da drinnen.
Alte Frau. Ich hab' keinen Stimmzettel, Herr Kriminalkommissar... Ich hab' nicht gewußt, daß ich einen Stimmzettel mitbringen muß... Wie soll man sich auskennen bei den vielen Paragraphen...
Wahlleiter. Ich bin kein Kriminalkommissar. Ich bin der Wahlleiter. Dort stehen die Stimmzettelverteiler. Lassen Sie sich einen geben, und dann kommen Sie wieder.
(Wahlhandlung geht weiter. – Alte Frau geht nach vorne.)
Erster Stimmzettelverteiler. Hier, junge Frau, hinter eins müssen Sie ein Kreuz machen. Da wählen Sie den richtigen Präsidenten. Der Kriegsminister wird für Ruhe und Ordnung sorgen und für die Frauen.
(Alte Frau wendet unschlüssig den Zettel hin und her.)
Zweiter Stimmzettelverteiler. Na, Mutterchen, immer das Kreuz hinter zwei setzen. Wollen Sie, daß die Kohlen billiger werden und das Brot?
Alte Frau. Schande, wie die Preise wieder steigen.
Zweiter Stimmzettelverteiler. Alles die Großagrarier, Mutterchen. Die scheffeln den Speck. Hier das Kreuz her, da stimmen Sie für die Volksversöhnung.
(Alte Frau wendet unschlüssig den Zettel hin und her.)
Dritter Stimmzettelverteiler. Als klassenbewußte Proletarierin wählen Sie Nummer drei. Klare Entscheidung, Genossin. Ruhe und Ordnung – Quatsch. Ruhe und Ordnung für die Kapitalisten, nicht für Sie. Volksversöhnung – Quatsch. Wenn Sie sich kuschen, dann dürfen Sie die Bruderhand lecken, sonst setzt's Fußtritte. Hinter drei das Kreuz, oder Sie drehen sich selbst den Strick.
(Alte Frau wendet unschlüssig den Zettel hin und her.)
Erster Stimmzettelverteiler. Hinter eins, junge Frau! Nicht vergessen!
Zweiter Stimmzettelverteiler. Hinter zwei, Mutterchen!
Dritter Stimmzettelverteiler. Nur drei hilft die Ketten sprengen, Genossin!
Wahlleiter. Haben Sie jetzt Ihren Stimmzettel?
Alte Frau. Hier, drei Stück.
Wahlleiter. Nur einen 'reinwerfen. Sonst ist Ihre Stimme ungültig.
(Alte Frau geht in die Kabine.)
Alte Frau. Darf ich wieder herauskommen? (Kommt heraus.) Schön guten Abend, Herr Kriminalkommissar. (Im Hinausgehen zu den Stimmzettelverteilern.) Schon gut, schon gut, regt euch nicht auf, regt euch nicht auf, ich hab' hinter jeden ein Kreuz gemacht.
(Am Tisch links.)
Zweiter Arbeiter. Den Weibern das Wahlrecht geben. Nur die Pfaffen profitieren davon.
Zweiter Arbeiter. Früher, wo ich Arbeit hatte, saß ich nicht im Monat so viel im Wirtshaus wie jetzt an einem Tag.
Erster Arbeiter. Und deine Frau? Ich möcht's nicht klatschen hören. Schrammen hast genug.
Zweiter Arbeiter. Bei der Unterstützung können wir vier Tage Hering und Marmelade fressen und drei Tage die Nase gegen den Wind halten. Es kommt auf eins 'raus.
Erster Arbeiter. Geh ich gestern aus der Tür, steht draußen vor der Schenke ein Bourgeoisweib, weißt du, mit Spitzen prima, voll Speck oben und unten, sagt laut: »Mit den Leuten soll man Mitleid haben.« Hab' ich geantwortet: »Frau Kommerzienrat«, hab' ich gesagt, »vielleicht kommt noch mal eine Zeit, wo Sie froh sein werden, wenn ich mit Ihnen Mitleid hab'«, hab' ich gesagt.
Zweiter Arbeiter. Aufhängen sollte man sie, nichts als aufhängen. Alle miteinander.
