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Rede bei der Kriegserinnerungsfeier der kgl. Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin am 19. Juli 1895.
Hochansehnliche Versammlung!
Liebe Kollegen und Kommilitonen!
Uns Älteren ruft die heutige Feier die goldenen Tage unseres Lebens vor die Seele, die Tage, da Gottes Gnade unter Kampf und Not und Jammer allen Träumen, aller Sehnsucht unserer Jugend über jedes Hoffen hinaus die herrliche Erfüllung schenkte. Und doch, indem ich zu reden beginne, empfinde ich lebhaft, wie tief sich die Welt in diesem Vierteljahrhundert verwandelt hat. Nicht jede Zeit vermag das Große zu tun, nicht jede vermag es recht zu verstehen. Auf die Entscheidungsstunden der Geschichte folgt gemeinhin ein Geschlecht, das die eherne Stimme des gewaltigen Völkerbildners, des Krieges, noch im eigenen Herzen nachzittern fühlt und sich mit jugendlicher Begeisterung des Errungenen freut. Aber ohne die beständige Arbeit der Selbstbesinnung und Selbstprüfung schreiten die menschlichen Dinge nicht vorwärts. Neue Parteien mit neuen Gedanken treten auf; sie fragen zweifelnd oder höhnend, ob das erreichte Ziel der gebrachten Opfer wert gewesen. Die Feldherren der Schreibstube berechnen, was sich wohl auf dem geduldigen Papiere noch vollkommener hätte gestalten lassen; betriebsame Ährenleser spüren emsig all das Widrige und Häßliche auf, was sich, wie der Schwamm an den Eichbaum, an jedes mächtige Menschenwerk ansetzt, und über der Fülle des Tadels gehen leicht Freude und Dank verloren. Es bedarf meist einer langen Frist, bis sich ein Volk entschließt, das Große seiner Vergangenheit wieder im Großen zu sehen. Der hohe Sinn des Befreiungskrieges ist der Mehrzahl der Deutschen doch erst fast ein halb Jahrhundert nachher durch die Werke von Häußer, Droysen, Bernhardt, Sybel erschlossen worden. Lassen Sie uns heute von allem Kleinlichen absehen und nur der sittlichen Mächte gedenken, die in dem glücklichsten aller Kriege walteten.
Als Feldmarschall Moltke einst sein Regiment, die Kolbergischen Grenadiere, besuchte, da wies er auf das Bildnis Gneisenaus, des ersten Chefs, der vormals diese ehrenreiche Truppe hinter den Wällen der unbesiegten pommerschen Festung aus den verlaufenen Trümmern des alten Heeres gebildet hatte, und sagte: »Zwischen uns beiden ist ein großer Unterschied. Wir haben nur Siege zu verzeichnen gehabt. Er hat die Armee nach einer Niederlage zum Siege geführt. Diese höchste Probe haben wir noch nicht bestanden.« Wer kann diesen Ausspruch hören, ohne die tiefe Bescheidenheit und zugleich den hohen Ehrgeiz des Feldmarschalls zu bewundern? Aber nachsprechen dürfen wir die schönen Worte nicht; wir danken dem Helden vielmehr, daß er sie durch seine Taten selbst widerlegt hat. So, gerade so, unfehlbar wie der Hammer Thors mußte das deutsche Schwert schmetternd niederfallen, so, wider alle Erfahrung, mußte das wandelbare Kriegsglück zur Unwandelbarkeit gezwungen werden und Kranz auf Kranz um unsere Fahnen winden, wenn dies bestverleumdete und bestverhöhnte aller Völker wieder die rechte Stelle in der Staatenwelt erringen sollte. Wir waren die Jahrhunderte entlang durch die weltbürgerliche Macht unseres römischen Kaisertums, wie die Italiener durch ihr Papsttum, in der einfachen Arbeit nationaler Politik gehemmt und geschädigt worden; wir mußten dann in unserem Staatenbunde mehrere ausländische Mächte mittaten lassen und sahen uns zugleich angekettet an eine halbdeutsche Macht, an eine verhüllte Fremdherrschaft, deren Unwahrheit ein großer Teil der Nation, befangen in alten teueren Erinnerungen, niemals erkennen wollte. Der Ruhm der Unbesiegbarkeit, den einst niemand den Fahnen Friedrichs zu bestreiten gewagt, war durch alle die herrlichen Schlachten der Befreiungskriege nicht wiederhergestellt; denn immerdar höhnten die Fremden: als die Preußen bei Jena allein standen, wurden sie geschlagen, nur im Bunde mit anderen Mächten siegten sie wieder! Und dabei wuchs und wuchs in der Nation das Bewußtsein einer unermeßlichen Kraft, einer lebendigen, unzerstörbaren Gemeinschaft des gesamten geistigen und wirtschaftlichen Lebens. Ein Volk in so beispiellos schwieriger Lage, so stark in seinem berechtigten Selbstgefühl und so schwach durch seine jämmerliche Bundesverfassung, mußte notwendig in verworrene, ziellose Parteikämpfe, in alle Kinderkrankheiten des politischen Lebens verfallen. Im Ausland aber war unter Millionen nur einer, unser treuer Freund Thomas Carlyle, der in dem Wirrwarr unserer Parteiung den Adel der deutschen Volksseele liebevoll erkannte. Sonst stimmten alle überein in dem Gedanken, daß aus uns nichts werden dürfe, daß diese Mitte des Weltteils, auf deren Schwäche die alte Staatengesellschaft so lange beruht hatte, niemals erstarken solle. Wir waren den Fremden nur die lächerlichen festlustigen Sanges- und Schützenbrüder, und der deutsche Name Vaterland galt in England schlechthin als Schimpfwort. Als Preußen dann die alten Siegesbahnen des großen Kurfürsten und des großen Königs wieder eingeschlagen, unsere Nordmark befreit und im Schlachtendonner von Königgrätz die Fremdherrschaft des Hauses Österreich zertrümmert hatte, da blieb Europa noch weit davon entfernt, die neue Ordnung der deutschen Dinge anzuerkennen. Wir hatten vorzeiten nach der Weltherrschaft des römischen Reiches getrachtet und waren dann durch die grausame Gerechtigkeit der Geschichte lange zu einem leidenden Weltbürgertum verurteilt worden, so daß unser Boden den Tummelplatz abgab für die Heere und das diplomatisch? Ränkespiel aller Völker. Sollte das also bleiben?
