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10.

Um zehn Uhr schloß man im Spital die eisernen Fensterläden und verlöschte das Licht. Nun vergaß man schon die dritte Nacht, im Zimmer, wo Schelga lag, die Läden zu schließen. Jedesmal hatte er die Schwester-Karmeliterin daran erinnert. Er achtete aufmerksam darauf, daß der Riegel, der die beiden Fensterläden verschließen sollte, sorgsam vorgeschoben war.

Im Laufe der letzten drei Wochen hatte sich Schelgas Zustand derart gebessert, daß er tagsüber sein Lager verlassen durfte und sich ans Fenster setzen konnte, wo er den üppigen, dichten Platanenblättern näher war, die schwarzen Drosseln und den Regenbogen über den Wasserstrahlen, die den Rasen befeuchteten, sehen konnte.

Von hier aus überblickte man den ganzen Spitalsgarten, der von einer blinden Mauer umgeben war. Im achtzehnten Jahrhundert stand an dieser Stelle ein Kloster, das während der Revolution vernichtet wurde. Die Mönche liebten keine neugierigen Augen. Die Mauer war hoch und oben glänzten der ganzen Länge nach Flaschenscherben, die im Zement eingekittet waren.

Ueber diese Mauer hätte man nur dann hereinkriechen können, wenn man von der anderen Seite her eine Leiter angelegt hätte. Es waren stille, bourgeoise Straßen, die an das Spital grenzten und die umwohnende Bevölkerung legte sich scheinbar schon um zehn Uhr zu Bette. Trotzdem waren die Straßen grell erleuchtet und unablässig schritten draußen Polizisten auf und ab, so daß selbst die Frage einer Leiter wegfiel.

Wären oben auf der Mauer aber keine Glasscherben, könnte ein geschickter Mensch auch ohne Zuhilfenahme einer Leiter über sie hinwegsteigen. Jeden Morgen betrachtete Schelga, hinter einem Store verborgen, vom Fenster aus diese Mauer, bis an ihr letztes Ende. Nur von dieser Seite her drohte ihm Gefahr. Ein Mensch, den Rolling gesandt hätte, wäre nur von dort her zu erwarten gewesen, nicht aber vom Innern des Spitals aus, das wäre zu augenfällig gewesen. Aber daß dieser Mörder, ob so oder so, erscheinen werde, dessen war Schelga sicher.

Er wollte jetzt nur noch die ärztliche Untersuchung abwarten, um entlassen zu werden. Das war bekannt. Der Arzt pflegte fünfmal wöchentlich zu kommen. Diesmal stellte es sich heraus, daß der Arzt selber erkrankt war. Man erklärte aber Schelga, daß man ihn ohne ärztliche Untersuchung nicht aus dem Spital entlassen könne. Er versuchte gar nicht, dagegen zu protestieren. Er verständigte die Gesandtschaft, man möge ihm von dort das Essen bringen. Das Spitalsessen goß er in eine Wasserleitungsmuschel, das Brot warf er den Drosseln zu.

Es schienen gar keine Anzeichen von Gefahr vorhanden zu sein. Aber Schelga wußte, daß sich Rolling von dem einzigen Zeugen befreien mußte. Vor Aufregung schlief er jetzt fast gar nicht mehr. Die Schwester-Karmeliterin brachte ihm die Zeitungen, und den ganzen Tag über arbeitete er mit der Schere, studierte sorgfältig alle Ausschnitte durch. Chlinow verbot er, ihn im Spital zu besuchen. Wolf war in Deutschland, am Rhein, wo er über den Kampf Rollings gegen die deutschen Anilinwerke Auskünfte einholte.

Als sich Schelga morgens, wie gewöhnlich, dem Fenster näherte, überblickte er wieder den ganzen Garten, trat aber sofort wieder hinter den Vorhang zurück. Er wurde sogar aufgeräumt. Endlich! Im nördlichen Teile des Gartens war von dem Gärtner, halbversteckt unter einer Linde, eine Leiter an die Mauer angelehnt. Ihr oberes Ende stand ungefähr dreißig Zentimeter über den Glasscherben hervor. Schelga sagte:

»Geschickt gemacht, Schweinehunde!«

Nun brauchte er bloß zu warten. Er hatte im vorhinein schon alles überlegt. Sein rechter Arm, obwohl schon von der Schlinge befreit, war noch zu schwach. Der linke war noch in Bast und Gips. Die Schwester hatte ihn fest an die Brust gebunden. Dieser Arm wog mit dem Gips nicht weniger als fünfzehn Pfund. Das war die einzige Waffe, die ihm zur Verteidigung zur Verfügung stand.

Drei Nächte hintereinander hatte die Schwester vergessen, seine Fensterläden zu schließen. In der vierten Nacht stellte sich Schelga schon um neun Uhr schlafend. Er hörte, wie in den beiden anderen Stockwerken die Läden übereinandergeschlagen wurden. Sein Fenster blieb wieder breit offen. Als das Licht ausgelöscht war, sprang er aus dem Bett und mit der rechten, schwachen Hand und unter Zuhilfenahme der Zähne begann er den Verband, der seinen linken Arm an der Brust festhielt, zu lösen.

Er setzte aus, atemlos, horchte. Endlich war der Arm frei. Er konnte ihn bis zur Hälfte beugen. Stöhnend vor schneidenden Schmerzen, versuchte er verschiedene Bewegungen – die Achsel arbeitete. Er blickte in den Garten, der von einer Straßenlaterne beleuchtet war – die Leiter stand auf ihrem alten Platz, unter der Linde. Er rollte seine Decke zusammen und steckte sie unter das Leinentuch – im Halbdunkel konnte man das Knäuel für einen Menschen halten.

Vor dem Fenster war es ruhig, nur Tropfen fielen zu Boden. Violetter Schein flackerte wie ein Nordlicht über Paris. Der Lärm der Boulevards konnte nicht bis hierher dringen. Unbeweglich hingen die schwarzen Blätter der Platanen. Es war so ruhig, daß man von weitem, wie durchsichtigen Klang, eine Frauenstimme aus einem Mansardenzimmer hörte:

»Michel, es ist elf Uhr!«

Dann surrte irgendein Auto. Schelga wurde aufmerksamer – es schien ihm, als hörte er selbst den Herzschlag der Drossel, die auf dem Platanenblatt schlief. Es verstrich aller Wahrscheinlichkeit nach sehr viel Zeit. Im Garten begann ein Knistern und Kratzen, als riebe man Holz an Kalk.

Schelga trat hinter den Store an die Wand zurück. Er ließ den Arm in Gips sinken. »Wer? Wer kann es nur sein?« dachte er, »doch nicht am Ende Rolling selbst?«

Blätter rauschten – die Drossel wurde unruhig. Schelga starrte auf das durch das Fenster trüb beleuchtete Parkett, wo jetzt unbedingt ein Menschenschatten erscheinen mußte.

»Schießen wird er nicht,« dachte er, »man muß irgendeine andere Schweinerei erwarten, Stickgas, oder so etwas ähnliches.« Auf dem Parkett sah er bald darauf einen Kopf mit tiefsitzendem Hut aufsteigen. Schelga holte schon mit dem Arm aus, damit der Schlag kräftiger wäre. Der Schatten stand bereits bis auf Schulterhöhe hervor und streckte seine ausgebreiteten Finger hoch …

»Schelga, Genosse Schelga,« flüsterte der Schatten in russischer Sprache, »ich bins, fürchten Sie nichts …!«

Schelga war auf alles gefaßt gewesen, nur nicht darauf. Weder auf diese Worte noch auf diese Stimme. Unwillkürlich schrie er auf, hatte sich verraten. Der Mensch war mit einem Satz über das Fensterbrett hereingesprungen, streckte wie zur Verteidigung beide Arme aus. Es war Garin.

»Ich habe mir gleich gedacht, daß Sie erwartet haben, man werde Sie heute Nacht töten wollen,« sagte er eilig. »Das wäre für mich von Nachteil. Verstehen Sie? Ich riskiere momentan, weiß der Teufel, was ich jetzt alles riskiere – aber ich muß Sie retten. Gehen wir, ich habe ein Auto …«

Schelga trat von der Wand weg. Garins Zähne blinkten lustig, als er die noch immer zum Schlag bereite Hand in Gips bemerkte.