Erster Arbeiter. Wir werden's ihnen zeigen bei der Wahl.
(Karl Thomas herein.)
Karl Thomas (zum Wirt). Bei Ihnen verkehrt Albert Kroll?
Wirt. Er war grad hier. Er muß gleich wiederkommen.
Karl Thomas. Ich werde warten. (Setzt sich an Tisch rechts.)
(Vor dem Tisch des Wahlleiters.)
Wähler. Das lasse ich mir nicht gefallen!
Wahlleiter. Herr Sekretär, ein Irrtum...
Wähler. Der mich mein Stimmrecht kostet. Ich werde Einspruch erheben gegen die Wahl! Die Wahl muß als ungültig erklärt werden! Ich werde nicht ruhen! Ich geh' bis zu den höchsten Instanzen!
Wahlleiter. Ich gebe ja zu, daß Ihre Eintragung in die Wählerliste zu unrecht unterblieb...
Wähler. Dafür kann ich mir was kaufen! Mein Recht will ich! Mein Recht!
Wahlleiter. Ich darf nach dem Gesetz nicht...
Wähler. Mich rechtlos machen, das dürfen Sie. Ich werde hier Ordnung schaffen! Ich werde den Saustall anprangern!
Wahlleiter. Haben Sie Einsehen, Herr Sekretär. Bedenken Sie, welche Unruhe Sie ins Volk...
Wähler. Ist mir egal. Recht muß Recht bleiben...
Zweiter Wahlbeisitzer. Bitte schön, Herr Sekretär...
Wahlleiter. Als Staatsbürger werden Sie nicht wollen, daß...
Wähler. Es muß in die Presse, schwarz auf weiß. Dahinter steckt was andres. Gerade mir muß es passieren, immer muß es mir passieren, immer, immer, immer! Aber jetzt ist Schluß!
(Läuft davon, stößt in der Tür mit Albert Kroll zusammen, der hineinkommt. Albert Kroll stutzt, erkennt Karl Thomas.)
Albert Kroll. Menschenskind.
Karl Thomas. Endlich find' ich dich.
Albert Kroll. Armer Kerl. Schlimme Zeiten gewesen. Auch für uns. Arbeit gefunden?
Karl Thomas. Sechsmal war ich auf dem Arbeitsnachweis. Ich hab' doch Setzer gelernt, als sie mich aus der Universität schmissen. Kollegen sind dir manche Sekretäre! Wie Abteilungschefs im Warenhaus. Kalte Schulter, schlimmer als die echten. Könnten auch in anderen Warenhäusern perfekt arbeiten.
Albert Kroll. Der Alltag.
Karl Thomas. Du sagst es, als ob's so sein müßte.
Albert Kroll. Nein. Nur es regt mich nicht mehr auf. Wart einen Augenblick, ich geh' nach oben, ich gehöre zum Wahlvorstand. Man muß den Kerlen auf die Finger sehen.
(Oben am Wahltisch.)
Zweiter Wahlbeisitzer. Eine Beteiligung! Eine Beteiligung! In einer Stunde ist die Wahl zu Ende und schon achtzig Prozent. Achtzig Prozent!
Albert Kroll. Es haben dreihundert Arbeiter protestiert, weil sie nicht in die Wahlliste aufgenommen werden.
Wahlleiter. Nicht meine Schuld. Die aus dem Siedlungsblock bei den Chemischen Werken mußten gestrichen werden. Sie wohnen nicht vier Monate hier.
Albert Kroll. Aber die Studenten haben Wahlrecht. Seit wann sind die hier? Seit drei Wochen!
Wahlleiter. Das Ministerium des Innern hat so entschieden, nicht ich.
Albert Kroll. Wir werden Einspruch erheben gegen die Wahl.
Zweiter Wahlbeisitzer (am Telephon). Ist dort sechster Bezirk? Wieviel haben gewählt? Fünfundsechzig Prozent? Bei uns achtzig! (Hängt Telephon ein.) Meine Herren, wir marschieren an der Spitze, und Sie wollen Einspruch erheben...
(Albert Kroll geht zu Karl Thomas.)