Was wir brauchten, war ein ganzer, unbestreitbarer, allein durch deutsche Kraft errungener Sieg, der die Nachbarn zwang, die freie Mündigkeit dieser Nation endlich zu achten. Das hat König Wilhelm, der so oft seinem Volke das Wort von den Lippen nahm, recht begriffen, als er in seiner Thronrede sagte: »Hat Deutschland Vergewaltigungen seines Rechts und seiner Ehre in früheren Jahrhunderten schweigend ertragen, so geschah es nur, weil es in seiner Zerrissenheit nicht wußte, wie stark es war.« Wir waren längst nicht mehr das arme mißhandelte Volk von 1813, das seine Fahnen geschändet, seine Felder verwüstet, seine Städte geplündert sah, das in heiligem Zorne betete: Rettung vor dem Joch der Knechte! und dann, auf das Ärgste still gefaßt, den ungleichen Kampf wagte. In heller Freude vielmehr erhob sich auf des Königs Wink eine freie, starke, stolze Nation; sie kannte ihre Kraft, aus dem brausenden Getöse der Volksversammlungen und des Straßenlärmes, der Zeitungen und der Flugschriften erklang übermächtig der eine Ruf: wir müssen, wir werden siegen. Dichter haben den greisen Herrscher, wenn er einherritt vor seinen Paladinen, wohl mit den Heerkönigen des germanischen Altertums verglichen. König Wilhelm war mehr, er war ein Held unserer Zeit, der gebietende monarchische Führer einer ungeheuren demokratischen Massenbewegung, die alle Höhen und Tiefen unseres Volkes erschütterte und ihres Zieles sicher über alle Bedenken zaudernder Höfe im Sturme hinwegschritt. Das verstand sich von selbst, daß die alten treuen Adlerlande Preußens freudig zu den Waffen griffen. Hier sprach man noch auf jedem Bauernhofe vom alten Fritz und vom alten Blücher. Hier hingen selbst in den französischen Kirchen die Tafeln mit dem Eisernen Kreuz und der Inschrift: Morts pour le roi et la patrie ; und die langen Reihen der französischen Namen darunter erzählten, wie tief ein edler Staat edle Fremdlinge mit seinem Geiste zu durchdringen vermag. Aber auch in den kleinen Staaten, die so lange der Siegesfreude entbehrt hatten und jetzt erst lernten, was ein Volk in Waffen ist, erwachte überall der gleiche Eifer und die gleiche Zuversicht.
Dann fügte es ein gnädiges Geschick, daß gleich beim Beginn des Krieges das Schuldbuch deutschen Bruderstreites zerrissen, alle Sünden alten Haders für immer abgetan wurden. Die Bayern, die schon dreimal der Freundschaft Preußens die Rettung ihres Staates verdankten, neuerdings aber, durch die Verblendung des Hofes, sich ihrem alten natürlichen Bundesgenossen ganz entfremdet hatten, halfen jetzt, von Preußens Kronprinzen geführt, die ersten Siege des Feldzuges bei Weißenburg und Wörth mit erfechten. Unser Fritz mit seinem gütigen, strahlenden Lächeln ward ihrer aller Liebling, er schlug die Brücke zwischen den Herzen von Süd und Nord, und nicht lange, so nannte der Bayer den Preußen seinen treuesten Bruder. Einst hatte Moritz von Sachsen das Bollwerk Lothringens den Franzosen verraten. Jetzt führten kursächsische Regimenter, die Schuld der Väter edel sühnend, bei St. Privat die letzten Schläge in den Schlachten um Metz; und ihr Kronprinz Albert, der vor vier Jahren noch bei Königgrätz den Rückzug des geschlagenen Heeres ritterlich gedeckt hatte, erwies sich nunmehr als der besten einer unter den Führern des preußisch-deutschen Heeres. Der Neid und die Scheelsucht der deutschen Stämme verschwanden vor dem leidenschaftlichen Wetteifer guter Kameraden und Blutsfreunde. Nun gar an die ängstliche Schonung der preußischen Garden, die noch im Jahre 1814 so viel Mißmut erregt hatte, mochte niemand auch nur denken. Die Garde blutete und kämpfte, schwerer als viele andere Korps, und wenn einer klagte, so geschah es nur, weil er fand, daß seine Truppe nicht oft genug ins Feuer gekommen sei. Mit einem solchen Heere ließ sich alles wagen; jeder General trachtete nach dem stolzen Vorrecht der Initiative, das König Friedrich seinen Preußen zuerkannte. Ungewollt, ohne Plan, und doch notwendig geboten durch den Charakter unseres Heeres, entbrannte die furchtbare Schlacht um die Höhen von Spichern, weil jeder Korpsführer kurzerhand dem Donner der Kanonen entgegenging. Einen Tag früher als ihnen befohlen war, zogen die Brandenburger auf das linke Ufer der Mosel und versperrten dann den langen Sommertag hindurch, allem, erst spät unterstützt, dein gesamten feindlichen Heere den rettenden Rückzug, bei Mars la Tour, in der heldenhaftesten Schlacht des ganzen Krieges, also daß zwei Tage nachher jener verwegene, ungeheuere Kampf mit verkehrter Front möglich wurde, der unsere Scharen, wenn sie nicht siegten, mitten ins feindliche Land hinausgeschleudert hätte. Als das eine Heer in den Wällen von Metz eingeschlossen war, begann alsbald – so sagten die Musketiere – das große Kesseltreiben gegen das zweite. Bei Sedan überboten die Enkel alles, was ihre Vorfahren einst von der Paviaschlacht der frommen Landsknechte gesungen hatten: der Kaiser und sein letztes Heer streckten die Waffen.
