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Das Weib spricht zu ihm: Herr, ich sehe, daß du ein Prophet bist.
Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr saget, zu Jerusalem sei die Stätte, da man anbeten solle.
Jesus spricht zu ihr: Weib, glaube mir, es kommt die Zeit, daß ihr weder auf diesem Berge, noch zu Jerusalem werdet den Vater anbeten.
Ihr wisset nicht, was ihr anbetet, wir wissen aber, was wir anbeten; denn das Heil kommt von den Juden.
Aber es kommt die Zeit, und ist schon jetzt, daß die wahrhaftigen Anbeter werden den Vater anbeten im Geist und in der Wahrheit; denn der Vater will haben, die ihn also anbeten.
Zwei alte Bauern wollten einmal nach Jerusalem pilgern. Der eine war reich und hieß Jefim Tarassytsch Scheweljow. Der andere, namens Jelissej Bodrow, war weniger bemittelt.
Jefim war ein ordentlicher und besonnener Mann, trank keinen Schnaps, rauchte und schnupfte keinen Tabak, fluchte nie und war streng von Sitten. Zwei Perioden lang versah er das Amt eines Dorfschulzen; er versah es so gewissenhaft, daß auch kein Heller in der Gemeindekasse fehlte. Er hatte eine große Familie: zwei Söhne und einen verheirateten Enkel, die alle mit ihm zusammenlebten. Er war gesund und kräftig, hielt sich gerade und hatte einen schönen Vollbart, der erst nach seinem sechzigsten Jahre zu ergrauen begann.
Jelissej war weder reich noch arm; in seinen jüngeren Jahren hatte er als Zimmermann auswärts gearbeitet; im Alter lebte er daheim und züchtete Bienen. Er hatte zwei Söhne; der eine arbeitete auswärts, der andere lebte beim Vater. Jelissej war gutmütig und heiter von Gemüt. Zuweilen trank er ein Glas Schnaps, schnupfte auch Tabak und sang gern Lieder; sonst lebte er ordentlich und in bester Eintracht mit den Seinen und mit den Nachbarn. Jelissej war klein von Wuchs, schwärzlich, hatte einen krausen Bart und eine große Glatze, wie sein Namenspatron, der Prophet Elisa.
Die beiden Alten hatten schon längst das Gelübde getan und verabredet, die Wallfahrt zusammen zu unternehmen; Jefim wurde aber jedesmal von seinen Geschäften zurückgehalten. Kaum war eine Sache fertig, als gleich eine andere kam: bald mußte er den Enkel verheiraten, bald warten, daß der jüngere Sohn seine Militärzeit abdiente und nach Hause zurückkehrte; nun begann er gar ein neues Haus zu bauen.
An einem Feiertage trafen sich die beiden Alten auf der Dorfstraße und setzten sich auf einen Balken. Jelissej sagte:
»Wann werden wir denn unser Versprechen einlösen, Gevatter?«
Jefim verzog das Gesicht und erwiderte:
»Ja, wir müssen noch etwas warten; in diesem Jahre habe ich es recht schwer. Als ich das Haus zu bauen anfing, glaubte ich, daß es mich kaum über hundert Rubel kosten würde; es kostet mich aber schon jetzt an die dreihundert Rubel und ist noch immer nicht fertig. Ich werde damit wohl noch bis zum Sommer zu tun haben. So Gott will, werden wir im Sommer bestimmt auf die Reise gehen.«
»Ich bin der Ansicht,« sagte Jelissej, »daß man es nicht länger hinausschieben soll und daß wir jetzt gleich gehen. Das Frühjahr ist ja die beste Zeit dafür.«
»Es ist ja wirklich die beste Zeit; doch wie kann ich abkommen, solange ich mit dem Begonnenen nicht fertig bin?«
»Hast du denn niemand? Dein Sohn wird die Arbeiten zu Ende führen.«
»Doch wie? Auf meinen ältesten Sohn ist kein Verlaß: er trinkt gerne über den Durst.«
»Wenn wir einmal tot und begraben sind, Gevatter, werden die Söhne auch ohne uns auskommen müssen. Du solltest doch beizeiten dem Sohne Gelegenheit geben, etwas zu lernen.«
»Das stimmt ja alles, doch ich möchte gar zu gerne mein Auge dabei haben.«
»Ach, lieber Freund! Mit allen Geschäften wirst du doch sowieso nie fertig! Da haben bei mir neulich die Weiber zum Feiertage das Haus geputzt und aufgeräumt. Sie hatten so viel vor, daß sie damit wohl nie fertig werden würden. Die älteste Schwiegertochter, ein vernünftiges Weib, sagte: ›Es ist gut, daß der Feiertag kommt und nicht auf uns wartet; sonst würden wir unser Lebtag nicht fertig werden‹.«
Jefim wurde nachdenklich und sagte:
»Der Bau hat mich schon viel Geld gekostet; mit leeren Händen kann man aber eine solche Reise nicht unternehmen. Hundert Rubel sind ja keine Kleinigkeit.«
Jelissej mußte lachen.
»Sündige nicht, Gevatter! Du bist wohl zehnmal reicher als ich. Und du sprichst dabei vom Geld. Sage mir nur, wann wir die Reise antreten. Wenn ich jetzt auch kein Geld habe, so werde ich es mir doch immer verschaffen können.«
Auch Tarassytsch lächelte:
»Wie du nur zu solchem Reichtum kommst! Wo wirst du es denn hernehmen?«
»Irgend etwas wird sich schon zu Hause finden lassen; und wenn es nicht langt, werde ich die zehn Bienenstöcke, die ich in der Ausstellung hatte, dem Nachbarn verkaufen. Er bittet mich schon lange darum.«
»Wenn der Schwarm gut gerät, wirst du es hinterdrein bereuen!«
»Bereuen? Nein, Gevatter! Außer meinen Sünden habe ich noch nie im Leben etwas bereut. Denn das Wertvollste ist doch immer die Seele.«
»Du hast wieder recht. Es ist aber doch nicht gut, wenn in der Wirtschaft nicht alles in Ordnung ist.«
»Viel ärger ist es, wenn die Seele nicht in Ordnung ist. Wir haben einmal das Gelübde geleistet, nun müssen wir wirklich gehen.«
Es gelang Jelissej, den Freund zu überreden. Jefim überlegte sich noch die Sache und kam am nächsten Morgen zu Jelissej.
»Nun wollen wir wirklich aufbrechen. Du hast recht. Tod und Leben stehen in Gottes Hand. Solange wir leben und die Kraft haben, müssen wir gehen.«
In einer Woche brachen die beiden Alten auf.
Tarassytsch hatte Geld zu Hause. Er nahm hundertundneunzig Rubel auf den Weg und ließ zweihundert seiner Alten zurück.
Auch Jelissej rüstete sich zur Reise. Er verkaufte zehn Bienenstöcke von der Ausstellung dem Nachbarn mit der Bedingung, daß dem Käufer auch die Zuzucht gehörte. Er bekam dafür siebzig Rubel. Die fehlenden dreißig Rubel kratzte er zu Hause zusammen: die Alte gab ihm das Geld, das sie sich für die Beerdigung zurückgelegt hatte, und auch die Schwiegertochter gab ihm ihr Letztes.