»Hören Sie, Schelga, bei Gott, ich bin nicht schuld daran. Erinnern Sie sich unserer Verabredung in Leningrad? Mein Spiel ist ehrlich. Diese Unannehmlichkeit haben Sie nur dem Schweinehund Rolling zu verdanken. Sie können mir vertrauen – gehen wir, jede Sekunde ist kostbar …«

»Seien Sie kein Narr, Schelga! Sind Sie denn ein Mensch von so strengen Prinzipien? Ich schlage vor, gemeinsam gegen Rolling zu arbeiten … Also, fahren wir …«

Eigensinnig schüttelte Schelga den Kopf:

»Ich will nicht. Ich fahre nicht!«

»Das ist doch ganz gleichgiltig – so wird man Sie töten!«

»Das werden wir erst sehen!«

»Die Pflegerinnen, die Wächter, die Administration – alle sind von Rolling gekauft. Man wird Sie erwürgen. Ich weiß es … Sie werden diese Nacht nicht überleben … Sie haben unsere Gesandtschaft davon wissen lassen? Gut, gut … Der Gesandte wird Erklärungen fordern … Im äußersten Falle wird sich die französische Regierung entschuldigen … Aber damit ist Ihnen doch nicht geholfen! Rolling muß sich diesen Zeugen aus dem Wege räumen … Er wird es nie und nimmer zulassen, daß Sie die Schwelle der Sowjetgesandtschaft übertreten …«

»Ich habe gesagt, ich fahre nicht – ich will nicht!«

Garin holte tief Atem. Blickte hinter sich aufs Fenster.

»Gut, dann nehme ich Sie ohne Ihr Einverständnis mit mir.« Er machte einen Schritt rückwärts, steckte die Hand in die Manteltasche.

»Was heißt das – ohne mein Einverständnis?«

»Das heißt: so …!«

Garin riß im selben Augenblick aus seiner Tasche einen kurzen Zylinder mit Gasfüllung, legte ihn rasch an den Mund – und Schelga blieb keine Zeit mehr aufzuschreien. Ein Strahl öliger Flüssigkeit schlug ihm ins Gesicht … Es flimmerte vor seinen Augen nur noch eine Gummibirne, auf welche Garins Hand drückte … Schelga verging der Atem in einer schwülen, undefinierbaren, süßen Betäubung …

Endlich sagte Schelga:

»Gut, Sie werden mich von hier fortbringen. Und was weiter?«

»Ich werde Sie verbergen … nur für eine kurze Zeit. Fürchten Sie nichts. Ehe ich von Rolling nicht die Hälfte bekommen habe … Lesen Sie die Zeitungen? Rolling hat Glück, wie der Teufel. Scharrt Milliarden Dollars wie mit Schaufeln zusammen … Aber er kann nicht ehrlich spielen. Wieviel wollen Sie, Schelga? Nennen Sie eine beliebige Ziffer! Zehn, zwanzig, fünfzig Millionen?! Ich bestätige es Ihnen schriftlich …«

Garin sprach nicht laut, sondern eilig, leise, wie im Delirium – sein abgemagertes Gesicht durchflog ein Zittern.

11.

»Gibt's Neuigkeiten?«

»Jawohl. Guten Tag, Wolf!«

»Ich komme direkt vom Bahnhof, bin hungrig, wie 1917.«

»Sie sehen gut gelaunt aus, Wolf. Haben Sie viel erfahren?«

»Ja, ich habe viel erfahren … Werden wir hier miteinander sprechen? Gut. Aber nur rasch und – deutsch. Mittagessen wollen wir in Montmartre.«

Wolf setzte sich neben Chlinow auf die Granitbank zu Füßen des Denkmals des reitenden Heinrich IV., mit dem Rücken gegen die schwarzen Türme der Conciergerie. Unter ihnen, dort, wo die Insel Citée in ein scharfes Kap endet, neigt sich eine Trauerweide über das Wasser. Hier war es, wo sich einst unter Zähneknirschen die Magistra und Ritter des Templerordens auf dem Scheiterhaufen wanden. In der Ferne, hinter den vielen Brücken, die sich im Wasser spiegelten, lag die Sonne wie orangenstaubiger Schein. Auf den Kais, auf den eisernen, mit Sand beladenen Lastschiffen, angelten die Franzosen, ruiniert durch die Inflation, Rolling und den Krieg gegen Marokko. Auf dem linken Ufer, längs der granitenen Brustwehr, bis weit zum Ministerium des Aeußeren, langweilten sich unter der Abendsonne die Büchertrödler neben ihren Büchern, deren in dieser Stadt niemand mehr bedurfte. Hier döste das alte Paris seine Tage dahin. Neben den Büchern längs der Kais, neben Vogelkäfigen und verzagten Fischern, sah man betagte Menschen mit sklerotischen Augen, Schnurrbärten, die den Mund verdeckten, in ärmellosen Mänteln, die im Winde flatterten, an alten Strohhüten … Einst war dies ihre Stadt. Verteufelt noch'n mal, dort, in der Conciergerie, hatte Danton gebrüllt, wie ein Stier, den man zur Schlachtbank führt. Frankreich war wie wahnsinnig dem Glück in die Arme geflogen. Und dort, rechts, hinter den Graphitdächern des Louvre, wo die Gärten der Tuilerien wie eine Luftspiegelung winken, auch dort waren heiße Tage dahingegangen, als die Kartätschen des Generals Galifet entlang der ganzen Rue Rivoli winselten. Ach, wie viel Gold hatte Frankreich einst besessen! Jeder Stein hier – wenn man ihn verstände – erzählt von dieser großen Vergangenheit. Und nun – mag der Teufel es verstehen, wie das zugegangen ist – nun wurde dieses überseeische Ungeheuer von Rolling Herr dieser Stadt. Dem guten Bourgeois bleibt nichts mehr übrig, als die Angel auszuwerfen und mit hängendem Kopf dazusitzen. Oh weh …

Nachdem er seine Pfeife mit dem starken Tabak angezündet hatte, sagte Wolf:

»Die Sache steht so: die deutschen Anilinwerke sind die einzigen, die von einem Pakt mit den Amerikanern nichts wissen wollen. Sie haben vom Staat eine Subvention von achtundzwanzig Millionen Mark bekommen. Nun sind alle Bemühungen Rollings darauf gerichtet, die deutsche Anilin zu Fall zu bringen.«

»Er spielt à la Baisse?«

»Am achtundzwanzigsten dieses Monats verkauft er Anilinaktien in ungeheuren Mengen.«

»Aber das sind ja höchst wichtige Nachrichten, Wolf!«

»Ja. Wir sind auf der Spur. Sicher ist Rolling im Spiel, obwohl die Aktien bis auf den heutigen Tag noch nicht um einen Pfennig gefallen sind – und heute ist schon der zwanzigste. Verstehen Sie also, auf was allein er rechnen dürfte?«

»Dann müssen sie also schon alles fertig haben?«

»Ich glaube, daß der Apparat schon aufgestellt ist.«

»Wo liegen die Anilinwerke?«

»Am Rhein, neben N. Wenn es Rolling gelingen sollte, die Anilinwerke zu Fall zu bringen, ist er Herr der gesamten europäischen Industrie. Chlinow, wir dürfen es nicht zur Katastrophe kommen lassen. Unsere Pflicht ist es, das deutsche Anilin zu retten. (Chlinow zuckte mit den Achseln, schwieg aber.) Ich verstehe: was geschehen muß, ist geschehen. Wir beide können dem Ansturm Amerikas nicht Widerstand leisten. Aber, weiß der Teufel, mitunter treibt die Geschichte unerwartet die Dinge in andere Bahnen …«

»Sie meinen – Revolution?«

Chlinow blickte ihn, einigermaßen überrascht, von der Seite an. Wolf hatte runde, gelbliche und böse Augen.