Bis dahin hatten die Unseren in zerschmetternden Angriffen, wie es der stolzen preußischen Überlieferung entsprach, ein wohlgeschultes Heer bekämpft, das zum guten Teile aus alten sieggewohnten Berufssoldaten bestand, aber der Kopfzahl des Gegners nachstand. Jetzt erwuchs ihnen plötzlich eine ganz andere, mühevollere, dem preußischen Wesen weniger zusagende Aufgabe. Es begann die in aller Geschichte beispiellose Belagerung einer mit fanatischem Mute verteidigten Millionenstadt. Derweil die Deutschen die beständigen Ausfälle des weit überlegenen Pariser Volksheeres zurückschlugen, drängten von allen Seiten her zum Entsatze der Hauptstadt neue Heere heran, unzählbare Massen, die Blüte der französischen Jugend, Trümmer der alten Armee und wüstes, zuchtloses Gesindel in krausem Gemenge. Gegen sie mußte der Belagerer selber große Ausfallskämpfe führen, durch kühne Vorstöße weithin bis zum Kanal und zur Loire. Wir Deutschen dürfen Gambetta wahrlich nicht, wie manche seiner Landsleute in der Hitze des Parteikampfes, den Namen des wütenden Narren geben. Für die Rettung des Vaterlandes das unmögliche versuchen, bleibt immer groß. Und schlechthin unmöglich waren die Pläne des Diktators nicht, der mit seinem revolutionären Ungestüm immer neue Armeen aus dem Boden stampfte und die heiße Vaterlandsliebe seines Volkes bis zur Wut des Rassenkrieges erhitzte. Die reichen, in langer Kulturarbeit angesammelten wirtschaftlichen Kräfte des vom Kriege noch nicht berührten südlichen Frankreichs schienen unerschöpflich; aber die sittlichen Kräfte sind es nicht, bei den Völkern so wenig, wie bei dem einzelnen. Den Heeren Frankreichs fehlten von vornherein die Treue, das Vertrauen, der Rechtssinn, die allein dem Geschlagenen einen Rückhalt gewähren, und als nun aller flammende Mut, alle Wucht erdrückender Massen, alle Überlegenheit der Feuerwaffen des Fußvolks in zwanzig Schlachten das Kriegsglück nimmer wenden konnte, als die Deutschen hinter dem Schleier ihrer weit dahinfegenden Reitergeschwader immer wieder unverhofft hervorbrachen, da packte auch tapfere Herzen der preußische Alp, 1e cauchemar prussien .
Frankreich hatte die führende Stellung in Europa schon seit dem Sturze des ersten Kaiserreichs verloren und sie dann für einige Jahre scheinbar zurückgewonnen durch die diplomatische Kunst des dritten Napoleon. Sobald Preußens böhmische Siege ein gerechtes Gleichgewicht der Mächte wiederherzustellen drohten, da bemächtigte sich jener lärmenden Pariser Kreise, welche von jeher die willenlose Provinz beherrschten, ein phantastischer Rausch nationalen Hochmuts; der alte Wahn kam wieder auf, daß Frankreichs Größe auf der Schwäche seiner Nachbarn beruhe. Die öffentliche Meinung der Unberufenen nötigte den kranken Kaiser wider seinen Willen zur Kriegserklärung, sie meisterte und störte vorlaut jede Bewegung der Heere, sie erzwang den verhängnisvollen Zug nach Sedan. Nach den ersten Niederlagen fiel der Kaiserthron, der keine andere Stütze besaß als das Glück, und die Parteiherrschaft der neuen revolutionären Regierung konnte weder Gerechtigkeit üben noch allgemeines Ansehen erlangen. Daß der Befehlende befiehlt und der Gehorchende gehorcht, ward in dem allgemeinen unheimlichen Mißtrauen fast vergessen. Jedes Mißgeschick galt für Verrat, auch als der Krieg sich seine Männer gebildet und die Armee der Loire in Chanzy einen Feldherrn gefunden hatte; und zuletzt noch, nach der Übergabe von Paris, zerfleischten sich die Besiegten unter den Augen der Sieger selbst in einem gräßlichen Bürgerkriege.