Jefim Tarassytsch übergab alle Geschäfte dem ältesten Söhne; er belehrte ihn, wo und wieviel Heu zu mähen wäre, wohin er den Dünger führen und wie er den Neubau fertigstellen und unter Dach bringen sollte. Alles sah er vor und vergaß auch nicht das geringste. Jelissej gab aber seiner Alten nur den einen Auftrag: die junge Brut von den verkauften Bienenstöcken gesondert zu setzen und dem Käufer ehrlich abzuliefern; von den häuslichen Angelegenheiten sprach er aber gar nicht: jede Sache werde selbst zeigen, wie man sie anpacken müsse. »Ihr seid ja selbst Hauswirte und wißt am besten, wie alles zu verrichten ist.«
Die beiden Alten brachen auf. Die Angehörigen buken ihnen Fladen als Wegzehrung; sie nähten sich Reisetaschen, schnitten sich neue Fußlappen zurecht, zogen neue Schuhe an, nahmen noch Bastschuhe auf Vorrat mit und machten sich auf den Weg. Die Angehörigen begleiteten sie bis an die Dorfgrenze, nahmen dort Abschied, und die Pilger verließen das Heimatsdorf.
Jelissej trat die Reise frohen Mutes an; kaum hatte er das Dorf hinter sich, als er gleich alle seine häuslichen Sorgen vergaß. Er dachte nur daran, wie er sich mit seinem Weggenossen vertragen konnte, wie er sich aller groben Redensarten enthalten wollte, wie er in Liebe und Eintracht das Ziel der Wanderschaft erreichen und ebenso wieder heimkehren sollte. Im Gehen flüsterte er Gebete vor sich hin oder sagte Stücke aus den Heiligenlegenden, die er gerade im Kopfe hatte, auf. Wenn er aber unterwegs oder in einer Herberge mit jemand zusammenkam, gab er sich Mühe, recht freundlich zu sein und fromme Reden zu führen. Und wie er so ging, war er immer voll stiller Freude. Nur eines konnte er nicht fertigbringen: er wollte das Schnupfen aufgeben und hatte daher die Tabaksdose zu Hause gelassen; diese Entbehrung fiel ihm aber sehr schwer. Unterwegs schenkte ihm jemand eine neue Tabaksdose; von Zeit zu Zeit blieb er hinter dem Genossen zurück, um ihn nicht in Versuchung zu führen, und nahm eine Prise.
Auch Jefim Tarassytsch benahm sich auf der Pilgerschaft, wie es ziemt; er tat nichts Sündhaftes, redete nichts Überflüssiges; und doch fehlte ihm die richtige leichte Stimmung. Er konnte die Gedanken an die Wirtschaft nicht los werden. Er mußte immerfort an sein Haus denken. Ob er auch alles dem Sohne befohlen habe und ob der Sohn alles richtig machen werde. Wenn er unterwegs sah, wie Bauern Kartoffeln pflanzten oder Dünger führten, mußte er immer denken, ob sein Sohn auch alles richtig besorgte. Er hatte beinahe das Verlangen, umzukehren, um alles dem Sohne zu zeigen und auch selbst einzugreifen.
Die beiden Alten waren schon fünf Wochen auf der Wanderschaft; die von Hause mitgenommenen Bastschuhe hatten sie abgetragen und sich neue kaufen müssen. Und sie kamen in eine Gegend, wo Kleinrussen wohnten. Solange sie in der Nähe der Heimat waren, mußten sie für Nachtlager und Essen zahlen; die Kleinrussen bewirteten sie umsonst und wetteiferten miteinander, die Pilger als Gäste beherbergen zu dürfen. Sie gewährten ihnen Obdach, gaben ihnen zu essen und wollten dafür kein Geld; sie gaben ihnen noch Brot und sogar Fladen für die Weiterreise mit. So ging es etwa siebenhundert Werst weit; dann kamen sie aber in eine Gegend, die von einer Mißernte heimgesucht war. Auch hier gewährte man ihnen ohne Geld Nachtquartier, gab ihnen aber nichts zu essen. Es kam vor, daß sie nicht einmal für Geld Brot bekommen konnten. Die Leute erzählten, daß im vorigen Jahr nichts gediehen war. Reiche Bauern waren zugrunde gerichtet und hatten alles verkaufen müssen; die weniger Bemittelten waren gänzlich verarmt, und die Armen waren entweder fortgezogen, um auf den Landstraßen zu betteln, oder schlugen sich irgendwie zu Hause durch. Im Winter lebten sie von Spreu und Melde.
Die Alten übernachteten einmal in einem Marktflecken, kauften sich da fünfzehn Pfund Brot und machten sich vor Sonnenaufgang auf den Weg, um in der Morgenkühle eine möglichst weite Strecke zurücklegen zu können. Als sie etwa zehn Werst gegangen waren, kamen sie an einen Bach; sie hielten Rast, schöpften Wasser in ihre Näpfe, weichten darin Brot auf, frühstückten und wechselten die Fußlappen. Dann saßen sie noch eine Weile, um auszuruhen. Jelissej holte seinen Schnupftabak hervor. Als Jefim Tarassytsch dies sah, schüttelte er den Kopf und sagte vorwurfsvoll:
»Warum wirfst du diesen Unrat nicht fort?«
Jelissej winkte mit der Hand und sagte:
»Die Sünde hat mich überwältigt. Was kann man dagegen machen!«
Sie standen auf und gingen weiter. Nach weiteren zehn Werst kamen sie in ein großes Dorf. Es war bereits recht heiß geworden. Jelissej war erschöpft; er wollte wieder ausruhen und ein wenig Wasser trinken; Jefim wollte sich aber nicht aufhalten. Er war im Gehen rüstiger, und Jelissej fiel es oft schwer, mit ihm immer gleichen Schritt zu halten.
»Wenn ich nur einen Schluck Wasser trinken könnte!« sagte Jelissej.
»Nun, trinke doch! Ich mag nicht.«
Jelissej blieb stehen.
»Warte nicht auf mich!« sagte er. »Ich will nur rasch in jenes Haus laufen und um Wasser bitten. Dann hole ich dich schnell ein.«
»Es ist gut«, sagte darauf Jefim.
Jefim Tarassytsch ging allein weiter, und Jelissej ging auf das Bauernhaus zu.
Jelissej stand vor dem Hause. Es war eine kleine Lehmhütte, unten schwarz und oben weiß; der Lehm war abgebröckelt und offenbar seit langer Zeit nicht mehr gestrichen; auch das Dach war beschädigt. Der Eingang war von der Hofseite. Jelissej trat in den Hof und sah dort neben einer Bank einen bartlosen, mageren Mann liegen; das Hemd steckte nach Kleinrussenart in der Hose. Der Mann hatte sich wohl in den Schatten gelegt, doch die Sonne war inzwischen höher gekommen und brannte ihm jetzt auf den Kopf. Er lag unbeweglich mit offenen Augen da. Jelissej rief ihn an und bat ihn um Wasser, doch der Mann gab keine Antwort. Entweder ist er krank oder unfreundlich, dachte Jelissej und ging zur Türe. Er hörte in der Stube zwei Kinder weinen. Er klopfte und rief:
»Wirtsleute!«
Niemand antwortete ihm. Er klopfte mit dem Stock und rief wieder:
»Christenmenschen!«
Niemand rührte sich.
»Knechte Gottes!«
Keine Antwort. Jelissej wollte schon weitergehen, hörte aber jemand hinter der Türe stöhnen. Ob da nicht irgendein Unglück geschehen ist? Man muß nachschauen! Und Jelissej trat ins Haus.