Albert Kroll. Kilman hat den Arbeitern bei den Chemischen Werken das Stimmrecht gestohlen!
Karl Thomas. Meinetwegen. Was liegt daran. Albert, Genosse, was ist aus unserm Kampf geworden. Warenhaus hab' ich vorhin gesagt. Jeder sitzt auf seinem Pöstchen. Kasse eins... Kasse zehn... Kasse zwölf. Kein frischer Hauch. Die Luft modert vor Ordnung. Mir hat irgendein Wisch gefehlt, ich mußte noch mal meine Papiere einreichen an die zuständigen Instanzen. Es schimmelt nach Bürokratie.
Albert Kroll. Wissen wir. Noch mehr wissen wir. Die versagt haben, als es um die Entscheidung ging, spucken heute wieder große Töne.
Karl Thomas. Und ihr laßt es euch gefallen?
Albert Kroll. Wir kämpfen. Zu wenige sind wir. Die meisten haben vergessen, wollen ihre Ruhe. Wir müssen Kameraden gewinnen.
Karl Thomas. Hunderttausende sind arbeitslos.
Albert Kroll. Schleicht sich Hunger zu einer Tür 'rein, schleicht Verstand zur andern Tür 'raus.
Karl Thomas. Wie ein alter Mann sprichst du.
Albert Kroll. Jahre wie diese zählen zehnfach. Man lernt.
Karl Thomas. Hat der Herr Minister Kilman auch gesagt.
Albert Kroll. Möglich. Weil er was zu verbergen hat. Ich will dir die Wahrheit zeigen.
Vierter Arbeiter (herein). Albert, die Polizei hat unser Lastautomobil beschlagnahmt.
Albert Kroll. Warum?
Vierter Arbeiter. Wegen der Bilder! Wir hätten den Kriegsminister verhöhnt.
Albert Kroll. Wählt gleich eine Delegation, sie soll ins Ministerium, sich beschweren.
Vierter Arbeiter. Haben wir schon heute vormittag getan wegen der Flugblattverteiler, die verhaftet wurden. Kilman läßt niemand vor.
Albert Kroll. Dem Kriegsminister hat er die Militärkapelle gratis serviert... Los, geht ins Ministerium. Gleich telephonieren, wenn er sich weigert. (Vierter Arbeiter geht.) Hast du gehört, Karl?
Karl Thomas. Was geht mich die Wahl an. Deinen Glauben zeig mir, den alten, der Erde und Himmel und Sterne fortfegte.
Albert Kroll. Du meinst, den hab' ich nicht mehr? Soll ich dir aufzählen, wie oft wir ausbrechen wollten aus den verfluchten Sielen? Soll ich dir die Namen nennen der alten Kameraden, die ermordet wurden, eingesperrt, gehetzt?
Karl Thomas. Nur der Glaube zählt.
Albert Kroll. Wir wollen keine Seligkeit im Himmel. Man muß sehen lernen und sich dennoch nicht unterbekommen lassen.
Karl Thomas. Die großen Führer haben nicht so gesprochen.
Albert Kroll. Glaubst du? Ich stell' mir das anders vor. Drauflos marschierten sie. Unter den Füßen Glas. Und wenn sie durchsahen, sahen sie den Abgrund aus Feindschaft der andern und Dummheit der eigenen. Und sahen vielleicht noch mehr.
Karl Thomas. Keine Handbreit hätten sie gerührt, würden sie je gelotet haben die Tiefe unter sich.
Albert Kroll. Gelotet nie. Gesehen immer.
Karl Thomas. Alles falsch, was ihr tut. Ihr macht den Wahlschwindel mit.
Albert Kroll. Und was machst du? Was willst du tun?
Karl Thomas. Geschehen muß was. Einer muß ein Beispiel geben.
Albert Kroll. Einer? Alle. Jeden Tag.
Karl Thomas. Ich mein' es anders. Einer muß sich opfern. Dann werden die Lahmen rennen. Tage und Nächte habe ich die Fäuste gegen meinen Schädel getrommelt. Jetzt weiß ich, was ich zu tun habe.
Albert Kroll. Ich höre.