Selten hat sich so klar gezeigt, daß es der Wille ist, der in den Daseinskämpfen der Völker entscheidet, und in dem Einmut des Wollens waren wir die Stärkeren. Dies Frankreich, das so oft unfern inneren Zwist genährt und mißbraucht hatte, stand mit einem Male der lebendigen Einheit der Deutschen gegenüber; denn ein gerechter Krieg entfesselt alle natürlichen Kräfte des Gemüts, neben dem Hasse auch die Macht der Liebe. Unverbrüchliches Vertrauen verband die deutsche Mannschaft mit ihren Offizieren und alle mit der obersten Heeresleitung. Die Schwaben, Badener und Bayern, die uns bisher doch nur als Feinde gekannt hatten und erst durch das lose Band völkerrechtlicher Vertrage mit uns verbunden waren, sagten ganz ebenso zuversichtlich wie die Preußen: Der König und sein Moltke wird es schon machen. Welch ein Hort und Halt war dies unbedingte Vertrauen für die Masse der gemeinen Mannschaften, als sie nach dem Siegesjubel des Sommers nun im Winter die ganze entsetzliche Prosa des Krieges kennen lernten: Hunger, Frost, Ermattung und die notgedrungene Unbarmherzigkeit gegen das feindliche Volk, als sie nach kurzer Nachtrast in den schneeigen Ackerfurchen immer wieder durch den Klang der Trommeln und der Querpfeifen zu neuen Gefechten geweckt wurden, zu endlosen Märschen, deren Sinn und Zweck sie nicht begriffen. Manche lernten selbst den Wert ihrer eigenen Siege erst nachträglich, wie durch Hörensagen kennen, so die tapferen Sechsundfünfziger, die in blutigem Nachtgefechte die Mobilgarden der Bretagne aus dem Hofe La Tuilerie hinausschlugen, ohne zu ahnen, daß sie damit der dreitägigen Schlacht von Le Mans die entscheidende Wendung gaben. »Guter Wille, Ausdauer und Mannszucht überwanden alle Schwierigkeiten« – so urteilt Moltke einfach. Dieser gute Wille aber war nur möglich in einem frommen Kriegsvolk. In schlichter Demut, ohne viel Reden und Beten, beugten sich die Männer vor dem Unerforschlichen, der auf dem Schlachtfelde die Halme mäht, und wie oft vernahm der Feldprediger, wenn er den letzten Trost spendete, von den Lippen der Sterbenden rührende Geständnisse einer tiefen, schamhaften Gottesfurcht. Auch den Daheimgebliebenen ward das Herz freier, weiter, liebreicher, der Ernst der Zeit hob sie über die Selbstsucht des Werktagstreibens empor. Der Streit der Parteien verrauchte, vereinzelte vaterlandslose Toren wurden rasch zum Schweigen gebracht, und je länger das Ringen währte, um so fester vereinigte sich die gesamte Nation in dem Entschlüsse, daß dieser Kampf uns das Deutsche Reich und die verlorene alte Westmark wiederbringen müsse. Hundertunddreißigtausend deutsche Männer fielen dem unersättlichen Kriege zum Opfer, endlos schienen die Züge der nachrückenden alten Landwehrmänner, mehr als eine Million unserer Krieger überschritt nach und nach die französische Grenze. Alle kamen, es mußte sein. Wenn die Todesnachrichten aus dem Westen einliefen, dann sagten die Väter und die Brüder: viel Trauer, viel Ehre; und auch den Müttern, den Frauen, den Schwestern blieb im schweren Herzeleid doch der Trost, daß ihrem kleinen Hause ein Blatt gehöre in dem schwellenden Kranze deutschen Ruhmes.
Ideen allein entzünden kein nachhaltiges Feuer im Herzen des Volkes, sie bedürfen der Männer. Und wohl war es ein Glück, daß die Nation einmütig aufblicken konnte zu dem greisen Herrscher, dessen ehrwürdiges Bild kommenden Geschlechtern immer größer erscheinen wird, je näher die historische Forschung herantritt. Seine Majestät sieht alles – so wetterten die Feldwebel ihre säumigen Leute an, und sie sagten die Wahrheit, Als ihn das Schicksal im hohen Alter auf den nie gesuchten Thron gehoben, da empfand er bald, daß die Vorsehung ihn und sein Heer zum Werkzeug für ihre Fügungen bestimmt hatte. Wenn ich das nicht glaubte, sagte er ruhig, wie hätte ich sonst die Last dieses Krieges tragen können? Er hatte als Jüngling das Volk in Waffen bewundert, da es sich nach Scharnhorsts Plänen im Drange der Not halbgeordnet zusammenscharte, er halte als Mann mit Scharnhorsts Erben, Boyen, beständig erwogen, wie diese unfertigen Gedanken sich lebenskräftig ausgestalten könnten, und endlich als König unter schweren parlamentarischen Kämpfen die dreijährige Dienstzeit der verstärkten Linientruppen durchgesetzt, die uns ein zugleich volkstümliches und kriegerisch ausgebildetes Heer sicherte. Er kannte jedes kleine Räderwerk der riesigen Maschine, jetzt sah er zufrieden, wie sie arbeitete. Allein, ohne Kriegsrat, faßte er seine Entschlüsse nach Moltkes Vorträgen. Früher und sicherer als alle seine Umgebungen ahnte er, daß die Schlacht von Sedan den Krieg entschieden, aber noch lange nicht beendigt hatte. Er kannte den glühenden Nationalstolz der Franzosen, er hatte vor allen anderen die reiche, in starkem Gedächtnis bewahrte Erfahrung des Greisenalters voraus; noch immer sah er leibhaftig vor sich, wie einst vor sechsundfünfzig Jahren die bewaffneten Bauernscharen der Champagne unter den Augen der Preußen aus der Erde aufgestiegen waren. Früher und klarer als alle durchschaute er die Gefahr, die von der Loire her drohte und befahl die Verstärkung des Heeres im Süden. So blieb er bis zum Ende der Kriegsherr, und als er den Boden Frankreichs verließ, da gedachte er, nach solchen Siegen, gewissenhaft des ewigen Wandels der menschlichen Dinge und ermahnte die Armee des nunmehr geeinten Deutschlands, daß sie sich nur bei stetem Streben nach Vervollkommnung auf ihrer Stufe erhalten könne.