Jelissej drückte auf die Klinke – die Türe war nicht versperrt. Er machte sie auf und kam in den Flur. Auch die Türe zur Stube stand offen. Links war der Ofen; gerade vor ihm die Wand mit den Heiligenbildern und ein Tisch; hinter dem Tisch eine Bank; auf der Bank saß eine alte Frau ohne Kopftuch, nur mit einem Hemde bekleidet; sie hatte den Kopf auf den Tisch gelegt; neben ihr stand ein magerer Junge – wie aus Wachs, der Leib aufgedunsen: er weinte, zupfte die Alte am Ärmel und schien sie um etwas zu bitten. Jelissej kam näher. Die Luft in der Stube war schlecht und dumpf. Er sah auf der Pritsche hinter dem Ofen ein Weib liegen. Sie lag auf dem Rücken, mit geschlossenen Augen, röchelte und zuckte mit einem Beine. Sie wand sich in Krämpfen, und der üble Geruch schien von ihr auszugehen; sie lag in ihrem eigenen Unrat, und es war niemand da, der sie umbetten könnte. Die Alte hob den Kopf und erblickte den fremden Mann.
»Was willst du? Wir können dir nichts geben, denn wir haben selbst nichts.«
Obwohl sie kleinrussisch sprach, konnte sie Jelissej doch verstehen. Er ging auf sie zu und sagte:
»Ich will nur um Wasser bitten, Magd Gottes.«
»Niemand kann dir hier Wasser geben. Bei uns ist nichts zu holen. Geh weiter!«
Jelissej fragte:
»Ist denn niemand da, der die kranke Frau umbetten könnte?«
»Niemand. Der Bauer stirbt auf dem Hofe und wir hier.«
Als der Knabe den Fremden sah, hörte er zu weinen auf. Als aber die Alte zu sprechen begann, zupfte er sie wieder am Ärmel, weinte und bat:
»Brot, Großmutter, gib Brot!«
Jelissej wollte die Alte weiter ausforschen, in diesem Augenblicke kam aber der Bauer, wankend wie ein Betrunkener, in die Stube. Er tastete sich an der Wand entlang und wollte sich auf die Bank setzen; er setzte sich daneben und fiel zu Boden. Er versuchte gar nicht aufzustehen und begann zu sprechen: er sprach abgerissen und holte nach jedem Worte Atem.
»Die Krankheit hat uns befallen, und hungrig sind wir auch. Das Kind da stirbt vor Hunger.«
Der Bauer zeigte mit einer schwachen Kopfbewegung auf den Knaben und weinte.
Jelissej schüttelte den Sack auf seinem Rücken, befreite die Arme aus den Riemen, warf den Sack zu Boden, hob ihn dann auf die Bank und begann ihn aufzubinden. Er holte ein Brot und ein Messer hervor, schnitt ein Stück ab und reichte es dem Bauern. Der Bauer nahm es nicht, sondern zeigte auf den Knaben und ein Mädchen, das hinter dem Ofen stand, damit er es ihnen gäbe. Jelissej gab das Stück dem Knaben. Als der Knabe das Brot sah, griff er mit beiden Händchen zu, steckte das ganze Gesicht ins Brot und begann gierig zu essen. Hinter dem Ofen kam das Mädchen hervor und starrte unverwandt auf das Brot. Jelissej gab auch ihr. Er schnitt noch eine Scheibe ab und gab sie der Alten. Auch die Alte begann zu kauen.
»Wenn wir auch noch einen Schluck Wasser haben könnten!« sagte sie. »Uns allen ist der Mund eingetrocknet. Ich wollte gestern oder heute – ich weiß es nicht mehr genau – Wasser holen. Es gelang mir wohl, den Eimer aus dem Brunnen herauszuziehen, ich konnte ihn aber nicht ins Haus tragen. Ich schüttete alles aus und fiel auch selbst hin. Mit großer Mühe schleppte ich mich ins Haus. Der Eimer liegt wohl auch jetzt noch an jener Stelle, wenn ihn nicht jemand fortgetragen hat.«
Jelissej fragte, wo der Brunnen sei, und die Alte erklärte es ihm. Er ging hin, fand den Eimer, brachte Wasser und gab den Leuten zu trinken. Die Kinder aßen noch etwas Brot und tranken dazu Wasser; auch die Alte aß, doch der Bauer wollte nicht essen. Er sagte: »Es ekelt mich vor dem Essen.« – Die Kranke lag noch immer bewußtlos auf ihrem Lager und warf sich hin und her. Jelissej ging ins Dorf zum Krämer und kaufte Hirse, Salz, Mehl und Butter; dann suchte er das Beil auf, hackte Holz und machte Feuer. Das Mädchen half ihm dabei. Er kochte Suppe und Brei und gab den Leuten zu essen.
Der Bauer aß jetzt auch mit; die Alte aß, die Kinder leckten die ganze Schüssel aus und legten sich umschlungen schlafen.
Der Bauer und die Alte erzählten nun Jelissej, wie sie in diese Lage geraten waren.
»Wir lebten auch bis dahin dürftig. Als aber die Mißernte kam, verzehrten wir noch im Herbste alles, was wir hatten. Und als wir nichts mehr hatten, baten wir die Nachbarn und Wohltäter um Hilfe. Anfangs gab man uns noch, dann hörte es aber auf. Viele, die uns gerne etwas gegeben hätten, hatten selbst nichts. Auch schämten wir uns, bei den Leuten zu bitten: wir schuldeten überall Geld, Mehl und Brot.«
Der Bauer erzählte: »Ich suchte Arbeit, fand aber keine. In der ganzen Gegend verdingen sich die Bauern als Arbeiter für das Brot allein. Einen Tag arbeitet man, und zwei Tage muß man neue Arbeit suchen. Nun gingen die Alte und das Mädchen betteln. Sie bekamen nur wenig Almosen, denn die meisten hatten nicht einmal Brot. Wir schlugen uns aber noch immerhin durch und glaubten, bis zur neuen Ernte irgendwie auskommen zu können. Doch im Frühjahr gab uns kein Mensch mehr Almosen. Auch befiel uns noch die Krankheit. Nun waren wir ganz schlimm daran. Wir aßen einen Tag und hungerten zwei Tage. Wir begannen Gras zu essen. Von dieser Nahrung, oder auch von etwas anderem, wurde meine Frau krank. Die Frau liegt, und auch ich bin so schwach, daß ich kaum gehen kann.«
»Nun mußte ich alles allein machen,« sagte die Alte. »Ich hielt es aber nicht lange aus, denn vor Hunger verlor ich die letzten Kräfte. Auch das Mädchen ist schwach und scheu geworden. Wir wollten sie zu den Nachbarn schicken, sie ging aber nicht hin. Sie verkroch sich in die Ecke und wollte nicht heraus. Vorgestern schaute eine Nachbarin herein; als sie aber sah, daß wir alle hungrig und krank sind, ging sie wieder weg. Ihr Mann ist fortgegangen, und sie hat selbst nichts, womit sie ihre kleinen Kinder ernähren könnte. So lagen wir da und warteten auf den Tod.«