Karl Thomas. Rück 'ran. Unauffällig. (Spricht leise mit Albert.)
Albert Kroll. Uns nützest du nicht.
Karl Thomas. Nur so helf ich mir. Der Ekel erstickt mich.
(Albert Kroll ist wieder zum Tisch des Wahlleiters gegangen.)
Albert Kroll. Die Polizei hat unser Lastauto beschlagnahmt. Das ist Sabotage des Arbeiterkandidaten.
Ein Wähler. Euer Kandidat ist doch vom Ausland bestochen.
Albert Kroll. Lüge! Wahlhetze!
Wahlleiter (zu Albert Kroll). Sie dürfen nicht beeinflussen. (Zum Wähler.) Hier ist keine Auskunftsstelle, Herr Metzgermeister.
Albert Kroll. Niemand will ich beeinflussen. Ich darf wohl noch die Wahrheit sagen.
Zweiter Wahlbeisitzer (am Telephon). Wie spät ist es bei euch? Acht Uhr fünfzehn?... Ja, ja, bei uns flutscht es. Mächtiger Betrieb. Eben bringen sie die Kranken auf Tragbahren. (Hängt ab.) Die Uhr im fünften Bezirk geht acht Minuten vor. Acht Minuten! Ich hab' es ihm nicht gesagt. Da erfahren wir schon acht Minuten früher die Resultate.
(Albert Kroll geht zum Tisch von Karl Thomas.)
Albert Kroll. Mir den Mund verbieten, wenn ich die Wahrheit sagen will. Ich kusch' mich nicht.
Karl Thomas. Großer Mut! In Wahrheit seid ihr Feiglinge! Alle, alle, alle! Wäre ich im Irrenhaus geblieben! Jetzt faßt mich schon vorm Plan der Ekel. Wofür? Für eine Herde feiger Wahlspießer?
Albert Kroll. Du möchtest, daß um deinetwillen die Welt ein ewiges Feuerwerk sei, mit Raketen und Leuchtkugeln und Schlachtengetöse. Du bist der Feigling, nicht ich.
(Am Tisch links.)
Erster Arbeiter. Warst schon wählen?
Zweiter Arbeiter. Nein, ich geh' jetzt. Warum soll ich nicht für Volksversöhnung stimmen, wo die Gnädige von der Lina auch dafür stimmt. Mit dem Kilman muß was los sein, sag' ich dir, die Gnädige von der Lina hat Grütze im Kopf. Die ist überhaupt pikfein. Am Sonntag, wenn die Lina Ausgang hat, kommt die Gnädige immer in die Küche. »Lina«, sagt sie, »ich wünsche Ihnen schönen Sonntag.« Und dann gibt sie ihr die Hand. Jedesmal.
Erster Arbeiter. Da schau.
(Zweiter Arbeiter geht zum Wahltisch. – Pickel kommt)
Pickel. Entschuldigen Sie, kann man hier wählen?
(Die Stimmzettelverteiler umringen Pickel.)
Erster Stimmzettelverteiler. Ruhe und Ordnung im ganzen Land, mit Gott fürs teure Vaterland! Nur eins!
Zweiter Stimmzettelverteiler. Wach auf, du Volk, noch ist es Zeit, nicht rechts, nicht links, sei staatsbereit! Nur zwei!
Dritter Stimmzettelverteiler. Der Präsident von Nummer drei macht Arbeiter und Bauern frei! Nur drei!
Pickel. Danke schön, danke schön.
(Pickel geht zum Tisch des Wahlleiters.)
Wahlleiter. Wie heißen Sie?
Pickel. Pickel.
Wahlleiter. Wo wohnen Sie?
Pickel. Zwar wohne ich in Holzhausen, jedoch...
Wahlleiter. Sie sind nicht eingetragen in die Wahlliste... Schreiben Sie sich mit Be?
Pickel. Wo werde ich... Pickel... Pickel Pe... Pe... Nicht zwei Pe... Zwar ich möchte erklären, daß...
Wahlleiter. Ihre Erklärung nützt nichts. Sie dürfen hier nicht wählen. Sie sind im falschen Wahllokal.