Es ist die anheimelnde Schönheit der deutschen Geschichte, daß wir nie einen jede Persönlichkeit niederdrückenden Napoleon gekannt haben. In allen großen Zeiten standen neben unseren führenden Helden freie Männer von fester Eigenart und sicherem Stolze, und König Wilhelm verstand, ein geborener Herrscher, starke, in ihrem Fache ihm selber überlegene Talente, jedes am rechten Ort, frei schalten zu lassen. Menschlich würdiger ist nichts als die treue Freundschaft, welche den Kriegsherrn mit dem Schlachtendenker verband, dem geistigen Leiter der Heere, dem wunderbaren Manne, dem die verschwenderische Natur neben dem untrüglichen Blick und der genialen Tatkraft des großen Feldherrn auch die Schärfe eines fast den gesamten Bereich menschlichen Wissens umfassenden Verstandes und den Künstlersinn des klassischen Schriftstellers schenkte. Und neben Moltke stand Roon, der Gestrenge, bitter Gehaßte; hart und unerschütterlich in seinen Grundsätzen, wie ein gottseliger Dragoner Oliver Cromwells, hatte er die Neugestaltung des Heeres nach den Vorschriften seines Kriegsherrn bewirkt, jetzt nannten ihn die bekehrten Gegner den neuen Waffenschmied Deutschlands. Und dann die Führer der Armeen und der Korps. Neben den Prinzen: Goeben, der ernste Schweiger, von dem seine Leute sagten, er könne nicht sprechen, aber auch nicht irren – sie ahnten nicht, daß seine Feder ganz im Stil der Kommentarien Cäsars zu reden wußte. Dann Konstantin Alvensleben, der echte Sohn des märkischen Kriegervolkes, munter und gütig, aber furchtbar in der Schlacht, stürmisch, unaufhaltsam, bis zuletzt noch bei Le Mans das Hurra Brandenburg! seiner Scharen erklang. Gott verzeih' mir's, sagte er nach dem Todesritte von Mars la Tour, ich fragte nicht, was auf oder unter der Erde lag, ich dachte nur an die Zukunft. Dann der geistvolle, feurige Franke von der Tann, der jetzt vollenden half, was er einst im brausenden Jugendmut als Führer der schleswig-holsteinischen Freischaren versucht hatte – und so weiter, eine dichte Wolke kühner und denkender Männer, die unser Volk, wie die Helden des Befreiungskrieges, im Laufe der Jahre immer lieber gewinnen wird. Wie der König selbst so schlicht und sicher auftrat, daß die Schmeichler der Höfe sich nie an ihn heranwagten, so zeigten auch seine Generale, sehr wenige ausgenommen, das anspruchslose Wesen, das deutscher Empfindung wohl tut. Wandern Sie hinaus durch den Wald nach dem kleinen Jagdhaus von Dreilinden. Dort im Gebüsch wohnte der Feldherr, dem die Meldung erstattet Wurde: » Monseigneur, j'ai l'ordre de vous rendre la garde impériale «, Prinz Friedrich Karl, der die größte Kapitulation der Weltgeschichte erzwang.
Endlich kam die Zeit der Ernte. Paris ergab sich, der letzte verzweifelte Vorstoß der Franzosen gegen das südliche Elsaß scheiterte kläglich. Vier große Armeen waren gefangen oder entwaffnet, und an dem unermeßlichen Erfolge hatten alle deutschen Stämme den gleichen, schönen Anteil. In diesen letzten Wochen des Krieges trat der Mann wieder in den Vordergrund deutscher Geschichte, der Gewaltige, von dem die Truppen beim Beiwachtfeuer so oft gesprochen hatten. Solange es eine Geschichte gibt, haben die Massen des Volks das Gemüt und die Tatkraft allezeit höher geschätzt als den Geist und die Bildung; die allergrößte, die schrankenlose Volksgunst ward immer nur den Helden der Religion und den Helden des Schwertes zuteil. Der einzige Staatsmann, der eine Ausnahme zu bilden scheint, bestätigt nur die Regel. Dem Volke war Bismarck nie etwas anderes als der reckenhafte Kriegsmann mit dem erzenen Helm und dem gelben Kragen der Kürassiere von Mars la Tour, so wie ihn die Maler auf seinem Ritte durch die Pappelallee bei Sedan darstellen. Er hatte einst das rettende Wort gesprochen: Los von Österreich; er hatte durch die Verträge mit den Südstaaten den unausbleiblichen neuen Krieg umsichtig vorbereitet. Als er heute vor fünfundzwanzig Jahren dem Reichstage die Kriegserklärung Frankreichs vorlas, da war allen zu Mute, als ob er zuerst den Ruf erhöbe: Alldeutschland nach Frankreich hinein, und allen schien es, als ob er wie ein Herold den deutschen Geschwadern in Feindesland voranritte. Nunmehr zog er die Summe aus den großen Kämpfen, er brachte Metz und Straßburg ihrem Vaterlande wieder und vereinbarte in mühseligen Unterhandlungen die Verfassung für das neue Reich. Sie schien ganz neu und rief doch die altheiligen unvergessenen Empfindungen deutscher Kaisertreue wieder wach. Sie schien verwickelt bis zur Formlosigkeit und war doch im Grunde einfach, weil sie eine unendliche Weiterbildung ermöglichte. Dem Ausland gegenüber gab es fortan nur ein Deutschland, und trotz manchem Bedenken hofften die Einsichtigen alle: wir haben den Kaiser, das Reich wird sich auswachsen.