»Wolf – die Bourgeoisie wird Europa nicht retten!«

»Das weiß ich.«

»So?«

»Ich hatte während meiner Reise genug Gelegenheit, zu sehen … Bourgeois: Franzosen, Deutsche, Engländer, Italiener – verbrecherisch, blind, zynisch – ein Ausverkauf der alten Welt. Damit ist diese Kultur zu Ende – mit Auktionen.

Wolf wurde puterrot:

»Ich habe mich an die Machthaber gewandt, deutete die Gefahr an, bat um Hilfe, Garin ausfindig zu machen … Ich sagte ihnen schreckliche Dinge. Man lachte mir ins Gesicht. Hol' sie der Teufel. Hinterher werden sie es bereuen. Ich bin keiner von denen, die auskneifen.«

»Was haben Sie am Rhein erfahren?«

»Ich erfuhr, daß die Anilinwerke große Bestellungen bekommen haben. Farben, Parfums, Halbfabrikate. Die Herstellungsprozesse in den Fabriken der Anilinwerke sind gegenwärtig im gefährlichsten Stadium. Sie sind eben an der Verarbeitung von fünfhundert Tonnen Tetril …« (Sehr leicht explosibel.) Chlinow erhob sich erregt. Der Stock, auf den er sich stützte, bog sich. Dann setzte er sich wieder hin.

»Und wenn auch?!«

»Eklige Schurken!« – wiederholte Wolf, während er seine gelben Augen vor dem Sonnenlicht zusammenkniff. »In die Zeitungen glitt eine Notiz, die auf die Notwendigkeit hinwies, die Arbeiterwohnungen aus der Nähe dieser verfluchten Fabriken zu verlegen. In den Anilinwerken sind mehr als hundertfünfzigtausend Menschen beschäftigt. Hundertfünfzigtausend Kämpfer für die Befreiung Europas. Die Zeitung, die diese Notiz brachte, wurde zu einer Geldstrafe verurteilt … auf Rollings Veranlassung.«

»Wolf, wir dürfen keinen Tag verlieren.«

»Ich habe Fahrkarten für den heutigen Elf-Uhr-Zug bestellt.«

»Wir fahren nach N.?«

»Ich denke, daß wir nur dort Spuren Garins finden könnten.«

»Nun sehen Sie, worauf ich gekommen bin!« Chlinow zog aus der Tasche einige Zeitungsausschnitte. »Vorgestern war ich bei Schelga. Brachte ihm Obst und Wein – mir standen im ganzen nur drei Minuten zur Verfügung. Schelga teilte mir das Resultat seiner Ueberlegungen mit: Rolling und Garin müssen unbedingt irgendwie miteinander in Verbindung stehen.«

»Selbstverständlich – täglich!«

»Per Post? Per Telegraph?«

»Keinesfalls. Ohne jede schriftliche Spuren!«

»Also – Radio?«

»Um, wenn auch chiffriert, über ganz Europa hinweg zu schreien – nein …«

»Durch dritte Personen? Nein. Ich verstehe,« sagte Wolf, »Ihr Schelga ist ein Prachtkerl – geben Sie mir die Ausschnitte!«

Er legte sie sich aufs Knie und begann aufmerksam jene Stellen zu lesen, die mit rotem Bleistift unterstrichen waren.

»Die ganze Aufmerksamkeit konzentrieren auf Anilin …« – »… beginne …« – »Der Platz ist bereits gefunden …«

»Der Platz ist bereits gefunden,« flüsterte Wolf, »das ist eine Zeitung aus K., einer Stadt in den Bergen, nahe bei N. –« »Bin besorgt – bestimmen Sie den Tag …!« »Zählen Sie fünfunddreißig Tage vom Tag der Unterfertigung des Kontraktes an …« »Das können nur sie sein. Die Nacht, in der der Vertrag in Fontainebleau unterfertigt wurde – war der 23. des vergangenen Monats. Geben Sie fünfunddreißig dazu – kommt der 28. dieses Monats als Tag des Verkaufs der Anilinaktien heraus …«

»Weiter, weiter, Wolf! … ›Welche Maßnahmen haben Sie getroffen?‹ – das ist aus K. (fragt Garin). Am nächsten Tage war Rollings Antwort im ›Intransigent‹: »Yacht bereit. Kommen Sie am dritten Tage. Bericht per Radio.« Und hier – vor vier Tagen – fragt Rolling, ›ob man das Licht nicht sehen werde‹! Garin antwortet: ›Ringsum öde. Entfernung: 20 Kilometer.‹ …«

»Mit anderen Worten: der Apparat wurde in den Bergen aufgestellt. Mit einem Strahl kann man in zwanzig Kilometer Entfernung nur von einem sehr hoch gelegenen Punkte aus losschlagen.« Wolf legte die Hand auf seine Stirnfalten: »Chlinow, uns bleibt verflucht wenig Zeit. Wenn man den Umkreis mit dem Radius von zwanzig Kilometern nimmt – im Zentrum die Fabriken – müssen wir die Umgebung im Umfange von 50 Kilometern absuchen. Ob nicht inzwischen noch weitere Weisungen erfolgt sind?«

»Nein. Ich wollte übrigens soeben Schelga telephonieren. Er muß die Ausschnitte von gestern und heute bereits haben.«

Wolf stand auf. Man konnte bemerken, wie sich seine Muskeln anspannten. Chlinow schlug vor, aus dem nächstgelegenen Café auf dem linken Ufer zu telephonieren. Wolf ging so rasch über die Brücke, daß irgendein älterer Mensch mit einer Hühnerbrust, Harmonikahosen und schmierigem Rock, der vielleicht mit Tränen durchnäßt war, die einem im Krieg Gefallenen nachgeweint worden waren, den Kopf schüttelte und unter seinem verstaubten Hut noch lange dem davoneilenden Ausländer nachschaute:

»Oh, Ihr Ausländer …! Wenn man Geld in der Tasche hat, da kann man stoßen und laufen, wie bei sich zu Hause – und kann sich eilen, um zum Mädchen zurecht zu kommen … Oh, Ihr, Wilde …!«

Im Café trank Wolf vor dem verzinkten Pult stehend ein Glas Sodawasser. Durch die Glasscheibe der Telephonzelle konnte er den Rücken des sprechenden Chlinow sehen. Plötzlich aber zog dieser die Schultern übermäßig hinauf und kroch förmlich über das Sprachrohr des Telephons. Reckte sich, kam aus der Zelle. Sein Gesicht war ruhig, aber weiß, wie eine Larve.

»Aus dem Spital antwortet man mir, daß Schelga heute nacht verschwunden ist. Alle Maßnahmen zu seiner Ausforschung sind getroffen. Ich glaube, man hat ihn umgebracht.«

12.

Der Herd, in welchem Reisig knisterte, nahm die Hälfte der Mauer ein, war während voller zweier Jahrhunderte durchgeräuchert, zu seinen beiden Seiten hingen große Haken für Würste und Schinken, flankiert von zwei steinernen Heiligen. Auf der einen Seite hing Garins lichter Hut, auf der anderen eine speckige Offiziersmütze. Vor dem Tisch, der nur vom Schein des Feuers beleuchtet war, saßen vier Leute. Vor ihnen stand eine strohumflochtene Flasche und volle Weingläser. Es war spät, der Morgen schon nahe.

Zwei von den vier Männern waren städtisch gekleidet – einer hatte hervorstehende Backenknochen, gedrungene Gestalt und kurzes, stehendes Haar, der andere hatte ein längliches, böses Gesicht. Der dritte, Besitzer des Meierhofs, wo eben in der Küche die Beratung stattfand (General Subotin) saß nur in schmierigem Leinenhemd, mit aufgekrempelten Hemdärmeln vor dem Tisch. Seine glatt rasierte Kopfhaut bewegte sich, das fette Gesicht mit dem buschigen Schnurrbart war vom Wein blutrot gefärbt.