Als Jelissej solche Reden hörte, entschloß er sich, bei den Leuten über Nacht zu bleiben und den Genossen erst am nächsten Tage einzuholen. Am nächsten Morgen machte er sich an die Arbeit, als ob er selbst Herr im Hause wäre. Er half der Alten Brotteig bereiten, heizte den Herd und ging mit dem Mädchen zu den Nachbarn, um sich das Notwendigste zu verschaffen. Die Leute hatten ihren ganzen Besitz, wie die Wirtschaftsgeräte so auch die Kleider, verkauft und verzehrt; sie hatten nichts im Hause. Jelissej schaffte nun die nötigsten Sachen an; manches machte er mit eigenen Händen, und manches kaufte er. So verging ein Tag und der andere; drei Tage war Jelissej bei den Leuten. Der Knabe hatte sich etwas erholt und begann auf der Bank umherzukriechen und sich an Jelissej zu schmeicheln. Das Mädchen war ganz lustig geworden und half ihm in allen Arbeiten. Sie folgte Jelissej auf Schritt und Tritt und redete ihn mit »Großväterchen« an. Als die Alte sich wieder bewegen konnte, ging sie zur Nachbarin. Der Bauer ging in der Stube umher, mußte sich aber noch immer an den Wänden entlang tasten. Nur die kranke Frau blieb noch liegen; am dritten Tage kam sie aber zu sich und verlangte zu essen. Als die Leute so weit waren, sagte sich Jelissej: »Ich habe wirklich nicht geglaubt, daß ich mich hier so lange aufhalten würde; nun ist's Zeit, daß ich weitergehe.«
Doch als er am vierten Tage aufbrechen wollte, überlegte er sich: »Die Petrifasten gehen zu Ende; nun will ich mit den Leuten das Fastenende feiern, ihnen etwas zum Feste kaufen und am Abend weitergehen.« Jelissej ging wieder zum Krämer und kaufte Weizenmehl, Milch und Speck. Er half der Alten backen und kochen; am nächsten Morgen ging er zur Messe, kam aus der Kirche heim und aß mit den Leuten die für das Fest bereiteten Speisen. An diesem Tage stand auch die kranke Frau auf und begann umherzugehen. Der Bauer rasierte sich, zog sich ein sauberes Hemd an – die Alte hatte es ihm gewaschen – und ging ins Dorf zum reichen Bauern, um sein Herz zu erweichen: er hatte diesem Bauern seinen Heuschlag und Ackergrund verpfändet, nun ging er ihn bitten, ob er ihm nicht beides bis zur neuen Ernte zurückgeben würde. Am Abend kam er niedergeschlagen zurück und begann zu weinen. Der Reiche hatte ihm die Gefälligkeit nicht erweisen wollen und hatte gesagt: Bringe erst das Geld, dann kannst du alles haben.
Jelissej wurde wieder nachdenklich und sagte sich: »Wie sollen nun die Leute weiterleben? Wenn alle anderen zum Heuen gehen, müssen sie zu Hause bleiben, denn ihr Heuschlag ist verpfändet. Wenn das Korn reif wird und die Leute es schneiden werden – das Korn ist ja heuer so gut gediehen! – können sie nicht mit, denn auch ihr Acker ist dem reichen Bauern verpfändet. Wenn ich sie jetzt verlasse, werden sie wieder herunterkommen.« – Jelissej änderte wieder seinen Entschluß; er ging nicht am Abend, sondern blieb noch bis zum nächsten Morgen. Die letzte Nacht verbrachte er auf dem Hofe. Er sprach sein Nachtgebet, legte sich nieder, konnte aber nicht einschlafen. Er mußte doch endlich fort, denn er hatte schon viel Zeit verloren und viel Geld vertan; doch taten ihm auch die Leute leid. »Alle Armen kann man doch wirklich nicht versorgen!« sagte er sich. »Ich wollte ihnen anfangs nur Wasser bringen und etwas Brot geben; nun kostet mich die Sache viel mehr. Jetzt bin ich so weit, daß ich ihnen ihren Heuschlag und Acker auslösen muß. Und ist das geschehen, muß ich auch den Kindern eine Milchkuh und dem Bauern einen Arbeitsgaul kaufen. Du hast dich zu sehr verwickelt, lieber Jelissej Kusmitsch! Nun hast du jeden Halt verloren und treibst wie ein Schiff ohne Anker.«
Jelissej stand auf, holte aus der Tasche des Kaftans, den er sich unter den Kopf gelegt hatte, seine Schnupftabaksdose hervor und nahm eine Prise. Er glaubte, daß seine Gedanken davon klarer werden würden, dies trat aber nicht ein: er dachte lange hin und her und konnte keinen Ausweg finden. Er mußte fort, doch auch die Leute taten ihm leid. Und er wußte nicht, was er anfangen sollte. Er legte sich den Kaftan wieder unter den Kopf und versuchte einzuschlafen. Als die ersten Hähne krähten, kam ihm der Schlaf. Plötzlich war es ihm, als ob ihn jemand geweckt hätte. Er sah sich selbst ganz reisefertig mit dem Sack auf dem Rücken und dem Stock in der Hand vor dem Tore stehen. Das Tor stand aber nur so weit offen, daß er noch gerade durchschlüpfen konnte. Und als er durchs Tor ging, hakte sich der Sack an einem Torflügel fest. Und als er ihn losmachen wollte, verfing sich ein Fußlappen am Zaune, und der Fußlappen löste sich. Und wie er den Fuß losmachen wollte, sah er, daß er sich nicht am Zaune verfangen hatte, sondern daß das kleine Mädchen ihn festhielt und rief: »Großväterchen, Großväterchen, gib Brot!« Am Fuße hielt ihn aber der Knabe fest, und aus dem Hause blickten die Alte und der Bauer heraus.
Als Jelissej erwachte, sagte er laut zu sich selbst: »Ich werde morgen den Heuschlag und den Acker auslösen und den Leuten ein Pferd und eine Kuh kaufen. Wenn ich übers Meer gehe, um den Heiland zu suchen, kann ich ihn leicht in mir selbst verlieren. Es ist wohl besser, wenn ich die Leute versorge.«
Jelissej schlief wieder ein. Als er frühmorgens erwachte, ging er sofort zu dem reichen Bauern, gab ihm Geld und löste Heuschlag und Acker aus. Dann kaufte er eine Sense – denn die Leute besaßen nicht einmal eine Sense – und brachte sie heim. Er schickte den Bauern mit der Sense zum Heuen und ging wieder ins Dorf. Beim Schenkwirt stand gerade ein Pferd mit Wagen zum Verkauf. Er machte mit dem Wirt den Preis aus und ging weiter, um auch noch eine Kuh zu kaufen. Unterwegs holte er zwei Dorfweiber ein. Und Jelissej hörte, daß sie über ihn sprachen. Eine der Bäuerinnen erzählte:
»Anfangs wußten sie gar nicht, was für ein Mensch er ist; sie glaubten, er sei ein gewöhnlicher Pilger. Wie sie sagen, war er zu ihnen gekommen, um einen Schluck Wasser zu trinken; ist aber dann bei ihnen wohnen geblieben. Sie sagen, er hätte ihnen alles gekauft. Ich habe es mit eigenen Augen gesehen, wie er beim Schenkwirt Pferd und Wagen kaufte. Gibt es doch noch solche Menschen auf der Welt! Ich will hingehen und ihn mir anschauen.«
Als Jelissej hörte, daß sie ihn lobten, gab er die Absicht, auch eine Kuh zu kaufen, auf. Er kehrte zu dem Schenkwirt zurück, bezahlte den ausbedungenen Preis, spannte das Pferd vor den Wagen und fuhr zu seinen Leuten. Als sie das Pferd sahen, wunderten sie sich. Sie ahnten, daß er das Pferd für sie gekauft hatte, wagten es aber nicht auszusprechen. Der Bauer kam aus dem Hause, um das Tor aufzumachen.
