Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Wieder einmal war das Weihnachtsfest herangekommen, das dritte, das Goldköpfchen nicht mit den Eltern und Geschwistern daheim in Dillstadt verbringen konnte. Diesmal war Goldköpfchen nicht so traurig gestimmt, nur noch dreiviertel Jahre Lehrzeit lagen vor ihr, und wenn wieder der Lichterbaum brannte, war sie daheim in Dillstadt, ausgelernt, hatte schon ihr eigenes Atelier und verdiente Geld. Alles das waren Gedanken, die Bärbels Herzchen höher schlagen ließen. Sie hätte niemals geglaubt, daß eine Lehrzeit von drei Jahren jemals zu Ende ginge. Nun durfte sie schon einfache Aufnahmen allein und vollkommen selbständig machen und hatte ihre Freude daran, wenn Herr Brausewetter zufrieden war.
Ingenieur Wendelin war auch in diesem Jahre zum Weihnachtsfest Gast im Hause von Frau Lindberg. Bärbel ahnte nicht, daß er vor zwei Tagen daheim bei den Eltern gewesen war, daß er mit Apotheker Wagner und dessen Gattin Rücksprache genommen hatte, ob man ihm gestatte, um Bärbel zu werben. Herr und Frau Wagner, die Harald Wendelin schon seit langer Zeit kannten, die genau wußten, daß er ein rechtlicher und äußerst strebsamer Mann war, zeigten sich glücklich darüber. Keinem Besseren konnten sie ihre Tochter anvertrauen als diesem pflichtgetreuen und gewissenhaften Manne, der Bärbel aufrichtig liebte. Er erzählte offen, daß er den Eindruck gewonnen habe, Bärbel ahne noch nichts von seinen tiefen Gefühlen und sähe heute noch in ihm nur den Freund. Wenn er aber die Erlaubnis bekommen habe, um sie zu werben, wolle er sich Bärbel noch herzlicher nähern, vielleicht erwache dann auch in ihrem Herzen endlich die wahre Liebe.
In der Tat war sich Bärbel Wagner über ihre Gefühle noch gar nicht klar. Wohl empfand sie bereits leises Sehnen nach dem Freunde, wenn er sich für längere Zeit nicht zeigte; ihr Gesicht strahlte auf, wenn er kam, und der Händedruck, mit dem sie ihn dann begrüßte, war lang und herzlich. Aber doch war in ihr eine unerklärliche Abwehr. Sie mußte immer wieder an Anita und Edith denken, und die Zweifel wollten nicht aus der jungen Mädchenseele, daß Harald Wendelin vielleicht doch eines Tages um sie werben würde, weil er sich dazu verpflichtet fühle.
Bärbel hatte kurz entschlossen an die Eltern geschrieben und gefragt, ob Harald Wendelin der Familie gegenüber zu so großem Danke verpflichtet sei, daß er sie vielleicht heiraten müsse. Ob irgendwelche Abmachungen zwischen den Eltern und Harald bestünden? Sie denke nicht ans Heiraten, werde jedoch von den Freundinnen bereits dieserhalb geneckt. Da dieser Brief vor dem Besuch Wendelins eingetroffen war, hatte die Mutter an Bärbel einen ruhigen und überzeugenden Brief geschrieben, in dem sie Bärbel beruhigte. Goldköpfchen atmete auf und freute sich darüber, daß sie dem Freunde nun wieder mit aller Offenheit begegnen konnte.
Aber etwas blieb doch in ihrem Herzen zurück. Bärbel stellte fest, daß Harald wirklich ein hübscher junger Mann sei, der von anderen Frauen begehrt werden könnte, und daß ihr die Botschaft, er habe sich verlobt, große Pein bereiten würde. So nahm sie sich vor, einmal ganz vorsichtig zu horchen, ob er vielleicht eine Dame kenne, für die er sich interessierte.
Bärbel brauchte diese Frage nicht erst zu stellen, denn gerade in den Weihnachtsfeiertagen sprach Harald Wendelin immer wieder von Fräulein Redlich, einer Angestellten seiner Firma, die ihm seit einigen Tagen als Sekretärin zugewiesen worden war.
»Ich habe selten eine Dame kennengelernt, die sich in die Materie derartig schnell eingearbeitet hat wie Fräulein Redlich. Sie war bisher für unseren Oberingenieur tätig, nun soll sie für mich arbeiten, denn man stellte mir diesen Posten für später in Aussicht.«
»Sie ist also sehr tüchtig?« fragte Bärbel und zog dabei ein langes Gesicht.
Der junge Ingenieur nickte.