Fast allen den alten Parteien, die sich bisher auf unserem Boden bekämpft, brachte dies Werk eine Befriedigung und Versöhnung. Sie alle hatten gefehlt und geirrt, und fast alle fanden in der Reichsverfassung einige ihrer eigensten Gedanken wieder. Gesündigt hatte vornehmlich unser Fürstenstand. Er war im Verlauf einer wechselreichen Geschichte oft ein Hüter deutscher Glaubensfreiheit und der reichen Mannigfaltigkeit unserer Kultur gewesen, aber oft auch durch dynastischen Neid und Stolz betört worden bis zum Verrat, und gerade um die Mitte des Jahrhunderts stand er in seines Hochmuts Blüte; denn was anderes bezweckte der Krieg von 1866, als den Staat des großen Friedrich zu zerschlagen, ihn hinabzureißen in die Erbärmlichkeit deutscher Kleinherrschaft? Da rief die Entthronung der Souveräne von Hannover, Kurhessen, Nassau den Fürsten ein donnerndes Memento mori zu. Sie besannen sich wieder auf sich selbst, auf die schönen Überlieferungen altfürstlicher Reichsgesinnung; sie scharten sich, sobald der Krieg begann, fest um den führenden König. Darum konnten sie, nach altem deutschen Fürstenrecht, nun selber ihren Kaiser küren und sich den gebührenden Anteil an der neuen Reichsgewalt wahren. Tort in Frankreich wurde der erste Grund gelegt zu jenem unsichtbaren deutschen Fürstenrate, der etwas anderes ist als der Bundesrat, der in keinem Artikel der Reichsverfassung verzeichnet steht und doch handgreiflich, immer zum Heile des Vaterlandes wirkt; noch niemals hat in ernster Stunde den Hohenzollernschen Kaisern die treue Hilfe der Fürsten gefehlt. Die konservativen Parteien Preußens waren mutig eingetreten für die Umgestaltung des Heeres, doch der deutschen Politik des neuen Bundeskanzlers anfangs nicht ohne Mißtrauen gefolgt; jetzt sahen sie die Kriegsherrlichkeit ihres Königs gefestigt und erkannten bald, daß die revolutionäre Idee der deutschen Einheit in Wahrheit nichts anderes bedeutete, als den Sieg der monarchischen Ordnung über dynastische Anarchie. Eine späte Genugtuung war den alten Gothaern beschieden, den verlachten Professoren der Frankfurter Paulskirche, Wohl hatten sie geirrt, als sie das Kaisertum durch den Machtspruch eines Parlaments zu erzwingen dachten; jetzt blieb ihnen doch die Ehre der ersten Pfadfinder des nationalen Gedankens, Wort für Wort ging in Erfüllung, was ihr Führer Dahlmann im Frühjahr 1848 gesagt hatte: Wenn Deutschlands einträchtiger Fürstenrat einen Fürsten seiner Wahl als erbliches Reichsoberhaupt dem Reichstage zuführe, dann würden Freiheit und Ordnung selbander bestehen. Selbst die Demokraten, sofern sie nicht ganz in den Wolken schweiften, durften sich eines Erfolges freuen. Ihr bester Mann, Ludwig Uhland, hatte doch recht behalten, als er weissagte: es wird kein Haupt über Deutschland leuchten, das nicht mit einem reichlichen Tropfen demokratischen Öls gesalbt ist. Ohne die Mitwirkung der Parlamente des norddeutschen Bundes und der Südstaaten konnte dies neue Kaisertum nicht entstehen.