»Woher hast du das Pferd, Großvater?« fragte er.
»Ich hab's gekauft,« erwiderte Jelissej. »Der Preis war billig. Mähe mir etwas Gras, damit das Pferd zur Nacht Futter hat.«
Der Bauer spannte das Pferd aus, mähte eine Tracht Gras und legte es in die Krippe. Man ging zur Ruhe. Jelissej legte sich wieder draußen schlafen; seinen Sack hatte er noch vor Abend auf den Hof gebracht. Als alle schliefen, stand er auf, band den Sack um, zog Schuhe und Kaftan an und machte sich auf den Weg, Jefim einzuholen.
Als Jelissej etwa fünf Werst gegangen war, begann es zu tagen. Er setzte sich unter einen Baum, band den Sack auf und zählte sein Geld nach. Er hatte nur noch siebzehn Rubel und zwanzig Kopeken. Er dachte sich: »Mit diesem Gelde kann man nicht übers Meer kommen. Und wenn ich mir unterwegs das Geld dazu in Christi Namen zusammenbettele, kann es leicht eine große Sünde werden. Gevatter Jefim wird auch ohne mich hinkommen und für mich eine Kerze anzünden. Ich werde meine Schuld wohl bis zum Tode nicht abtragen. Es ist ein Glück, daß der Gläubiger gütig ist und mich nicht drängt.«
Jelissej stand auf, nahm den Sack auf den Rücken und ging zurück. Er machte einen Bogen ums Dorf, in dem er die letzten Tage verbracht hatte, damit ihn die Leute nicht erblickten. Bald war er zu Hause. Auf dem Hinwege war ihm das Gehen sehr schwer gefallen, und er hatte oft Mühe gehabt, mit Jefim gleichen Schritt zu halten; auf dem Rückwege gab ihm aber Gott solche Kraft, daß er nichts von Müdigkeit spürte. Das Gehen war ihm jetzt wie ein Kinderspiel; er schwenkte vor Lustigkeit seinen Wanderstab und legte oft siebzig Werst an einem Tage zurück.
Als Jelissej zu Hause anlangte, war die Ernte bereits eingebracht. Die Seinigen freuten sich über die Rückkehr des Vaters. Man begann ihn auszufragen, warum er den Gefährten verlassen habe, warum er nach Hause zurückgekehrt sei, ohne das Ziel der Wallfahrt erreicht zu haben. Jelissej verschwieg seine Erlebnisse. Er sagte nur:
»Gott hat es eben anders gewollt. Ich habe unterwegs mein Geld verloren, und der Gefährte ist allein weitergegangen. So bin ich umgekehrt. Verzeiht mir um Christi willen!«
Er gab seiner Alten den Rest des Geldes zurück und fragte sie nach den häuslichen Angelegenheiten: alles war in Ordnung, die Wirtschaft war aufs beste besorgt, und sie lebten alle in Frieden und Eintracht.
Jefims Angehörige erfuhren noch am gleichen Tage von Jelissejs Heimkehr; sie kamen zu ihm, um sich nach ihrem Alten zu erkundigen.
»Euer Alter ist gesund und rüstig weitergegangen. Wir trennten uns drei Tage vor Peter und Paul; ich wollte ihn anfangs einholen, aber ich hatte das Unglück, mein ganzes Geld zu verlieren, so daß ich nichts hatte, um weiterzugehen. Daher bin ich umgekehrt.«
Die Leute wunderten sich: ein so kluger Mann hatte sich so dumm angestellt! Er war fortgegangen und nicht ans Ziel gekommen, hatte nur sein Geld verloren. Sie wunderten sich darüber und vergaßen es mit der Zeit. Auch Jelissej vergaß es. Er ging wieder an die häuslichen Arbeiten: er besorgte mit Hilfe des Sohnes Holz für den ganzen Winter, drosch mit den Weibern das Korn, brachte an den Scheunen neue Dächer an und versorgte seine Bienen. Zehn Bienenstöcke samt Zuzucht gab er dem Nachbarn. Seine Alte wollte ihm verheimlichen, wieviel neue Schwärme sich von den verkauften Bienenstöcken abgeteilt hatten; Jelissej wußte aber selbst, welche Bienenstöcke in der Zeit seiner Abwesenheit neue Schwärme abgelegt hatten; und er gab dem Nachbarn statt zehn Stöcke – siebzehn. Als die ganze Arbeit besorgt war, schickte er den Sohn auf Arbeit und setzte sich selbst hin, Bastschuhe zu flechten und Bienenstöcke auszuhöhlen.
Als Jelissej bei den Kranken zurückgeblieben war, hatte Jefim auf ihn den ganzen Tag gewartet. Er ging nur eine kurze Strecke weiter und setzte sich am Straßenrande nieder; er wartete und wartete, schlief ein, wachte auf, saß noch eine Weile – doch der Gefährte war noch immer nicht da. Er guckte sich die Augen nach ihm aus. Die Sonne ging unter – Jelissej war noch immer nicht da.
Jefim dachte sich: »Ist er vielleicht an mir vorbeigegangen oder vorbeigefahren (wenn ihn jemand aus Gefälligkeit auf den Wagen genommen hat), während ich schlief, und hat mich nicht bemerkt? Er hätte mich aber doch sehen müssen! In der Steppe sieht man weit. Wenn ich jetzt zurückgehe, kann er inzwischen noch weiter vorwärtskommen. Und wenn wir uns verfehlen, ist es noch schlimmer. Ich will lieber weitergehen und in dem nächsten Nachtquartier auf ihn warten.«
Er kam ins Dorf und bat den Schulzengehilfen, falls ein kleiner Greis mit großer Glatze ins Dorf käme, so möchte er ihn sofort zu ihm führen. Jelissej kam aber nicht ins Dorf. Jefim ging weiter und erkundigte sich unterwegs bei allen Leuten, ob sie nicht einen alten Mann mit einer Glatze gesehen hätten. Niemand hatte ihn gesehen. Jefim wunderte sich darüber und ging allein weiter. Er meinte, daß er Jelissej in Odessa oder auf dem Schiffe treffen würde, und machte sich weiter keine Gedanken.
Unterwegs schloß sich ihm ein Pilger an. Der Pilger trug Käppchen und Kutte und hatte langes Haar, wie ein Geistlicher. Wie er behauptete, war er auf dem heiligen Berge Athos gewesen und pilgerte schon zum zweiten Male nach Jerusalem. Sie trafen sich in einer Herberge, kamen ins Gespräch und gingen zusammen weiter.
Frisch und wohlgemut kamen sie nach Odessa. Hier mußten sie drei Tage auf den Abgang des Schiffes warten. Mit ihnen warteten noch viele andere Pilger, die aus den verschiedensten Gegenden zusammengekommen waren. Jefim erkundigte sich bei jedem nach Jelissej, doch niemand hatte ihn gesehen.