»Außerordentlich tüchtig – dabei stets liebenswürdig, fröhlich, sie versteht es glänzend, mit jedem fertig zu werden, ist diskret, kurzum, Fräulein Redlich hat wohl alle guten Eigenschaften, die ich mir von einer Sekretärin wünsche.«
»Dir hat wohl schon der Name gefallen? Redlich klingt gut. Der Name ist viel hübscher als Wagner. – Na ja – es können nicht alle Menschen Redlich heißen. – Ist sie wenigstens häßlich?«
»O nein, ganz im Gegenteil. Sie hat ein kluges, vornehmes Gesicht.«
Goldköpfchen seufzte auf. »Schwarz oder blond? Hat sie auch Locken?«
»Nein, Locken hat sie nicht.«
»Dir gefällt wohl glattes Haar besser als lockiges? – Ich kann doch nichts dafür, daß sich meine Zimpeln so ringeln! – Aber meinetwegen – schließlich ist es mir einerlei. – Harald, du freust dich wohl, wenn du mit Fräulein Redlich arbeitest?«
»Es erleichtert die Arbeit sehr, eine Dame zur Hilfe zu haben, die nicht nur mechanisch arbeitet, sondern dabei denkt und einen unterstützt.«
»Na, dann paßt ihr ja gut zusammen,« sagte Bärbel ein wenig ärgerlich. – »Aber wir sitzen schließlich hier nicht zusammen, daß du Fräulein Redlich lobst. Bitte, spiele mir 'mal wieder etwas vor.«
»Du schaust mich heute gar so böse an, Bärbel. Habe ich dir etwas zuleide getan?«
»O nein, mir tut keiner was, ich arbeite doch auch gern mit Herrn Brausewetter und mit Herrn Münzinger. Überhaupt – – Herr Münzinger ist ein rasend netter Herr. Ich habe selten einen Kollegen gefunden, der so viele gute Eigenschaften besitzt wie er. Er ist stets sehr höflich zu mir, außerdem findet er blonde Haare sehr hübsch, und Locken liebt er. – Na, überhaupt, es ist mir stets eine Freude, ihn zu sehen.«
»Bärbel, liebes Bärbel!« Die Augen des Ingenieurs leuchteten. Bärbel war eifersüchtig, das merkte Harald aus jedem ihrer Worte. Er fühlte sich hochbeglückt, wußte er doch, daß dies die ersten Regungen einer erwachenden Liebe waren.
»Was soll ich dir denn vorspielen, Bärbel? Weißt du noch, wie du früher so sehr für ›Frauen Liebe und Leben‹ schwärmtest?«
»Damals war ich ein dummer Backfisch, heute habe ich einen ganz anderen Geschmack.«
»Was willst du heute hören?«
»Einen flotten Schlager oder sonst etwas aus einer neuen Operette, nur nichts Sentimentales, das können die verliebten Leute spielen. Ich denke nicht daran, mir das Herz mit solchem Ballast zu beschweren. Ich glaube, auch Herr Münzinger ist meiner Meinung.«
»Soll ich dir nicht lieber etwas aus einer Oper vorspielen oder dein einstiges Lieblingslied von Grieg: Ich liebe dich?«
»Das ist wohl das Lieblingslied von Fräulein Redlich?«
»Ja, sie liebt Grieg sehr.«
Bärbel sprang auf, die Blauaugen blitzten.
»Dann hast du es ihr – – hast es ihr – – hast es ihr wohl schon vorgespielt?«
»Aber, Bärbelchen, ich habe doch in meinem Büro kein Klavier.«
»Ich will es nicht hören – ich finde das Lied gräßlich, scheußlich – Herr Münzinger würde es auch scheußlich finden. Bitte, spiele irgendetwas anderes.«
Da begann er von Beethoven die Mondscheinsonate zu spielen. Bärbel, die anfangs mitzusummen versuchte, wurde bald still. Das Spiel Wendelins griff ihr stets ans Herz. Er war wirklich ein Meister auf dem Klavier. Kein anderer verstand es, ihre Seele so in Schwingungen zu versetzen wie der junge Ingenieur. Sie hatte in Dresden manchen Virtuosen gehört, es war gewiß immer sehr schön gewesen, aber keiner hatte sie so bewegt wie Harald.
Sie saß mäuschenstill da. Die Töne sagten ihr unendlich viel.
Auch Harald schien ganz der Musik hingegeben. Als er endlich sein Spiel beendet hatte, blieben die drei still.
Nach einer längeren Pause begann Harald Wendelin erneut zu spielen. Was jetzt ertönte, kannten weder Frau Lindberg noch Bärbel. Es war eine süße, werbende Musik, ein Opus, das von Wendelin selbst stammte. Er komponierte in seinen Mußestunden öfter Lieder und Sonaten. Doch was er jetzt spielte, gab ihm der Augenblick ein. Er hörte Bärbels erregte Stimme, als er ihr von Fräulein Redlich erzählte, er wußte, daß in ihrem Herzen ein Blümchen sproßte, fein und zart noch, ahnte, daß es jetzt noch viel zu früh war, um dieses süße Pflänzchen zu pflücken. Doch es würde ihm gelingen. Diese reine Mädchenseele neigte sich ihm bereits in Liebe zu. Und da er kein größeres Glück kannte, als Bärbel Wagner einstmals sein Weib nennen zu dürfen, floß diese Empfindung in Tönen aus seinem Innern hervor.