Am schwersten waren die Anhänger Österreichs, die Großdeutschen geschlagen, so schwer, daß selbst ihr Parteiname spurlos verschwand. Aber die Ehrlichen unter ihnen hatten den »kleindeutschen Gegenkaiser« doch nur darum bekämpft, weil sie fürchteten, ein preußisches Kaisertum würde zu schwach sein für die Weltstellung der Nation. Und wie stand es jetzt? Wer ein Deutscher sei, das konnte niemand je bezweifeln; den Stempel unserer Art und Unart trugen wir alle so deutlich auf die Stirn geprägt, wie vormals die geistes- und schicksalsverwandten Hellenen. Wo aber Deutschland lag, das blieb durch die Jahrhunderte immer bestritten; seine Grenzen wechselten beständig oder verschwammen im Nebel des Reichsrechts. Jetzt erst entstand ein deutscher Staat, der seine Grenzen kannte. Er hatte die Marken des Südostens verloren, die von langeher mit dem Reiche nur lose zusammenhingen, aber dafür die avulsa imperii am Rhein und an der Mosel endlich zurückerobert und durch den Staat der Hohenzollern im Osten und Norden weite Gebiete gewonnen, die dem alten Reiche niemals oder kaum dem Namen nach angehörten: Schlesien, Posen, das Ordensland Preußen, Schleswig. Er war mächtiger als das alte Reich seit sechs Jahrhunderten je gewesen; wer durfte ihn noch Kleindeutschland schelten? Aus dem ewigen Wogen und Fluten der Völker im Herzen Europas waren schließlich zwei große Kaiserreiche hervorgegangen, das eine rein deutsch und kirchlich gemischt, das andere katholisch und von vielen Nationen bewohnt, die doch deutscher Sprache und Bildung nicht entbehren konnten. Ein solcher Ausgang vielhundertjähriger Kämpfe mußte selbst der Phantasie großdeutscher Schwärmer vorläufig genügen. Die ungeheure Mehrheit der Nation stimmte jauchzend ein, als im Schlosse von Versailles der Heilruf der Fürsten und des Heeres den Kaiser begrüßte, der in seiner tiefen Bescheidenheit die neue Würde nur zögernd annahm. –
Nicht alle Blüten jener hocherregten Tage sind zu Früchten ausgereift. Wir hofften damals, der begreifliche Groll der Besiegten würde in zwei Jahrzehnten mindestens sich mildern und ein freundnachbarliches Verhältnis zwischen den beiden, durch gemeinsame Kulturzwecke so eng verbundenen Nationen wieder möglich werden. Wir hofften umsonst. Unerwidert, aber unversöhnlich klingen uns über die Berge des Wasgaus die Stimmen des Hasses entgegen; ernste Gelehrte sogar muten uns zu, die altdeutsche, durch Hekatomben unserer Männer wiedergewonnene Westmark freiwillig herauszugeben, eine freche Beleidigung, die wir nur im Bewußtsein unseres guten Rechtes mit kalter Verachtung erwidern können. Es ist nicht anders, der Krieg von 1870 wirkt in der Gestaltung der Staatengesellschaft viel länger nach als einst die Befreiungskriege. Der unbelehrbare Haß der Nachbarn bannt unsere auswärtige Politik auf eine Stelle, erschwert ihr die überseeische Machtentfaltung. Wir hofften auch, sobald die alte lähmende Eifersucht schwände, Österreich und Deutschland als freie Verbündete selbständig nebeneinander ständen, dann würde unser Volkstum an der Donau kräftiger aufblühen. Auch dies war ein Irrtum. Rücksichtslos vollstrecken die subgermanischen Nationen des Donaureichs das alte Gesetz des historischen Undanks gegen ihre deutschen Kulturbringer, und furchtbar ernst tritt an uns die Mahnung heran, mindestens daheim, wo wir die Herren sind, jeden Zollbreit deutscher Gesittung gegen ausländische Gewalten zu behaupten. Es war der Lauf der Welt, daß nach dem Siege der Waffenstillstand der deutschen Parteien gekündigt wurde. Immer roher und gröber gestalteten sich von Jahr zu Jahr unsere Parteikämpfe; sie bewegen sich selten um politische Gedanken, meist um wirtschaftliche Interessen, sie schüren den Klassenhaß, bedrohen den Frieden der Gesellschaft.
Diese Vergröberung der Politik hat ihren tiefsten Grund in einer bedenklichen Wandlung unseres gesamten Volkslebens. Vieles, was wir sonst für eine Eigentümlichkeit des sinkenden Altertums hielten, ist in Wahrheit die Ausgeburt jeder überbildeten städtischen Kultur und wiederholt sich heute vor unseren Augen. Eine demokratisierte Gesellschaft trachtet nicht, wie die Schwärmer wähnen, nach der Herrschaft des Talents, das immer aristokratisch bleibt, sondern nach der Herrschaft des Geldes oder des Pöbels, oder auch nach beiden zugleich. Erschreckend schnell schwindet dem neuen Geschlechte, was Goethe den letzten Zweck aller sittlichen Erziehung nannte, die Ehrfurcht: die Ehrfurcht vor Gott, die Ehrfurcht vor den Schranken, welche die Natur den beiden Geschlechtern und der Bau der menschlichen Gesellschaft den Begierden gesetzt hat; die Ehrfurcht auch vor dem Vaterlande, das dem Wahnbilde einer genießenden geldzählenden Menschheit weichen soll. Auf je weitere Kreise die Bildung sich ausdehnt, um so mehr verflacht sie; der Tiefsinn der antiken Welt wird verachtet, nur was den Zwecken des nächsten Tages dient, scheint noch wichtig. Wo jeder über jedes, nach der Zeitung und dem Konversationslexikon mitredet, da wird die schöpferische Kraft des Geistes selten und mit ihr der schöne Mut der Unwissenheit, der den selbständigen Kopf auszeichnet. Die Wissenschaft, die einst zu weit in die Tiefe hinabsteigend, das Unergründliche zu erweisen suchte, verliert sich in die Breite, und nur vereinzelt ragen die Edeltannen ursprünglicher Gedankenkraft aus dem niederen Gestrüpp der Notizensammlungen empor. Der übersättigte Geschmack, der das Wahre nicht mehr versteht, hascht nach dem Wirklichen, schätzt die Wachsfigur höher als das Kunstwerk. In der Langeweile eines leeren Daseins gewinnt der Zeitvertreib, die erkünstelte Natürlichkeit der Wetten und der Kampfspiele eine unverdiente Bedeutung, und wenn wir sehen, wie unmäßig man heute die Helden des Zirkus, die Tausendkünstler der Spielplätze überschätzt, so denken wir voll Ekels an das kostbare riesige Mosaikbild der 28 Faustkämpfer aus den Thermen des Caracalla.