Pickel. Ich muß Ihnen erklären... Zwar wohne ich in Holzhausen...
Wahlleiter. Was wollen Sie hier? Halten Sie die Wahl nicht auf. Der nächste...
(Wahlhandlung geht weiter.)
Pickel (zu Karl Thomas gehend). Zwar wäre mir meinerseits gleich, ob ich wähle, jedoch ich will nicht undankbar sein gegen den Herrn Minister... Ich möcht' ihm meine Stimme geben.
(Pickel geht zum dritten Arbeiter.)
Karl Thomas. Lassen Sie mich in Ruhe.
Pickel. Zwar wäre ich längst nach Hause gereist, ich wollte nur einen Tag bleiben, jedoch es hörte nicht auf mit Regnen.
Dritter Arbeiter. Wenn's hier nur 'reinregnen tät. Die ganze Bude müßte es überschwemmen. Alles Betrug! Den Hintern abwischen sollt' man sich mit den Zetteln.
Pickel. Dieses meine ich nicht. Nämlich ich fahre nicht bei Regenwetter. Ich habe sechs Wochen gewartet, eh' ich zum Herrn Minister reiste, weil immer Gewitter in der Luft lag.
(Bankier kommt. Stimmzettelverteiler umringen ihn.)
Bankier. Danke. (Geht zum Wahlleiter.)
Wahlleiter. Zu dienen, Herr Generaldirektor. Herr Generaldirektor wohnen immer noch am Opernplatz?
Bankier. Ja. Ich komme ein bißchen spät.
Wahlleiter. Früh genug, Herr Generaldirektor. Bitte sehr, dort.
(Bankier geht in die Wahlkabine.)
Pickel. Ich hatte einen Onkel, den erschlug der Blitz in der Eisenbahn. Zwar die Eisenbahnen ziehen den Blitz an, jedoch die Menschen sind schuld daran mit ihrem neumodischen Getös.
Wahlleiter (zum Bankier, der die Wahlkabine verlassen hat). Ergebenster Diener, Herr Generaldirektor.
(Bankier geht)
Dritter Arbeiter. Der macht das Rennen, kein anderer, und die dummen Arbeiter schlucken den Staub.
Pickel. Das Radio und die elektrischen Wellen, die bringen Unordnung in die Atmosphäre. Zwar...
Wahlleiter. Die Wahlhandlung ist geschlossen.
Erster Arbeiter. Da bin ich aber neugierig.
Zweiter Arbeiter. Wollen wir wetten, daß der Kriegsminister durchfällt?
Dritter Arbeiter. Gewählt wird er! Recht geschieht euch!
Zweiter Arbeiter. Quatsch nicht so dämlich, alter Anarchiste!
Radio. Achtung! Achtung! Erstes Wahlresultat. Zwölfter Bezirk. Siebenhundertvierzehn Stimmen für den Kriegsminister Exzellenz von Wandsring, vierhundertvierzehn Stimmen für Minister Kilman, siebenundsechzig Stimmen für Maurer Bandke.
Zweiter Arbeiter. Au.
Erster Arbeiter. Schiebung.
Dritter Arbeiter. Bravo!
(Erster und dritter Arbeiter gehen.)
Pickel. Herr Wahlleiter, Sie dürfen nicht Schluß ma-machen. Ich bestehe... Zwar bin ich nur... jedoch wollen die in der Großstadt uns immer... Ich nämlich kenn' den Herrn Minister Kilman, ich bin mit ihm befreundet...
Wahlleiter. Beschweren Sie sich.
Pickel. Wenn Minister Kilman nun eine Stimme zuwenig erhält. Bedenken Sie, wenn's an meiner Stimme liegt ...
Radio. Achtung! Achtung! Meldung aus Osthafen. Sechstausend für Maurer Bandke. Viertausend für Minister Kilman, zweitausend für Exzellenz von Wandsring.
Menge auf der Straße. Hurra! Hurra!
Albert Kroll. Die Werftarbeiter! Unsere Pioniere! Bravo!
Karl Thomas. Was Bravo? Wie kannst du dich freuen über Wahlstimmen? Sind die eine Tat?