Der vierte – Garin, im Touristenanzug, führte nachlässig den Finger an den Rand seines Glases:

»… sehr gut so. Aber ich bestehe darauf, daß meinem Gefangenen, obwohl er ein Bolschewik ist, kein Haar gekrümmt wird. Essen dreimal täglich, Wein, Obst, Gemüse. In einer Woche hole ich ihn ab … belgische Grenze …«

»Dreiviertel Stunden Autofahrt!« rief der Mann mit dem langen Gesicht, indem er sich rasch vornüber beugte.

»Die Sache bleibt zuverlässig streng geheim … Ich verstehe, Herr General und meine Herren Offiziere, daß ich hier von Ihnen als Adelige, die uneingeschränkt in den Traditionen des zu Tode gemarterten Zaren leben, eine Tat verlange, der rein ideale Beweggründe unterliegen. Anderenfalls hätte ich Sie niemals um Ihre Hilfe ersucht.«

»Wir sind hier alle Angehörige der höheren Gesellschaft – was gibt es hier noch zu erklären?« röchelte der General, bewegte die Haut seines Schädels und leerte sein Glas.

»Ich wiederhole die Bedingungen: ich zahle Ihnen für die volle Pension des Gefangenen pro Tag zehntausend Franken. Sind Sie einverstanden?«

Der General ließ seine blutunterlaufenen Augen über seine Kumpane rollen. Der mit den hervorstehenden Backenknochen zog die Nase in Falten, wie eine Harmonika, der mit dem langen Gesicht zischte durch die Zähne.

»Ach so,« sagte Garin, »entschuldigen Sie, meine edlen Herren, … hier ist eine Voranzahlung für die drei ersten Tage …«

Er zog aus der Revolvertasche ein Päckchen Tausendfrancscheine und warf es auf den Tisch, in eine Lacke Wein.

»Bitte sehr – keine ungarischen Francsnoten – direkt aus der Bank von Frankreich. Noch mit der Banderole …«

Der General rückte näher zum Tisch, nahm das Päckchen, betrachtete es näher, wischte sich über den Bauch und begann, durch seine behaarten Nasenlöcher schnaubend, nachzuzählen. Gierig näherten sich auch seine Kumpane mit weit aufgerissenen, scheußlichen Augen.

Garin sagte, indem er sich erhob:

»Gestatten Sie, den Gefangenen hereinzuführen?«

13.

Schelgas Augen waren mit einer Schärpe verbunden. Ueber die Schultern hatte man ihm einen Automantel geworfen. Er fühlte die Wärme, die vom Herd ausging und seine Füße begannen zu zittern. Garin schob ihm einen Sessel hin. Schelga setzte sich sogleich und ließ seinen Gipsarm auf das Knie herunterfallen.

Der General und die beiden Offiziere blickten ihn derart liebevoll an, daß es schien, als bedürfe es nur eines Winkes und von diesem Menschen bliebe binnen kürzester Zeit nichts übrig als ein paar Knochenreste. Aber Garin gab keinen Wink. Nachdem er Schelga auf die Schulter geklopft hatte, sagte er aufgeräumt:

»Sie werden hier an nichts Mangel leiden. Sie sind bei anständigen Leuten und außerdem ist für Sie gut bezahlt worden. Sie werden behütet werden, wie Eier vor den Ostertagen. In ein paar Tagen werde ich Sie befreien. Genosse Schelga! Geben Sie mir Ihr Ehrenwort, daß sie weder versuchen werden, zu fliehen, noch zu randalieren oder die Aufmerksamkeit der Polizei zu erregen!«

Schelga schüttelte mit dem herunterhängenden Kopf. Garin beugte sich über ihn:

»Anders könnte ich schwer für die Bequemlichkeit Ihres hiesigen Aufenthalts bürgen … Nun, geben Sie mir Ihr Wort?«

Schelga sprach halblaut, mit langsamer Stimme:

»Ich gebe Ihnen mein Wort als Kommunist … (Sofort verzog der General seine rasierte Kopfhaut und die beiden Offiziere lächelten einander zu) … ich gebe Ihnen mein Wort als Kommunist, daß ich Sie, Garin, bei der ersten sich ergebenden Möglichkeit töten werde. Ich gebe Ihnen mein Wort, Ihnen den Apparat wegzunehmen und ihn nach Moskau zu bringen … Ich gebe Ihnen mein Wort, daß am achtundzwanzigsten …«

Garin ließ ihn nicht zu Ende sprechen. Er faßte ihn beim Hals:

»Wirst Du schweigen, Idiot?! … Verrückter!« Dann wandte er sich gegen die Anderen und sagte, befehlend:

»Meine Herren Offiziere, ich warne Sie: dieser Mensch ist sehr gefährlich, er hat eine Wahnidee …«

»Ich sage, das beste ist, wir halten ihn im Weinkeller gefangen«, sagte der General mit seinem Baß. »Führen Sie ihn ab!«

Garin strich sich das Schnurrbärtchen. Die Offiziere ergriffen Schelga, stießen ihn in eine Seitentür und schleppten ihn dann in den Keller. Garin begann, seine Autohandschuhe anzuziehen.

»In der Nacht auf den neunundzwanzigsten werde ich wieder hier sein. Am dreißigsten, Exzellenz, können Sie ihre Experimente über Kaninchenzucht einstellen und sich eine Kajüte erster Klasse auf einem Ozeandampfer kaufen und wie ein Grandseigneur leben, wenn auch nur in der Fifth Avenue in New York …«

»Und welche Garantien bieten Sie?« fragte der General.

»Ich zahle bar!«

»Man wird für diesen Hundesohn irgendwelche Dokumente haben müssen?!«

»Bitte, einen beliebigen Paß auszuwählen!«

Garin zog aus der Tasche eine Rolle, die mit Spagat umwickelt war. Es waren dies die Dokumente, die er bei Schelga in Fontainebleau gestohlen hatte. Aus Zeitmangel hatte er sie noch nicht einmal durchgesehen.

»Hier sind Pässe, die scheinbar für mich bestimmt waren. Sehr aufmerksam. Bitte, bedienen Sie sich, Exzellenz!«

Garin warf die Paßbücher auf den Tisch, besah sie ein wenig, wurde aber mit einem Male sehr interessiert, rückte näher zur Lampe. Seine Augenbrauen zogen sich zusammen.

»Teufel!« rief er und stürzte durch die Seitentür ab, wo man Schelga abgeführt hatte.

14.

Schelga lag auf einer Matratze, die man auf den steinernen Boden des Kellergewölbes gelegt hatte. Eine rauchende Petroleumlampe beleuchtete den Raum, wo es außerdem nichts anderes gab als Spinnweben und leere Fässer. Garin suchte mit seinen Augen eine Zeit lang jene Schelgas. Vor ihm stehend, biß er sich in die Lippen:

»Ich war zu hitzig, Schelga. Seien Sie mir deshalb nicht böse. (Schelga verzog den Mund.) Ich glaube immer, wir beide werden noch einen gemeinsamen Berührungspunkt finden. Wir werden schon übereinkommen. Wollen Sie?«

»Versuchen Sie es!«

Garin sprach einschmeichelnd, ganz anders, als vor fünf Minuten. Schelgas Aufmerksamkeit wurde reger. Aber er war durch die in der letzten Nacht überlebte Aufregung und durch die Wirkung des betäubenden Gases, das noch immer auf seinem ganzen Körper lähmend lag, merklich geschwächt. Garin setzte sich auf die Matratze. Begann zu rauchen. Sein Gesicht schien nachdenklich zu sein, er selber wohlwollend, gutmütig, manierlich …

»Worauf kann es der Schweinehund abgesehen haben? Worauf?« dachte Schelga und hatte das Gefühl, als würden sich Schleier auf sein Gehirn legen.