Der Pilger belehrte Jefim, wie man die Seereise ohne Bezahlung machen könne. Jefim wollte aber auf ihn nicht hören und sagte:
»Ich will lieber für die Überfahrt ehrlich bezahlen; dazu habe ich ja auch das Geld gespart.«
Er bezahlte vierzig Rubel für die Fahrt hin und zurück und kaufte sich Brot und Heringe für die Reise. Als das Schiff beladen war, brachte man auch die Pilger an Bord. Auch Jefim und sein neuer Begleiter schifften sich ein. Man lichtete die Anker und das Schiff fuhr ins offene Meer. Am ersten Tage ging die Reise sehr gut; gegen Abend erhob sich aber ein Wind, es begann zu regnen, das Schiff schaukelte hin und her, und manche Welle schlug über Bord. Das Volk wurde unruhig, die Weiber heulten, und auch manche Männer, die nicht sehr tapfer waren, liefen erschrocken auf dem Schiffe hin und her und suchten sich in Sicherheit zu bringen. Auch Jefim war erschrocken, wollte es aber nicht zeigen: er saß die ganze Nacht und den ganzen folgenden Tag auf der gleichen Stelle, wo er sich gleich beim Betreten des Schiffes hingesetzt hatte. Neben ihm saßen mehrere alte Männer aus der Gegend von Tambow. Er hielt sein Gepäck fest in den Händen und sprach kein Wort. Am dritten Tage wurde es still; am fünften Tage legte das Schiff in Konstantinopel an. Einige Pilger gingen ans Land, um den Tempel der heiligen Sophia, in dem jetzt die Türken hausen, zu sehen. Jefim ging aber nicht mit und blieb auf dem Schiffe sitzen. Das Schiff lag vor Konstantinopel einen Tag und eine Nacht und fuhr dann weiter. Es hielt noch vor Smyrna und vor Alexandrien und erreichte glücklich die Hafenstadt Jaffa. In Jaffa mußten alle Pilger aussteigen und die siebzig Werst bis Jerusalem zu Fuß zurücklegen. Die Ausschiffung machte den Pilgern große Angst: das Schiff war hoch, und die Pilger mußten vom Bord in ein Boot springen; das Boot schaukelte aber hin und her, und man konnte leicht ins Wasser fallen. Zwei Pilger wurden auch ordentlich durchnäßt, alle kamen aber wohlbehalten ans Land. Man ging zu Fuß weiter und erreichte am vierten Tage Jerusalem. Sie kehrten im russischen Hospiz vor den Toren der Stadt ein, wiesen ihre Pässe vor und aßen zu Mittag. Dann begab sich Jefim, vom Pilger geführt, zu den heiligen Stätten. Das Grab des Herrn konnte man um diese Stunde noch nicht besichtigen. Sie gingen zuerst zur Messe ins Patriarchenkloster, beteten und opferten Kerzen. Die Auferstehungskirche, in der sich das Grab des Herrn befindet, sahen sie nur von außen. Die Kirche ist von allen Seiten so verbaut, daß man sie kaum sehen kann. Sie besuchten die Zelle der ägyptischen Maria, in der sie ihr Seelenheil suchte. Sie stellten Kerzen auf und ließen einen Dankgottesdienst abhalten. Sie wollten noch die Messe am Heiligen Grabe hören, kamen aber zu spät. Sie gingen in das Abrahamskloster und sahen den Garten und die Stätte, wo Abraham seinen Sohn dem Herrn opfern wollte. Dann besuchten sie die Stätte, wo Christus der Maria Magdalena erschienen war, und die Kirche Jakobs, des Bruders des Herrn. Der Pilger zeigte Jefim alle heiligen Stätten und sagte ihm überall, wieviel Geld er opfern und wieviel Kerzen er aufstellen sollte. Als sie ins Hospiz zurückgekehrt waren und sich zur Ruhe begaben, begann der Pilger plötzlich zu ächzen und alle seine Kleider zu durchsuchen. Er jammerte:
»Man hat mir mein Portemonnaie gestohlen. Dreiundzwanzig Rubel waren darin: zwei Zehnrubelscheine und drei Rubel in Kleingeld.«
Der Pilger jammerte noch lange. Es war ihm aber nicht zu helfen, und alle legten sich schlafen.
Auch Jefim legte sich schlafen. Ihn überkamen aber sündige Gedanken. Er sagte sich: »Man hat dem Pilger nichts gestohlen. Er hat wohl gar kein Geld gehabt. Denn nirgends hat er gezahlt. Mich hat er überall zahlen lassen, selbst hat er keinen Heller ausgelegt und hat von mir sogar einen Rubel geliehen.«
Und wie er so denkt, beginnt er sich Vorwürfe zu machen: »Was soll ich den Menschen verdächtigen? Es ist eine große Sünde. Ich will lieber gar nicht daran denken.«
Er muß aber immer wieder denken, wie der Pilger auf sein Geld schielte und wie unwahrscheinlich es klang, als er erzählte, man hätte ihm sein Portemonnaie gestohlen. Und er sagt sich wieder: »Er hat sicher kein Geld gehabt. Es ist Schwindel.«
Am nächsten Morgen gingen sie in die große Auferstehungskirche, zur Frühmesse am Heiligen Grabe. Der Pilger schloß sich gleich wieder Jefim an.
Sie kamen zum Tempel. Draußen stand eine große Menge von Pilgern: Russen waren dabei und noch verschiedene andere Völker – Griechen, Armenier, Türken und Syrer. Unendlich schien ihre Zahl. Jefim ging, von der Menge geschoben, durch die Heilige Pforte an der türkischen Wache vorbei zu jener Stelle, wo Christus vom Kreuze genommen und gesalbt wurde; neun große Leuchter mit brennenden Kerzen stehen an dieser Stelle. Jefim opferte eine Kerze. Der Pilger führte ihn dann rechts die Stufen hinauf nach Golgatha zu jener Stelle, wo das Kreuz gestanden, und Jefim verrichtete hier ein Gebet; dann zeigte man ihm die Spalte, wo die Erde sich bis zur Unterwelt aufgetan hatte, und die Stätte, wo man Christus ans Kreuz geschlagen. Man zeigte ihm Adams Grab, wo das Blut Christi auf seine Gebeine floß. Dann kamen sie zum Stein, wo Christus gesessen, als man ihn mit der Dornenkrone krönte; dann zum Pfahl, an welchen er gebunden war, als man ihn geißelte. Jefim sah auch den Stein mit den zwei Löchern für die Füße des Heilands. Man wollte ihm noch etwas zeigen, doch das Volk eilte zur Grabkapelle, wo eben eine andersgläubige Messe zu Ende war und die rechtgläubige begann. Auch Jefim kam mit dem Volke in die Grabkapelle. Er wollte gerne den Pilger loswerden, denn die sündhaften Gedanken verfolgten ihn noch immer; der Pilger folgte ihm aber auf Schritt und Tritt und stand nun auch in der Grabkapelle an seiner Seite. Sie wollten sich vordrängen, es gelang ihnen aber nicht mehr: das Gedränge war so groß, daß sie weder vorwärts noch rückwärts konnten. Und wie Jefim so steht, nach vorne schaut und betet, tastet er jeden Augenblick nach seinem Geldbeutel. Er denkt zweierlei: erstens denkt er, daß der Pilger ihn betrogen hat; wenn der Pilger aber nicht lügt und die Sache mit dem Portemonnaie stimmt, könnte es auch ihm so gehen.