Albert Kroll: Tat – nein. Sprungbrett zu Taten.
Radio. Achtung! Achtung! In der Hauptstadt hat nach letzten Meldungen Minister Kilman die Majorität.
Menge auf der Straße. Hoch Kilman! Hoch Kilman!
Zweiter Arbeiter. Hab' ich's nicht gesagt? Meine drei Glas Bier! Berappen! Berappen!
Erster Arbeiter. Wer hat von drei Glas Bier gesprochen? Eine Lage war ausgemacht.
Zweiter Arbeiter. Jetzt drückst du dich!
Erster Arbeiter. Hör bloß auf, sonst ...
Pickel. Ich meinerseits werde nicht ruhen ... Der Herr Minister hätte, wenn meine Stimme ... Er hätte noch eine Stimme ... Zwar seine Wahl ...
Zweiter Wahlbeisitzer. Meine Herren, wir haben den Rekord geschlagen. Siebenundneunzig Prozent Wahlbeteiligung! Siebenundneunzig Prozent!
Karl Thomas. Wenn ich nur verstünde! Wenn ich nur verstünde! Bin ich in ein Tollhaus geraten?
Radio. Achtung! Achtung! Neun Uhr dreißig verkünden wir das Resultat.
Zweiter Arbeiter. Ich wette Kilman. Zehn Lagen? Wer hält?
Pickel. Ich würde sofort ... Wenn ich meine Stimme ...
Zweiter Wahlbeisitzer. Wir müssen es in die Zeitung setzten. Siebenundneunzig Prozent Wahlbeteiligung. Das ist noch nicht dagewesen! Das ist noch nicht dagewesen!
Pickel. Wenn Sie mich hätten wählen lassen, würden die Prozente ...
(Tumult vor der Tür. Arbeiter herein.)
Dritter Arbeiter. Mutter Meller haben sie erschlagen!
Vierter Arbeiter. Diese Bande. Eine alte Frau.
Albert Kroll. Was gibt's?
Fünfter Arbeiter. Sie wollte ein Wahlflugblatt ankleben an den Chemischen Werken.
Vierter Arbeiter. Mit Gummiknüppel! Eine alte Frau!
Dritter Arbeiter. Aufs Trottoir geklatscht und aus!
Fünfter Arbeiter. Seit wann ist es verboten, Flugblätter anzukleben?
Dritter Arbeiter. Frage! Weil wir freie Wahl haben.
Vierter Arbeiter. Mitten auf 'n Kopf. Eine alte Frau.
Karl Thomas. Hörst du?
Albert Kroll. Platz, Kameraden. (Will zur Tür. In diesem Augenblick bringt man die ohnmächtige Frau Meller. Albert Kroll bettet sie auf die Erde.) Ein Kissen ... Wasser! ... Ohnmächtig. Sie lebt ...
Vierter Arbeiter. Ohne Warnung. Gleich mit Gummiknüppel. Eine alte Frau.
Albert Kroll. Kaffee!
Fünfter Arbeiter. Und die Verfassung! Sie werden sich verantworten müssen.
Dritter Arbeiter. Vor wem? Vorm Gevatter Richter? Mensch, du bist naiv.
Albert Kroll. Ich, Mutter Meller ... Ruhig atmen ... So ... Jetzt dürfen Sie sich wieder hinsetzen. Das ist der Karl Thomas. Kennen Sie ihn wieder?
Frau Meller. Der Karl ...
Albert Kroll. Was ist passiert? Wollen Sie erzählen?
Frau Meller. Ach, im Flugblatt fehlte ein I-Punkt. Den hat ein Kerl mit seinem Gummiknüppel mir auf 'n Rücken gesetzt. In Fettdruck ... Eva haben sie verhaftet.
(Tumult an der Tür. Erster und dritter Arbeiter mit Rand herein.)
Erster Arbeiter. Hier bringen wir das Brüderchen!
Dritter Arbeiter. Ich kenn' ihn. In unsern Versammlungen Stammgast. Immer der Radikalste.
Mehrere Arbeiter (auf Rand einstürmend). Hin muß er! Hin!