»Wir beide haben einen gemeinsamen Feind,« begann Garin endlich, »für Sie ist er ein Vertreter des amerikanischen Kapitals, der großzügig ganz Europa zu seiner Kolonie machen will, mit jenem Schwung und Temperament, dessen nur die Amerikaner fähig sind. Ich habe ein wenig darüber nachgedacht. Es ist verflucht interessant. Es wiederholt sich die alltägliche Geschichte der Beziehungen zwischen Metropole und Kolonien. Auf eben dieselbe Art ging Rom zugrunde. Und ebenso werden unvermeidlich die amerikanischen Yankees die Heiligtümer des alten Europa zertreten. Rolling – ist ein neuer Kolumbus, nur mit der entgegengesetzten Fahrtrichtung. Um Gold, um die alten Verführungsmittel kommt er jetzt herüber, über den Ozean, nach Europa … Jetzt sind wir die mexikanischen Mischlinge … Nun haben sie Sehnsucht nach der geheimnisvollen Stadt – Eldorado … Naturgesetz! Wir Europäer aber, wir müssen kämpfen – und werden kämpfen – um schließlich selbstverständlich – unterzugehen …«

»Was Sie da reden ist – Blödsinn!«

»Warum Blödsinn? … Im Grunde genommen ist das alles doch sehr richtig! Nur ist die Terminologie zu poetisch … Also: die Amerikaner brauchen, um in diesem Kampfe gegen Europa unfehlbar ans Ziel zu kommen, nichts anderes tun, als der Reihe nach die alte Welt in bezug auf die Versorgung mit Getreide, Fleisch, Zucker usw. von Amerika abhängig zu machen. Wird das teilweise Gelingen dieses Planes auch noch in Abrede gestellt, so wird man doch bald mehr darüber sprechen. Es ist doch klar: wo ist die Arbeit am billigsten? In Europa. Also: her mit den Fabrikaten. Aber, da liegt ein Hindernis am Weg: Rußland, die Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, die Kornkammer! Steckt bis zum Hals in Getreidevorräten. Die unendlichen Ebenen Rußlands können jedem Europäer bequem täglich Hühner, Eier und Weißbrot in genügender Menge zukommen lassen. Da gibt es für den amerikanischen Imperialismus nur zwei Wege zur Wahl: Rußland in ein unfrequentables Land zu verwandeln – was bis heute noch immer nicht möglich war – oder: Blockade. Gewiß ist das letztere greifbarer, auf lange Dauer jedoch nicht … Deshalb sind sie nervös.«

»Wenn wir aber unsere Produktion auf die Höhe gebracht haben werden …«

»Richtig, richtig, darauf will ich eben zu sprechen kommen … Rußland muß Zeit gewinnen. Das heißt mit anderen Worten: Rolling den Hals umdrehen ist gleichbedeutend mit: Zeit gewinnen!«

Schelga blickte zum ersten Male in die glänzenden, erregten Augen Garins:

»Nun?«

»Die Verhältnisse haben sich derart geändert, daß die Frage lautet: entweder bleibt Rolling am Leben oder – ich! Nur noch eine gewisse Zeit lang werden wir gemeinsam arbeiten …«

»Bis zum achtundzwanzigsten …«

»Aha, – das haben Sie nach den Zeitungen berechnet?!«

»Kann sein.«

»Gut. Möge es also bis zum achtundzwanzigsten sein. Dann aber müssen wir einander unvermeidlich an die Kehle fahren. Siegt Rolling, dann ist es für Rußland doppelt schrecklich: mein Apparat fällt in seine Hände und so gegen ihn kämpfen, hieße wahnsinnig sein – er würde Rußland in einen Trümmerhaufen verwandeln … Also, Genosse Schelga, dadurch, daß Sie eine Woche lang in der Nachbarschaft von Spinnen leben werden, vergrößern Sie die Chancen meines Sieges ungeheuer!«

Schelga schloß die Augen. Garin saß am Fußende seines Lagers und rauchte in hastigen Zügen. Schelga sagte:

»Wozu, zum Teufel, brauchen Sie mein Einverständnis? Auch ohne mein Einverständnis werden Sie mich hier zurückhalten, so lange es Ihnen beliebt?! Sagen Sie gerade heraus, was Sie wollen!«

»Es war schon lange an der Zeit, daß Sie so sprechen. Und vorhin – mit Ihrem Wort als Kommunist, bei Gott, damit haben Sie mir sehr weh getan. Ich habe mich verteufelt geärgert … Jetzt erst scheint es mir, daß Sie beginnen, zu verstehen … Wir sind ja Feinde, das ist richtig … Aber trotzdem müssen wir beide zusammen arbeiten … Verstehen Sie mich doch, mein Lieber … Nach Ihrer Terminologie bin ich – eine Mißgeburt. Ich bin aber ein Individualist größten Kalibers … Das kann auch gar nicht anders sein. So ist das Gesetz der Dynamik. Wirkung erzeugt Gegenwirkung. In der Mitte liegt: das Gleichgewicht. Ich, Pjotr Petrowitsch Garin, durch die Gnade der Kräfte, die mich geschaffen haben, mit meinem Hirn – lachen Sie nicht, Schelga – mit meinem genialen Gehirn, mit meinen ungeheuren Leidenschaften, vor denen mir selber manchmal schwül und ängstlich zumute wird, – mit meiner Gier und meiner Prinzipienlosigkeit – ich gleiche einfach buchstäblich dem kollektiven Bewußtsein der revolutionären Massen der ganzen Erde!«

»Unglaublich – so ein Schweinehund!!« sagte Schelga.

»Jawohl: Schweinehund. Sie haben mich verstanden. In der Welt ist das nahegerückt, was ich Unabänderlichkeit nenne … Ihrer Anschauung nach liegt die neue Moralweisheit in dem Kollektivbewußtsein. Zum Teufel, Ihr habt tausendfach recht, obwohl ihr diese Wahrheit mit Eurem eigenen Fleische bezahlen müßt … Was nahegerückt ist – ist nichts als die Wirkung davon. Die Gegenwirkung. Ich, Pjotr Petrowitsch – d. h. eine hypertrophische Persönlichkeit – liege dem Kollektivbewußtsein gerade gegenüber. Es ist kriegerisch veranlagt – ich bin wollüstig, ich wünsche nicht, zu kämpfen, da ich danach strebe, jede Sekunde meines Lebens dem Genuß abzugeben. Ich beeile mich rasend, Rolling den Garaus zu machen, da ich diese wertvollen Sekunden verliere. Sie – ein Kollektiver – sind eine kriegerisch materialisierte Idee. Ich – habe keine Ideen, bewußt, aus einer Art religiösen Prinzips, hasse jede Idee. Ich habe mir ein Ziel gesteckt; mir eine derartige Position zu schaffen (in Details will ich nicht eingehen, sonst werden Sie zu müde), mich mit einem derartigen Luxus zu umgeben, daß daneben die hängenden Gärten der Semiramis und alle anderen Dummheiten des Orients wie schale Schatten neben einem Paradies stehen werden. Ich werde die Medizin, Physik, die gesamte Industrie und Wissenschaft mir untertan machen. Mit anderen Worten: Schelga, ich bin in keiner Hinsicht Ihr Feind, dialektisch: bin ich einfach ein Schweinehund! Sie können dreist in Ihren Forderungen bis zu einem gewissen Punkt gehen, solange nicht Rolling von uns beiden zertreten ist!«

»Außerdem, daß ich hier in diesem Keller sitzen muß – worin soll also meine Hilfe bestehen?«

»Sie müssen einen kleinen Spaziergang ans Meer unternehmen!«

»Mit anderen Worten: Sie wollen meine Gefangenschaft fortsetzen?«

»Ja.«

»Was bieten Sie mir dafür, daß ich nicht den ersten Polizisten anrufe, den ich sehe, wenn Sie mich ans Meer bringen werden?«

»Jede beliebige Summe.«

»Sehr klug,« sagte Schelga und drehte sich auf der Matratze herum. »Und für das Modell meines Apparates – wären Sie dafür einverstanden?« (Schelga wandte sich ab). »Sie glauben mir nicht? Denken, ich würde sie betrügen, Ihnen das Modell nicht ausliefern? Aber, denken Sie nur ein klein wenig nach! Würde ich Sie wirklich betrügen oder nicht? (Schelga zuckte mit den Achseln.) Die Grundidee des Apparates ist geradezu blödsinnig einfach. Nicht mit allen Kräften der Welt verbündet, wäre ich imstande, sie lange geheim zu halten. Das ist das Schicksal aller genialen Erfindungen. Nach dem achtundzwanzigsten wird die Wirkung der infraroten Strahlen in allen deutschen Zeitungen beschrieben sein und die Deutschen, gerade die Deutschen werden es sein, die innerhalb eines halben Jahres genau so einen Apparat gebaut haben werden. Also riskiere ich gar nichts. Nehmen Sie das Modell, bringen Sie es nach Rußland. Ja – ich habe übrigens noch Ihre Pässe und Papiere … Bitte, ich brauche sie nicht mehr. Entschuldigen Sie, daß ich Ihre Taschen durchstöbert habe! Ich bin ein furchtbar neugieriger Mensch … Was für ein tätowierter Junge ist das hier, dessen Photographie Sie da haben?«

»Das ist irgend ein aufsichtsloser Jugendlicher …«, antwortete Schelga, der trotz seines schmerzenden Kopfes sehr gut verstand, daß sich Garin erst jetzt dem Hauptthema näherte, um dessentwillen er eigentlich zu ihm in den Keller heruntergestiegen war.