Jefim steht mitten im Gedränge, betet und blickt nach vorne in die Kapelle, wo das Heilige Grab ist und über dem Grabe sechsunddreißig Lampen brennen. Jefim steht so da, blickt über die Köpfe hinweg, und welch ein Wunder! Vor allen Pilgern, gerade unter den Lampen, steht ein kleiner alter Mann in einem Kaftan aus grobem Tuch; seine große Glatze leuchtet über den ganzen Kopf, ganz wie bei Jelissej Bodrow. »Er sieht wirklich ganz wie Jelissej aus,« denkt er sich. »Jelissej aber kann es nicht sein. Er kann unmöglich vor mir nach Jerusalem gekommen sein. Das letzte Schiff war von Odessa acht Tage vor dem unsrigen abgegangen. Mit diesem Schiffe kann er unmöglich gekommen sein. Auf unserem Schiffe war er aber sicher nicht gewesen. Ich habe ja alle Pilger gesehen.«
Kaum hatte sich Jefim dies gesagt, als das Männchen zu beten begann. Es verneigte sich dreimal: einmal nach vorne vor dem Herrn und dann nach rechts und nach links vor der rechtgläubigen Christenheit. Und als es den Kopf nach rechts wendete, erblickte Jefim wirklich seinen Freund Jelissej Bodrow. Er erkannte seinen schwärzlichen, krausen Bart, der an den Wangen leicht ergraut war, seine Augenbrauen, Augen und Nase und das ganze Gesicht – es war leibhaftig Jelissej Bodrow.
Jefim freute sich, daß er seinen Gefährten wiedergefunden hatte, und wunderte sich zugleich, daß Jelissej vor ihm angelangt war.
»Ei, Bodrow, wie er nur so ganz nach vorne geraten ist!« denkt er sich. »Er hat sich wohl irgendeinem geschickten Menschen angeschlossen, der ihn nach vorne geführt hat. Am Ausgange will ich ihn treffen. Meinen Pilger mit dem Käppchen lasse ich laufen und schließe mich an Jelissej an. Er wird mich sicher besser führen.«
Jefim paßte also auf, um Jelissej nicht aus den Augen zu verlieren. Die Messe war zu Ende, das Volk drängte sich vor, um das Heiligtum zu küssen, und Jefim wurde dabei zur Seite geschoben. Wieder überkam ihn die Angst um seinen Geldbeutel. Jefim hielt die Hand immer auf dem Beutel und gab sich Mühe, aus dem Gedränge ins Freie zu kommen. Er kam ins Freie, ging überall umher und suchte Jelissej; er fand ihn aber nicht. Nach der Messe besuchte Jefim alle Hospize, konnte ihn aber nirgends finden. An diesem Abend kam auch der Pilger nicht mehr heim. Er war verschwunden und hatte auch den geliehenen Rubel nicht zurückgegeben. Jefim blieb allein.
Am nächsten Tage ging Jefim wieder zum Grabe des Herrn in Gesellschaft eines alten Mannes aus Tambow, mit dem er auf dem Schiffe zusammen gewesen war. Er wollte in die vorderste Reihe kommen, man drängte ihn aber wieder zurück. Er stand an einer Säule und betete. Und wie er nach vorne blickt, sieht er wieder dicht am Heiligen Grabe unter den Lampen Jelissej stehen. Er hat die Arme ausgebreitet, wie ein Priester am Altare, und seine Glatze leuchtet über den ganzen Kopf. »Nun,« denkt Jefim, »diesmal werde ich ihn nicht aus den Augen lassen.« Er zwängte sich durch und kam in die vorderste Reihe. Jelissej war aber nicht mehr da.
Auch am dritten Tage geht Jefim zur Messe, und wieder sieht er an der heiligen Stätte Jelissej stehen; er hat die Arme ausgebreitet und blickt nach oben, als ob er etwas über sich sähe. Und seine Glatze leuchtete über den ganzen Kopf. »Nun,« denkt sich Jefim, »jetzt wird er mir ganz gewiß nicht entwischen. Ich will mich beim Ausgang aufstellen und ihn abfangen. Wir können uns dabei unmöglich verfehlen.« Jefim stand beim Ausgange, das ganze Volk ging an ihm vorbei, Jelissej war aber nicht darunter.
Jefim verbrachte sechs Wochen in Jerusalem und besuchte alle heiligen Stätten: Bethlehem, Bethanien und den Jordan; am Grabe Christi ließ er sich ein Siegel auf ein neues Hemd, in dem man ihn dereinst begraben sollte, aufdrücken. Er nahm auch ein Fläschchen Jordanwasser mit, auch Erde und Kerzen von den heiligen Stätten, gab sein ganzes Geld aus und behielt sich nur so viel, wie die Heimreise kostete. Und Jefim trat seinen Rückweg an. Er ging nach Jaffa, fuhr zu Schiff nach Odessa und ging von dort zu Fuß nach Hause.
Jefim ging den gleichen Weg wie auf der Hinreise. Und wie er sich der Heimat näherte, befiel ihn die Sorge, wie die Seinigen wohl ohne ihn leben mochten. »In einem Jahre«, denkt er sich, »fließt viel Wasser. Sein ganzes Leben lang richtet man sich sein Hauswesen ein, und nichts ist leichter, als es in einem Jahre zugrunde zu richten. Wie mag wohl der Sohn gewirtschaftet haben? Wie war das Frühjahr ausgefallen, wie hat das Vieh den Winter überstanden, wie ist das neue Haus geraten?« Jefim kam in die Gegend, wo er im vorigen Jahre Jelissej aus den Augen verloren hatte. Die Leute konnte man gar nicht wiedererkennen. Wer im vorigen Jahre hungerte, lebte jetzt ohne Sorgen. Die Ernte war gut geraten, die Leute waren wieder auf die Beine gekommen und schienen das frühere Unglück vergessen zu haben. Gegen Abend erreichte Jefim das nämliche Dorf, wo er sich von Jelissej getrennt hatte. Kaum war er im Dorfe, als aus einem Hause ein Mädchen im weißen Hemd herauslief und ihm zurief:
»Großvater, Großvater, kehre doch bei uns ein!«
Jefim wollte weitergehen, doch das Mädchen ergriff ihn an den Schößen des Kaftans und zog ihn lachend zum Hause.
An der Haustüre erschien eine Frau mit einem Knaben; sie winkten ihm und luden ihn ein:
»Kehre bei uns ein, Großvater! Du kannst mit uns zu Abend essen und bei uns übernachten.«
Jefim kehrte ein. Er wollte bei dieser Gelegenheit sich nach Jelissej erkundigen: es war dasselbe Haus, in das er ging, um zu trinken. Jefim trat in die Stube, die Frau half ihm den Sack vom Rücken nehmen, brachte ihm Wasser zum Waschen und wies ihm einen Platz am Tische an. Sie brachte Milch herbei, Kuchen und Grütze und setzte alles auf den Tisch. Jefim bedankte sich und lobte die Leute, daß sie so gastfreundlich die Pilger empfingen.