(Albert Kroll springt dazwischen, packt Rand mit der rechten Hand am Arm.)
Albert Kroll. Ruhe!
Karl Thomas. Den Teufel Ruhe! Sollen wir alles schlucken? Da habt ihr euren Wahlsieg! (Will Rand niederschlagen. Albert Kroll packt Karl Thomas mit der linken Hand.) Du ... Du ... laß los!
Albert Kroll. Nimm du ihn, Mutter Meller.
Fünfter Arbeiter. Sollte man nicht lieber die Partei fragen?
Albert Kroll. Die Partei! Sind wir Wickelkinder?
Rand. Danke schön, Herr Kroll.
Albert Kroll. Woher kennen wir uns?
Rand. Ich war doch Ihr Aufseher damals.
Frau Meller. Ei Donnerwetter. Feines Wiedersehen. Wir sollten ein Täßchen Kaffee trinken miteinander.
Rand. Hab' ich Sie nicht immer freundlich behandelt, Herr Kroll? Sie müssen es mir bestätigen.
Albert Kroll. So freundlich, daß, wenn man Ihnen befohlen: »Umlegen«, Sie sich einen nach dem andern geholt hätten ... Stimme, honigsüß, Gesicht zum Küssen. »Bitt' schön, machen Sie es mir nicht schwer, ich tue nur meine Pflicht, gleich ist's vorüber.«
(Arbeiter lachen.)
Rand. Was soll man tun? Ich bin auch nur Arbeiter. Ich muß auch leben. Hab' fünf Kinder. Und ein Gehalt zum Kotzen. Ich führ' nur meine Befehle aus.
Erster Arbeiter. Hier den Revolver knöpften wir ihm ab.
(Karl Thomas springt auf, greift nach dem Revolver, legt ihn auf Rand an.)
Albert Kroll (schlägt ihm auf den Arm). Laß den Unsinn! (Frau Meller ist Karl Thomas nachgelaufen, zieht ihn zu sich.) Womit haben Sie sich den Bauch ausgestopft? Die schlanke Mode ist Ihnen schnuppe. (Zieht aus Rands Weste Flugblätter, liest.) »Genossen, hütet euch vor den Juden!« ... »Landfremde Elemente.« »Duldet nicht daß die Weisen von Zion ... Eine Überzeugung haben Sie auch?
Rand. Und ob! Die Juden ...
Albert Kroll. Wieviel Moneten bringt die Überzeugung ein? ... 'raus jetzt! Marsch! Einmal hab' ich Sie geschützt ... Ein zweites Mal werd' ich's nicht mehr können – wenn ich's wollte.
(Rand hinaus.)
Arbeiter. Laß dich erwischen!
Karl Thomas. Nein, Mutter Meiler, nein, lassen Sie mich. Ich will sprechen mit ihm ... Warum bremst du?
Albert Kroll. Weil ich mit Volldampf fahren will, wenn's Zeit ist. Es gehört Kraft dazu, sich zu gedulden.
Karl Thomas. Kilman sagt es ähnlich.
Albert Kroll. Narr.
Karl Thomas. Was soll ich denn tun, um euch zu verstehen?
Albert Kroll. Arbeite irgendwo.
Frau Meller. Ich weiß Rat, Jung. Das Hotel, in dem ich schaffe, sucht Hilfskellner. Ich werde mich hinter den Ober stecken. Hast du eine Bleibe? Kannst bei mir schlafen?
Albert Kroll. Tu's Karl. Du mußt in den Alltag hinein.
Frau Meller. Du gefällst mir, Albert. Trinkst mir nichts dir nichts meinen Kaffee ... Noch eine Tasse, Herr Wirt ...
Vierter Arbeiter. Mit Gummiknüppel. Eine alte Frau ...
Radio. Achtung! Achtung! (Radio versagt ... Schnarrende Laute.)
Pickel. Die Atmosphäre ...
Radio. Der Kriegsminister Exzellenz Wandsring wurde mit großer Majorität zum Präsidenten der Republik gewählt.
(Während auf der Straße Geschrei, Gesang aufquirlt, das Bild des Präsidenten am Horizont erscheint.)