»Auf der Rückseite steht als Datum der Aufnahme dieses Bildes der 12. des vergangenen Monats, Sie haben also den Jungen am Vortage Ihrer Abreise photographiert … Und diese Photographie haben Sie mitgenommen, um sie mir zu zeigen. Haben Sie in Leningrad dieses Bild niemand gezeigt?«

»Nein«, antwortete Schelga.

»Und wo steckt jetzt dieser Junge? Ah – das habe ich ganz übersehen: hier ist ja sogar sein Name vermerkt: Iwan Gussew. Im Ruderklub aufgenommen, nicht wahr, auf der Terrasse? Ich erkenne mir vertraute, alte Plätze … Nun, was hat Ihnen dieser Junge erzählt? Haben sie das Radium gefunden?«

»Ja, sie haben es gefunden.«

»Nun, sehen Sie, ich habe von allem Anfang an an Manzew geglaubt. Der Junge ist also noch immer im Klub?«

»Ja.«

Garin hatte richtig gerechnet. Schelga war es einfach nicht gegeben, zu lügen. Die Lüge erschien ihm noch immer als unlauteres Kampfmittel. Eine Minute später wußte Garin die ganze Geschichte vom Erscheinen Iwans im Ruderklub. Er stand auf und rieb sich emsig die Hände.

»Also: wenn wir in der Nacht des neunundzwanzigsten im Auto unterwegs sein werden, wird das Modell mit uns sein und Sie können einen beliebigen Platz wählen, wo wir den Apparat verstecken wollen. Die wichtigsten Bestandteile werden Sie an sich nehmen – genügt Ihnen diese Garantie? Sind Sie einverstanden?«

»Ich bin einverstanden.«

»Mit allem? – Sie werden mir nicht nach dem Leben trachten?«

»In der nächsten Zeit – nein.«

»Ich werde befehlen, daß man Sie nach oben führt, hier ist es zu feucht. Erholen Sie sich gut, essen Sie nach Kräften, es wird noch die Zeit kommen, wo Sie mir gerne die Hand drücken werden … Wo unsere Schachpartie beendet sein wird …«

Garin blinzelte lustig und ging hinaus.

15.

»Ihr Vor- und Zuname?«

»Rittmeister von Kulnewskij – Regiment Alexander Iwanowitsch Wolschin« – antwortete der Offizier mit den hervorstehenden Backenknochen, nach einer alten Gewohnheit stramm stehend.

»Von welchen Mitteln leben Sie?«

»Ich arbeite tagsüber in der Kaninchenzucht des Generals Subotin, zwanzig Sous pro Tag, samt Verpflegung im Hause, war Chauffeur. Habe ganz gut verdient, meine Regiments-Kameraden haben mir zugeredet, als Vertreter auf dem monarchistischen Kongreß zu erscheinen. Aber schon gelegentlich der ersten Sitzung bekam Oberst Scherstobitow eins in die Fresse, – er ist Anhänger des Großfürsten Kyrill. Man entzog mir die Vollmacht und ich habe mein Mandat verloren.«

»Ich schlage Ihnen eine gefährliche Arbeit vor. Sind Sie gegen ein hohes Honorar einverstanden?«

»Zu Befehl!«

»Hier haben Sie eine Photographie, hier einen Paß. Fahren Sie nach Leningrad, machen Sie diesen Jungen ausfindig, und …«

16.

Es vergingen fünf Tage. Nichts störte die Ruhe des kleinen, rheinischen Städtchens K., das inmitten eines feuchtgrünen Tales lag, in der Nähe der berühmten Anilinwerke.

Auf den geschlängelten Straßen mit ihren schmalen Gehsteigen trabten lustig die Holzsohlen der Schuljungen, dröhnten die schweren Schritte der Arbeiter, Frauen rollten vor sich Kinderwagen einher, in der Richtung gegen die schattigen Linden am Flußufer … Aus einem Friseurladen kam der Besitzer auf die Straße heraus, in Segelleinwandrock und stellte eine Leiter auf den Gehsteig. Der Gehilfe folgte ihm, bestieg die Leiter und putzte das kupferne Becken und den weißen Roßschweif. Im Kaffeehaus wusch man die Spiegelscheiben. Ein Wagen mit leeren Bierfässern fuhr donnernd die Straße entlang.

Es war ein altes, sauber zusammengekehrtes Städtchen, tagsüber ruhig, während die Sonne das bucklige, getäfelte Straßenpflaster wärmte und nur hie und da ging ein Passant in grünem Hut mit Feder vorüber. Erst in den Abendstunden pflegte sich das Städtchen ein wenig zu beleben, wenn Arbeiter und Arbeiterinnen aus den Fabriken heimwärts eilten, wenn in den Kaffeehäusern die Lichter aufflammten und ein alter Laternenanzünder in seinem kurzen, ärmellosen Mantel aus weiß Gott was für alten Zeiten, mit den Füßen stampfend, von Laterne zu Laterne ging. In ruhigen Nächten ruhte sich diese Stadt reinen Gewissens von Mühe und Sorge des Alltags aus.

Auf dem Hauptplatz stand der Markt, umgeben von steilgiebeligen Häusern aus dem sechzehnten Jahrhundert. Dort stand hinter einem niedrigen Gitter ein gußeiserner Mensch mit einem Dreispitz auf dem Kopfe, in Kanonenstiefeln. In der Hand hielt er eine gußeiserne, zusammengerollte Urkunde über Bürgerfreiheit.

Ebenso, wie seinerzeit, im sechzehnten Jahrhundert, kamen auch jetzt aus den umliegenden Toren Arbeiter- und Bürgerfrauen mit Körben auf dem Arm. Seinerzeit lagen in diesen Körben Geflügel, Obst und Gemüse, würdig eines Snijderschen Gemäldes. Und jetzt: ein paar Kartoffel, ein Büschel Zwiebel, Rübenkohl und ein wenig grauen Brotes.

Sonderbar. Während der Zeit von vier Jahrhunderten war Deutschland, weiß der Teufel, wie reich geworden! Auf welchen Ruhm hatten seine Söhne blicken können! Welch ungezählte Hoffnungen leuchteten aus diesen blauen, deutschen Augen! Wieviel Bier wurde hinter diese zurückgeworfenen, blonden Bärte gegossen! Wieviel Billionen Kilowatt menschlicher Energien hatten sich freigemacht! …

Und nun – war all das umsonst. In den schneeweißen kleinen Küchen ein armseliges Büschel Zwiebel auf dem Kachelbrett und alter Gram in den hungrigen Augen der Frauen und Mütter. Unbegreiflich …

17.

In staubigen Schuhen, mit über den Arm geworfenen Röcken und schweißbedeckten Stirnen überschritten Wolf und Chlinow die gewölbte Brücke, die von dem einen auf das andere niedrige Ufer des schmalen Flusses führte und stiegen im Schatten der Linden die ansteigende Straße hinauf, die gegen K. führte.