Das alles sind ernste Zeichen der Zeit. Aber niemand steht so hoch, daß er sein Volk nur anklagen dürfte; wir Deutschen zumal haben uns durch maßlose Tadelsucht oft an uns selbst versündigt. Und niemand darf sagen, daß er sein Volk wirklich kenne. Im Frühjahr 1870 ahnten die Frohesten selber nicht, daß unsere Jugend schlagen würde, wie sie schlug. So wollen auch wir hoffen, daß heute in den Tiefen unseres Volkes verjüngende Kräfte wirken, die wir nicht ahnen. Und wieviel Unvergängliches ist uns trotz alledem aus dem großen Kriege geblieben. Das Reich steht aufrecht, stärker als wir jemals erwarteten; sein mächtiges Wirken spürt jeder Deutsche selbst in den Gewohnheiten des Alltags, im Münzenanstausch des Marktes. Wir alle können ohne das Reich nicht mehr leben, und wie stark der Reichsgedanke die Herzen durchglüht, das zeigt uns die dankbare Liebe, welche den ersten Reichskanzler über die Bitternis seiner alten Tage zu trösten sucht. In meiner Jugend sagte man oft: wenn die Deutschen Deutsche werden, gründen sie das Reich auf Erden, das der Welt den Frieden bringt. So harmlos empfinden wir nicht mehr. Wir wissen längst: das Schwert muß behaupten, was das Schwert gewann, und bis an das Ende aller Geschichte wird das Männerwort gelten: βιά βιά βιάζεται, durch Gewalt wird Gewalt überwältigt. Und doch liegt ein tiefer Sinn in jenen alten Versen. Wie der Kampf um Preußens Dasein, der Siebenjährige Krieg, zugleich der erste europäische Krieg war, wie unser Staat die beiden alten Staatensysteme des Ostens und des Westens zu einer europäischen Staatengesellschaft vereinigte, so hat er auch, endlich erstarkt, als ein Land der Mitte, durch ein Vierteljahrhundert voll gefährlicher diplomatischer Reibungen dem Weltteil den Frieden geboten, nicht durch das Heilmittel der Friedensschwärmer, die Abrüstung, sondern durch das genaue Gegenteil, die allgemeine Rüstung. Deutschlands Beispiel erzwang, daß überall die Heere zu Völkern, die Völker zu Heeren, mithin die Kriege zum furchtbaren Wagnis wurden; und da noch kein Franzose je behauptet hat, daß Frankreich allein seinen alten Raub mit den Waffen wiedergewinnen könne, so dürfen wir vielleicht noch einige friedliche Jahre mehr erwarten. Unterdessen verwächst unsere Westmark langsam, aber unaufhaltsam mit dem alten Vaterlande, und die Zeit wird kommen, da die deutsche Bildung, die ihre Stätten so oft verändert hat, in ihren ältesten Heimatlanden wieder die volle Herrschaft erlangt. Und nach so mancher schmerzlichen Enttäuschung ist uns jüngst doch ein Werk gelungen, wie es nur einem großen, einigen Volke gelingt. Es war doch ein guter Tag, als die Wasserstraße zwischen Nord- und Ostsee erschlossen wurde und die Deutschen am schwäbischen Meere ihren Brudergruß zur fernen Küste sandten.
An solche Stunden frohen Gelingens müssen Sie sich halten, meine lieben Kommilitonen, wenn Ihnen der Kopf wüst wird von dem Toben der Parteiung. Ihnen vornehmlich gilt doch unsere Feier. Aufzuschauen, hochgemut der Zukunft zu vertrauen, nicht die Taten der Väter zu verachten oder zu versinken im Gezänke des Tages, das ist der Jugend Recht und Glück. Sie haben nicht wie wir Älteren mit der Waffe oder dem Messer des Arztes oder mit der schwachen Feder sich Ihr Vaterland erobern helfen; Sie haben nicht wie wir, liebe Jugendfreunde verderben sehen an Leib und Seele, weil sie zu früh an Deutschland verzweifelten. Sie können die Idee des Vaterlandes vielleicht nicht mit so stürmischer Liebe erfassen, wie wir, als wir jung waren. Sie sind glücklicher. An Sie ergeht der einfache Ruf: Spartam nactus est, hanc exorna! Ja, Sie haben es gefunden, ohne Ihr Verdienst, dies einige Vaterland, das zum Heile der Menschheit von Fehrbellin bis Leuthen, von Belle-Alliance bis Sedan immer höher stieg. In ihm bleibt Raum für jede starke Manneskraft, und die beste ist ihm kaum gut genug. Sollte je die Stimme des Kriegsherrn Sie unter die Fahnen des Adlers rufen, dann werden Sie nicht schwächer sein wollen an Mut und Treue, an Gottesfurcht und Hingebung, als die alten Berliner Studenten, deren teuere Namen wir auf dem Marmor in unserer Aula bewahren. Mag Deutschland Arbeiten des Friedens oder Taten des Krieges von Ihnen heischen, immer beherzigen Sie das Gelübde, das einst der Dichter, niederschauend auf die Leichenfelder um Metz, in unser aller Namen ablegte:
Nimmer soll, das ihr vergossen,
Euer Blut umsonst geflossen,
Nimmer soll's vergessen sein!
Und nun, hochansehnliche Versammlung, wie bei allen vaterländischen Festen unserer Hochschule, gedenken wir in alter Königstreue ehrfurchtsvoll des Herrschers, der unser Reich mit seinem Zepter schützt. Gott segne Seine Majestät unseren Kaiser und König. Gott gebe ihm ein weises, gerechtes, festes Regiment, uns allen die Kraft, das köstliche Vermächtnis glorreicher Zeiten zu wahren und zu mehren.
Hie gut Deutsch allerwegen! Stimmen Sie mit mir ein in den Ruf:
Es lebe Kaiser und Reich