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In Tolstois Nachlaß fanden sich neben den erzählenden Schriften zwei größere dramatische Werke vor; das voll endete: »Der lebende Leichnam« Deutsch von Fred M. Balte, Univ.-Bibl. Nr. 5364; von Adolf Heß im Verlage von Schulze & Co., Leipzig. und das unvollendete: »Das Licht leuchtet in der Finsternis ...« Der Titel dieses letzteren Dramas ist dem Evangelium Johannis Kap. 1, Vers 5 entnommen und erhält seinen vollen Sinn durch die zweite Hälfte des Verses: »und die Finsternis hat es sich nicht zu eigen gemacht.« Das Drama umfaßt fünf Aufzüge, deren letzter nur skizziert, nicht ausgeführt ist. Die gründlichste Bearbeitung hat der erste Aufzug erfahren. Begonnen wurde das Werk in den achtziger Jahren; weitergeführt wurde es in den neunziger. Das ist vorläufig alles, was wir über die Entstehung wissen. Wenn einmal der gesamte Nachlaß Tolstois, besonders die Tagebücher, veröffentlicht sein werden, die uns infolge bekannter unglücklicher Verhältnisse noch immer nicht zugänglich sind, werden wir Näheres auch über diese Arbeit erfahren, von deren Existenz bei Lebzeiten des Dichters selbst seine nähere Umgebung nichts wußte. Tolstoi behandelt in diesem Werk – und das erklärt vieles – in bisweilen autobiographischer Form die Kämpfe, die er in seiner Familie durchzufechten hatte; die Zweifel, die ihn überkamen, als er die Wirkung seiner Gedanken auf seine Umgebung beobachtete; den Widerstand, dem er beim Umsetzen der Gedanken in die Tat begegnete, und die Konflikte, die zwischen idealen Bestrebungen und dem realen Leben überall zutage treten. Der wohlhabende russische Gutsbesitzer Sarynzew, der nach dem Evangelium leben, seine Habe an die Armen verteilen, seine Nächsten. wie sich selbst lieben will; der das Christentum nicht als schöne Gedankenrichtung, sondern als praktische Lebensweisheit auffaßt; der die Kirche als schaden bringende Institution verwirft und der Obrigkeit den Gehorsam kündigt – dieser Sarynzew ist Tolstoi selbst. Wir wissen, wie Tolstoi sich bemüht hat, als echter Christ zu leben, wie er gleich Sarynzew seine Habe den Armen geben wollte und, als ihm das nicht gelang, die Besitzung auf den Namen seiner Frau überschreiben ließ; wie er auf dem Felde und in der Werkstatt arbeitete; wie junge, den Militärdienst verweigernde und dafür grausam bestrafte Bauern mit ihm in Briefwechsel standen; wie er Bauern aus dem Gefängnis befreite, und anderes mehr. Über diese Beziehungen zwischen den Vorgängen im Drama und in Tolstois Leben ließe sich noch manches sagen. Wir haben es hier in erster Linie mit dem Drama zu tun. Da fällt zunächst auf, daß Tolstoi in diesem Werk ein Problem behandelt, das gerade unserer Zeit so recht den Stempel aufdrückt. Es ist der Kampf und Ausgleich zwischen arm und reich, in dem sich alle idealen Bestrebungen der Gegenwart vereinen. Tolstoi sucht den Frieden dadurch herbeizuführen, daß er den Reichen auf Grund eigener Erkenntnis freiwillig auf sein Gut verzichten läßt. Aber dieser Verzicht gelingt Sarynzew nur zum Teil, nur für seine Person, nicht für Weib und Kinder. Daraus entstehen neue, unlösbare Konflikte. Hinzu kommen die heftigen Vorwürfe einer Mutter, deren Sohn angeblich durch Sarynzews Lehren ins Verderben gestürzt ist. »Bekehrungsversuche eines Bischofs, den die besorgte Schwägerin verschrieben hat, Abfall eines jungen Geistlichen von der Landeskirche mit baldigem reumütigem Zurückkehren in ihren Schoß usw. Die Katastrophe tritt, nach dem Szenarium, dadurch ein, daß die Mutter des verführten jungen Mannes, als eine Audienz beim Zaren ergebnislos verlaufen ist, Sarynzew ersticht. Diese Katastrophe wirkt, als Faktum, ohne Worte, nach dem sehr auf Innerlichkeit und tiefgreifenden Gedankenaustausch gestellten übrigen Teil des Dramas stark theatralisch. Alles in allem bedeutet Tolstois unvollendet gebliebenes Drama, das dem unbezwinglichen Drange des Dichters, die wichtigsten inneren Erlebnisse und schwersten Seelenkämpfe poetisch darzustellen, entsprungen ist, ein ebenso wichtiges Zeugnis für Tolstois Leben, wie ein starkes Glaubensbekenntnis und erschütterndes Drama eines Propheten und Apostels, der starr wie ein Fels in unsere Zeit hineinragt. Daneben aber mahnt und erinnert es, ohne eine Lösung des sozialen Problems bieten zu wollen, mit größter Kraft und Eindringlichkeit an die Pflichten, die jeder gegen seine Nächsten hat – Pflichten, die kein Gesetz befiehlt und keine Verordnung, sondern nur das eigene Gewissen.
Berlin, 1912.
Dr. Rudolf Heß.