Hinter dem Mittelgebirge ging eben die Sonne unter. Noch rauchten die Schlote der Anilinwerke im goldenen Abendlicht. Fabriksgebäude, Schornsteine, Eisenbahnlinien, die ziegelgedeckten Speicher – all das grenzte längs der abfallenden Hügel unmittelbar an die Stadt.

»Ich bin sicher: dort ist es!« sagte Wolf, blieb stehen und zeigte mit der Hand auf eine Felsgruppe, die im Schein der untergehenden Sonne rot vor ihnen dalag. »Hätte ich den geeignetsten Punkt für eine Beschießung der Fabrik auszuwählen – ich hätte nur dort gesucht!«

Chlinow nahm sein zusammengedrücktes Taschentuch heraus und wischte sich über die Stirn:

»Es bleiben nur mehr drei Tage …«

»Das macht nichts. Von der Südseite her droht keine Gefahr – es ist zu weit. Die östlichen und nördlichen Sektoren haben wir bereits abgesucht – bis auf den letzten Stein. Drei Tage genügen uns.«

Chlinow wandte sich den mit blauen Wäldern bedeckten Hügeln im Norden zu, zwischen denen tiefe Schatten lagen. Auf dieser Seite hatten Wolf und Chlinow während der letzten fünf Tage und Nächte jede Bodenvertiefung durchforscht, wo die Möglichkeit vorhanden gewesen wäre, ein kleines Landhaus oder eine Baracke aufzurichten – mit den Fenstern gegen die Fabriken.

Fünf Tage und Nächte hatten sie nicht einmal Zeit gefunden, ihre Kleider auszuziehen, nur in Stunden tiefster Nacht schliefen sie ein wenig, wo sie gerade hinfielen. Sogar die Füße schmerzten sie nicht mehr. Auf steinigen Fußsteigen, aufs Geratewohl, über Schluchten und Zäune hatten sie die Stadt in einem Umkreis von fast hundert Kilometern abgegangen. Aber nirgends war eine Spur von Garins Anwesenheit zu bemerken. Ihnen begegnende Bauern, Meierhofbesitzer, Bedienstete der umliegenden Landhäuser, Förster, Aufseher – sie alle hatten bloß die Unterlippe hängen lassen, die Arme erstaunt ausgebreitet:

»In der ganzen Umgebung lebt kein einziger Fremder. Die hier Ansässigen wohnen schon seit vielen Jahren in der Gegend und sind uns alle bekannt …«

Nun blieb nur mehr der westliche Sektor, der allerschwierigste. Nach der Karte befand sich dort ein Reitweg und ein Fußsteig zu dem felsigen Plateau, wo die berühmten Ruinen des Schlosses »Das angekettete Skelett« lagen. Gleich neben dieser Schloßruine stand, wie es sich in solchen Fällen gehört, das Gasthaus: »Zum angeketteten Skelett.«

In den Ruinen zeigte man tatsächlich die Reste eines unterirdischen Gewölbes und hinter einem eisernen Gitter – das von der Stadt errichtet worden war, ein riesiges Skelett, in sitzender Stellung, an einer verrauchten Mauer, in verrosteten Ketten. Abbildungen hiervon konnte man in der Umgebung überall kaufen – auf Ansichtskarten, Papiermessern, auf Steinen und Bierkrügeln. Für zwanzig Pfennige konnte man sich sogar neben dem Skelett photographieren lassen und diese Karten an Bekannte oder an die geliebte Gattin senden. An Sonntagen war die ganze Umgebung der Ruine bunt besiedelt von der Erholung suchenden Bevölkerung der Stadt und das Gasthaus machte gute Geschäfte. Auch Fremde pflegten hierher zu kommen.

Nach dem Kriege aber war das Interesse für dieses Skelett bedeutend geringer.

Die Bewohner wurden zu faul, an Feiertagen den steilen Hang hinaufzuklettern. Sie zogen es vor, von den geschichtlichen Erinnerungen etwas entfernter, sich mit ihren belegten Brötchen und Weinflaschen gleich am Flußufer, unter den schattigen Linden niederzulassen. Der Besitzer des Gasthauses »Zum angeketteten Skelett« war nicht mehr imstande, die Ordnung in den Ruinen mit der seinerzeitigen Sorgfalt aufrechtzuerhalten. Und es kam jetzt oft vor, daß das mittelalterliche Skelett wochenlang, ohne gestört zu werden, aus seinen leeren Augenhöhlen in das grüne Tal hinabschauen konnte, wo es einst an einem verhängnisvollen Tage mit seinen Vasallen das Flüßchen überschritten hatte, um die fremden Bauern solange zu reizen, bis es vom Schloßherrn aus dem Sattel gehoben worden war. Es blickte nun ungestört auch auf die lutherische Kirche mit ihren Hähnen auf den Türmen herab, auf die Schlote der Anilinwerke, wo man in großem Maßstab Explosionsgase, Tetril, Milinit und andere Fabrikate herstellte, was den Bewohnern des Städtchens die Lust an den geschichtlichen Erinnerungen, an den Ansichtskarten mit den Abbildungen des angeketteten Skeletts und vielleicht auch am Leben selbst, vertrieben hatte.

Dorthin lenkten nun Wolf und Chlinow ihre Schritte. Sie gingen zunächst in das Kaffeehaus auf dem Hauptplatz, um sich zu stärken. Lange studierten sie die Karte der Umgebung und fragten die Kellner aus. An der westlichen Gegend des Tales gab es außer den Ruinen und dem Gasthaus keine bemerkenswerte Sehenswürdigkeit außer der Villa eines während der letzten Jahre heruntergekommenen Schreibmaschinenfabrikanten. Diese Villa stand auf einem der Westabhänge und war von der Stadt aus nicht zu sehen. Der Fabrikant bewohnte sie ständig allein.

18.

Erst vor dem nahenden Morgen erschien der Vollmond. Was eine undeutliche Auftürmung von Stein und Fels zu sein schien, trat im Mondlicht scharf hervor und zeigte ziemlich unversehrt gebliebene Gewölbe, die sich bis gegen die Schlucht hin ausdehnten, wo man die Reste einer alten Festungsmauer sehen konnte, ganz verwachsen mit Geäst und einem Wirrsal von Brombeersträuchern. Auch der quadratische Turm, der älteste Teil des Schlosses, den noch die Normannen erbaut hatten, trat deutlich sichtbar hervor. Auf den Ansichtskarten nannte man ihn den »Folterturm«.

Einst zog sich hier eine Galerie von der Ostseite her, die den alten Turm mit dem bewohnten Schloßgebäude verbunden hatte, von der nichts als ein loses Ziegelgewölbe übriggeblieben war. Nun war nichts mehr da, als die Fundamente, Geröll und verstreut umherliegende Säulenkapitäle aus Sandstein. Im Erdgeschoß des Turmes, unter dem Kreuzgewölbe, das eine Art Muschel bildete, lag »das angekettete Skelett«.

Wolf betrachtete es lange, mit den Ellbogen auf das Gitter gestützt. Dann wandte er sich zu Chlinow:

»Jetzt sehen Sie hierher!«

Tief unter ihnen lag im Mondlicht das Tal, von leichten Nebelschleiern bedeckt. Das Mondlicht spielte auf der Oberfläche des Flüßchens. Das Städtchen sah, von hier gesehen, wie ein Spielzeug aus. Kein einziges Fenster war beleuchtet. Dahinter aber brannten hunderte von Lichtern in den Anilinwerken. Weiße Rauchwolken stiegen gegen den Himmel und rote Feuer rissen sich aus den Schornsteinen. Von dort her hörte man auch von Zeit zu Zeit das Pfeifen von Lokomotiven und donnerartige Geräusche.