Die Frau schüttelte den Kopf und sagte:
»Wir müssen wohl freundlich zu jedem Pilger sein. Denn ein Pilger hat uns den Weg zum Leben gezeigt. Wir lebten in Sünden, und Gott hat uns dafür so gestraft, daß wir nur noch auf den Tod warteten. Im vorigen Sommer lagen wir alle krank vor Hunger. Es wäre um uns geschehen gewesen, aber Gott schickte uns einen alten Mann, wie du. Eines Tages kam er zu uns, nur um zu trinken; als er uns aber sah, erbarmte er sich unser und blieb bei uns. Er gab uns zu trinken und zu essen, brachte unser Hauswesen instand, löste das verpfändete Land aus, kaufte Pferd und Wagen und ließ sie uns zurück.«
In die Stube kam eine Alte und unterbrach die Frau:
»Wir wissen selber nicht, ob es ein Mensch oder ein Engel Gottes war. Alle liebte er, alle bemitleidete er. Und er ging fort, ohne uns etwas davon zu sagen. Wir wissen nicht, für wen wir zu Gott beten sollen. Ich sehe es noch so deutlich vor mir: ich liege da, warte auf den Tod, und plötzlich kommt ein einfacher alter Mann mit einer Glatze herein und bittet um einen Trunk. Ich Sünderin dachte mir noch: was treiben sich die Leute herum? – Was tat aber er? – Als er uns sah, nahm er gleich den Sack ab, setzte ihn hier an dieser Stelle hin, band ihn auf . . .«
Das Mädchen unterbrach die Alte:
»Nein, Großmutter, er hat den Sack erst mitten in der Stube hingesetzt und dann auf die Bank gehoben.«
Und sie begannen zu streiten und gedachten aller seiner Handlungen und Worte: wo er geschlafen, was er getan, wie und zu wem er gesprochen.
Zur Nacht kam auch der Bauer mit dem Pferde heim. Auch er erzählte von Jelissej und wie er bei ihnen gewohnt hatte.
»Wäre er nicht zu uns gekommen,« sagte er, »so würden wir wohl alle in unseren Sünden gestorben sein. Wir waren verzweifelt und sahen den Tod vor Augen, murrten auf Gott und die Menschen. Er hat uns aber wieder auf die Beine geholfen, und durch ihn haben wir Gott erkannt und den Glauben an gute Menschen gewonnen. Möge ihm Christus seine Gnade erweisen! Früher lebten wir dahin wie das liebe Vieh, und er hat uns zu Menschen gemacht.«
Die Leute gaben Jefim zu essen und zu trinken, wiesen ihm ein Nachtlager an und legten sich auch selbst schlafen.
Wie Jefim so liegt, muß er immer an Jelissej denken, den er zu Jerusalem dreimal am Heiligen Grabe gesehen hat.
»In diesem Hause,« denkt er sich, »hat er mich überholt. Ob mein Opfer im Himmel angenommen ist oder nicht, weiß ich nicht; doch sein Opfer hat der Herr sicher angenommen.«
Am Morgen verabschiedete sich Jefim von den Leuten. Sie gaben ihm Kuchen auf die Reise und gingen an ihre Arbeit. Und Jefim brach auf und setzte seinen Weg fort.
Jefim war genau ein Jahr ausgeblieben. Als er nach Hause kam, war wieder Frühjahr.
Er erreichte sein Haus gegen Abend. Der Sohn war nicht zu Hause: er saß in der Schenke. Als er später angeheitert nach Hause kam, begann ihn Jefim auszufragen. Jefim merkte sofort, daß der Sohn übel gewirtschaftet hatte: das Geld hatte er vertan und alle Geschäfte vernachlässigt. Der Vater machte ihm Vorwürfe, und der Sohn wurde grob.
»Du hättest doch selbst«, sagte der Sohn, »alles machen sollen. Du bist aber auf die Reise gegangen und hast das ganze Geld mitgenommen. Und jetzt willst du noch von mir Rechenschaft darüber!«
Der Alte geriet in Zorn und verprügelte den Sohn.
Am nächsten Morgen begab sich Jefim Tarassytsch zum Schulzen, um seinen Paß abzuliefern. Wie er an Jelissejs Haus vorbeigeht, sieht er Jelissejs Alte vor dem Hause stehen. Sie begrüßte ihn:
»Gott zum Gruß, Gevatter! Bist du glücklich zurückgekehrt?«
Jefim Tarassytsch blieb stehen und antwortete:
»Meine Reise ist, Gott sei Dank, glücklich gewesen, habe aber unterwegs deinen Alten verloren. Nun höre ich, daß er allein nach Hause zurückgekehrt ist.«
Die Alte war sehr gesprächig, und sie begann zu erzählen:
»Längst ist er zurückgekehrt, Wohltäter. Es wird wohl bald nach Mariä Himmelfahrt gewesen sein. Wir freuten uns sehr, als Gott ihn wieder heimbrachte. Denn ohne ihn war es so traurig bei uns. Er kann zwar nicht mehr viel arbeiten, denn seine besten Jahre sind dahin. Aber immerhin ist er das Haupt im Hause, und mit ihm ist es viel lustiger. Und wie sich unser Sohn gefreut hat! Ohne ihn, sagte er, ist es genau so wie ohne Licht in den Augen. Wenn er nicht zu Hause ist, Freundchen, freut uns das Leben nicht, denn wir lieben ihn und hängen an ihm.«
»Nun, ist er jetzt zu Hause?«
»Zu Hause, Freund, er ist im Bienengarten, er schart die Schwärme zusammen. Der Schwarm ist heuer gut, sagt er. Gott hat heuer den Bienen solche Kraft gegeben, wie es der Alte noch nie gesehen hat. Gott hat wohl gar nicht an unsere Sünden gedacht, als er uns solche Gnade erwies, sagt er. Komm herein, Freund, wie wird sich der Alte freuen!«
Jefim geht durch den Flur und den Hof in den Bienengarten zu Jelissej. Er kommt in den Garten und sieht: Jelissej steht ohne Netz und ohne Handschuhe im grauen Kaftan unter einer Birke, hat seine Arme ausgebreitet und schaut nach oben, und seine Glatze leuchtet über den ganzen Kopf; genau so hatte er zu Jerusalem am Grabe des Herrn gestanden; und wie in Jerusalem die Lampen, leuchtet über ihm durch das Laub der Birke die Sonne; über seinem Haupte schweben goldene Bienen, einen goldenen Kranz bildend, und sie stechen ihn nicht.
Jefim blieb stehen.
Jelissejs Alte rief ihrem Manne zu:
»Dein Gevatter ist zu dir gekommen!«
Jelissej blickte sich um, war sehr erfreut und ging auf den Gevatter zu. Im Gehen nahm er sich vorsichtig einige Bienen aus dem Bart.
»Grüß Gott, Gevatter! Grüß Gott, Freund . . . Wie war die Reise?«
»Meine Füße haben die Reise gemacht; ich habe dir auch Wasser aus dem Jordan mitgebracht. Besuche mich einmal und hole es dir! Ob aber der Herr mein Opfer in Gnade aufgenommen . . .«
»Nun, Gott sei Dank, der Heiland sei uns gnädig . . .«
Jefim schwieg eine Weile, dann fuhr er fort:
»Meine Füße waren in Jerusalem, ob aber auch meine Seele da war, oder ob jemand anderer . . .«
»Es ist Gottes Sache, Gevatter, Gottes Sache.«
»Auf dem Rückwege kehrte ich auch in jenem Hause ein, bei welchem ich dich auf dem Hinwege verloren habe . . .«
Jelissej erschrak und fiel Jefim ins Wort:
»Es ist Gottes Sache, Gevatter, Gottes Sache. Komm doch in die Stube herein, ich will dich mit Honig bewirten.«
Und Jelissej brach das Gespräch ab und begann von häuslichen Angelegenheiten zu sprechen.
Jefim seufzte und sprach nicht mehr von den Leuten im kleinrussischen Dorfe, noch davon, daß er Jelissej in Jerusalem gesehen. Und er begriff, daß Gott einem jeden Menschen eine Steuer auferlegt hat, die mit Liebe und guten Werken bezahlt wird.