»Ich habe Recht. Nur von hier aus kann man mit dem Strahl schlagen,« sagte Wolf, »Sehen Sie: dort liegen die Depots der Rohmaterialien, dort, hinter dem Erdwall die Halbfabrikate – ganz frei! Jene langen Gebäude dienen der Herstellung von Schwefelsäure – auf russische Art, aus Schwefelkies. Und abseits, in den Gebäuden mit den runden Dächern, wird Anilin und alle die anderen teuflischen Stoffe hergestellt, die mitunter durch eigene Laune schon explodieren.«

»Gut Wolf, wenn man also voraussetzt, daß Garin den Apparat in der Nacht auf den achtundzwanzigsten aufstellen würde – müßte man doch bereits irgendwelche Vorbereitungsmaßnahmen bemerken?!«

»Man wird die Ruinen durchsuchen müssen. Ich nehme den Turm – Sie die Mauer und das Gewölbe. Im Grunde genommen, könnte man eigentlich für die Aufstellung keinen besseren Platz finden, als die Stelle, wo das Skelett sitzt.«

»Um sieben Uhr treffen wir uns im Gasthaus.«

»Gut so.«

19.

Nach sieben Uhr tranken Wolf und Chlinow auf der Holzveranda des Gasthauses »Zum angeketteten Skelett« Milch. Ihre nächtlichen Streifungen waren erfolglos geblieben. Schweigend saßen sie da, die Köpfe in die Hand gestützt. Während dieser letzten Tage hatten sie einander so gründlich ausstudiert, daß sie gegenseitig Gedanken lesen konnten. Chlinow, für Eindrücke empfänglicher und weniger geneigt, sich selbst zu vertrauen, hatte vielmals schon begonnen, den ganzen Gang ihrer Unternehmung von Anfang an nachzuprüfen, der Unternehmung, die ihn und Wolf von Paris bis in diese scheinbar ganz harmlose Gegend geführt hatte. Worauf gründete sich seine Ueberzeugung? Auf zwei bis drei Zeilen Zeitungsnotiz. Ob wir nicht am Ende die Genarrten bleiben werden?

Auf diese Frage antwortete Wolf:

»Der menschliche Verstand ist begrenzt. Aber es ist für das Gelingen einer Sache stets besser, sich auf den Verstand zu verlassen, als zu zweifeln. Und wenn schließlich der teuflische Plan Garins bloß ein Hirngespinst von uns bleibt, dann: Gott sei Dank! Dann haben wir wenigstens unsere Pflicht getan.

Der Kellner brachte eine Eierspeise und zwei Gläser Bier. Der Wirt erschien, – ein puterroter, dicker Kerl.

»Gut'n Morjen, meine Herren,« sagte er und wartete, asthmatisch pfauchend, wann seine Gäste ihren Appetit gestillt haben würden. Dann streckte er seine Hand gegen das Tal hin aus, das in seiner morgendlichen Feuchtigkeit noch hellblau glänzend unter ihnen lag: »Nun beobachte ich schon zwanzig Jahre lang … Die Sache geht zu Ende, das kann ich Ihnen schon sagen, meine Herrschaften … Ich habe die Mobilmachung mitgemacht … Auf diesem Wege da unten sind die Truppen marschiert, stramme deutsche Kolonnen … Siegfriede. So zogen sie aus, die Welt zu erobern … Mächtig, genau so, wie Tacitus sie beschrieben hat. Kerle, die Entsetzen einjagten, mit geflügelten Helmen. Ich versichere Ihnen, diese Flügel auf dem Kopf, die haben Deutschland stark gemacht. Also, – he, Ober, noch zwei Gläser für die Herrschaften – im Jahre vierzehn zogen die Siegfriede aus, um die Welt zu erobern. Nur die Schilde fehlten ihnen – erinnern Sie sich noch der alten, deutschen Kriegsbräuche? Kriegsgeschrei, mit dem Schild vor dem Mund, damit das Geheul noch schrecklicher dröhne! Ja, diese Kavallerie, wie saßen die Kerle im Sattel! Und was ist daraus geworden, frage ich?! Oder sollten wir es verlernt haben, im blutigen Kampf zu sterben? Ich habe auch gesehen, wie die Truppen heimkehrten. Zum Teufel, die Kavallerie saß noch genau so stramm im Sattel, wie damals … Die Deutschen wurden niemals im Felde geschlagen … In den Betten, neben ihren Herden, hat man sie mit dem Schwert durchbohrt …«

Der Wirt ließ seine weitgeöffneten Augen über die Gäste rollen, dann sah er zu den Ruinen hinüber. Sein Gesicht wurde ziegelrot. Langsam zog er aus der Tasche ein Päckchen Ansichtskarten und schlug sich damit während des Sprechens wiederholt auf die Handfläche:

»Sie waren doch in der Stadt?! Ich frage Sie: haben Sie dort auch nur einen einzigen Deutschen gesehen, der von höherem Wuchs ist, als fünfeinhalb Fuß. Und wenn diese Proleten von den Fabriken heimkehren, haben Sie gemerkt, daß unter ihnen auch nicht ein einziger ist, der es gewagt hätte, das Wort ›Deutschland‹! laut zu rufen? … Und in einer Weise, die kaum mehr auf ihre Herkunft schließen läßt, fauchen Sie vor ihren Biergläsern vom Sozialismus …«

Geschickt warf der Wirt das Päckchen Karten, das sich wie ein Fächer öffnete, auf den Tisch. Es waren Abbildungen des Skeletts allein, des Skeletts neben einem Deutschen mit geflügeltem Helm, des Skeletts mit dem Krieger aus dem vierzehnten Jahrhundert, in vollem Waffenschmuck.

»Fünfundzwanzig Pfennig das Stück, zwo Mark fünfzig das Dutzend« sagte der Wirt mit verächtlichem Stolz, »billiger bekommen Sie sie nirgends. Das ist noch gediegene Arbeit aus der Vorkriegszeit. Farbenphotographien … Und glauben Sie, diese kaum fünfeinhalb Fuß hohen Proleten, diese Feiglinge, würden mir meine Karten abkaufen? Pfui Teufel! … Es müßte denn sein, ich hätte Karl Liebknecht neben dem Skelett photographieren lassen …«

Er wurde wieder puterrot und begann plötzlich, zu lachen:

»Darauf können sie lange warten … Ober! Packen Sie für die Herrschaften in Originalkuverts je ein Dutzend Ansichtskarten! … da, meine verehrten Herren, man muß sich helfen, so gut es eben geht … Jetzt will ich Ihnen noch mein Modell zeigen, patentiert … Schon im August werden diese Dinge im Hotel »Zum angeketteten Skelett« zu hunderten verkauft werden … In dieser Hinsicht gehe ich im Schritt der Zeit, prinzipiell …«

Der Wirt ging fort und kehrte sogleich wieder mit einem großen Kasten zurück, ähnlich einer Zigarrenschachtel. Auf dem Deckel sah man in Brandmalere) – wieder das angekettete Skelett.

»Wollen Sie versuchen? Funktioniert durchaus nicht schlechter, als jeder Apparat mit Kathodenlampen.« Flink hatte er die Leitung aufgerollt und Hörer entfaltet, den Radioempfänger an einen Stöpsel angeschlossen, der unter dem Tische eingebaut war. – »Kostet drei Mark fünfundsiebzig, selbstverständlich ohne Hörer« – Er gab Chlinow die Hörer. »Wenn man will, kann man Berlin, Hamburg, Paris hören. Ich verbinde Sie jetzt mit dem Kölner Dom – dort ist eben Hochamt, da werden sie eine Orgel hören – fabelhaft … Drehen Sie das Hebelchen ein wenig nach links … Um Gottes Willen, mir scheint es, da stört schon wieder dieser verfluchte Stufer!«

»Wer stört?« fragte Wolf, sich über den Apparat beugend.

»Der ruinierte Schreibmaschinenfabrikant Stufer – ein Narr und Säufer … Vor zwei Jahren hat er in seiner Villa eine Radiostation errichten lassen. Dann ist er zugrunde gegangen. Und nun, vor kurzem, begann die Station wieder zu arbeiten …«

Chlinows Augen glänzten sonderbar. Er nahm den Hörer ab:

»Wolf zahlen Sie – gehen wir!«

Als sie sich ein paar Minuten später endlich von dem gesprächigen Wirt losgerissen hatten und durch die Gartentür des Wirtshauses gingen, umklammerte Chlinow mit seinen eisigen Fingern Wolfs Hand:

»Garin hat eben gesprochen …«

 

* * *


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