Er vergaß, wo er sich befand, er warb in Tönen um Bärbel, weil die Lippen noch nicht reden konnten.
Bärbel hörte das Spiel. Wie eine süße Welle ging es über sie dahin, schließlich schloß sie die Augen. Ihr war es, als werde sie von weicher, sanfter Hand leise gestreichelt, als rede jemand innige Worte zu ihr, und unwillkürlich stand Edith vor ihren Augen, Edith, am Arm ihres Verlobten. Alle die schönen Worte, die der jungen Braut zugeflüstert worden waren, schienen jetzt in Musik umgesetzt zu sein, nur daß es hier noch viel herrlicher war, daß sie das Herz noch mehr packten.
Sie öffnete die Augen und schaute zu Harald Wendelin hinüber. Er hatte den Kopf ein wenig nach auswärts gerichtet, seine Augen strahlten, auf dem Gesicht lag es wie eine Verklärung. Und plötzlich wurde sich Bärbel klar darüber, daß ihr diese Musik nicht galt. Er hatte vorhin von Fräulein Redlich gesprochen, von dieser Gräßlichen, die Harald umgarnte. – Er liebte sie, er würde immer mit ihr zusammenarbeiten, auch wenn sie einmal seine Frau geworden war. Für Fräulein Redlich spielte er diese herrlichen Weisen, ihr galt das soeben gehörte Liebeslied.
Bärbel merkte, daß es ihr heiß in die Augen stieg. Die Brust war ihr plötzlich zu eng, und noch immer tönten die wundervollen Akkorde. Sie wollte Harald nicht mehr sehen, wollte das Spielen nicht mehr hören, es sollte aber auch keiner wissen, wie weh ihr das Herz tat. Warum denn nur? – Es war doch einerlei, ob Harald das Fräulein Redlich liebte oder nicht.
Sie durfte um keinen Preis verraten, daß sie unter der Musik litt. Bärbel wollte ihre innere Ruhe wiederfinden, erhob sich hastig und ging aus dem Zimmer. Verwundert schaute ihr Frau Lindberg nach.
Bärbel schloß die Tür ihres Zimmers hinter sich ab. – Was sollte sie jetzt tun? Sollte sie Harald sagen, daß sie heute noch mit Herrn Münzinger eine Verabredung habe?
»Warum kommst du denn zu uns,« sagte sie weinend, »wenn du immerzu an Fräulein Redlich denkst? – Was willst du denn hier? So gehe doch lieber zu ihr. Aber vielleicht hat sie keine so hübsche Wohnung wie wir, vielleicht lebt sie in einer düsteren Hinterstube und versucht alles, um eine gute Partie zu machen.«
Bärbels Blicke gingen über die Wand hin, an der die »Marksteine ihres Lebens« hingen. Auch Haralds Bild!
»Brauchst nicht mehr über meinem Bett zu hängen, ich will dein Bild nicht mehr haben.«
Ein schnelles Reißen, und Bärbel warf zwei Stücke auf den Tisch. Scheu schaute sie darauf nieder, dann deckte sie schnell ein Buch darauf. Noch mehrmals schritt sie im Zimmer auf und ab, endlich glaubte sie ihre Seelenruhe wiedergefunden zu haben. An der Tür des Wohnzimmers blieb sie lauschend stehen, bis das Stück beendet war, dann trat sie wieder ein. Sie strich sich noch rasch mit der Hand über die Kehle, dann sagte sie in hochgeschraubtem Tone:
»Dieses Musikstück hat mich eigentlich wenig interessiert, – ein Schlager wäre richtiger gewesen. Dieses Stück klang etwas altmodisch, ich liebe die neueren Komponisten. – Wer hat denn den Schmarren verbrochen?«
Harald Wendelin sagte bescheiden:
»Es war eine kleine Phantasie von mir, Bärbel.«
Wieder griff sie sich mit der Hand an den Hals.
»So, von dir selbst, dann entschuldige. Vielleicht war es auch ganz hübsch, der Geschmack ist ja so verschieden. Aber – – aber – –« Sie wollte weiter reden, es ging nicht. Im Halse saß ihr ein Kloß. Daß er nun gerade diese Musik selbst komponiert hatte, war der schlagende Beweis, daß er Fräulein Redlich liebte.
»Fehlt dir etwas, Bärbel?«
Die Großmama schaute ihr Enkelkind an, das plötzlich so blaß aussah.
Wieder hielt sich Bärbel die Kehle.
»Ich bin leider nicht genügend medizinisch gebildet,« stotterte sie, »ich glaube, ich habe Halsschmerzen. Vielleicht wird es eine schwere Krankheit, – Diphtheritis oder Scharlach. – Hoffentlich geht es nicht gar zu schlimm aus.«
Sie schaute grimmig den Freund an, wollte wissen, ob die Aussicht, daß sie ernstlich krank werden könnte, Eindruck auf ihn machte. Und wirklich! Das frohe Lächeln von seinem Gesicht verschwand, besorgt trat er zu der Freundin.
»Ist's schlimm, Bärbel?«
»Oh,« sagte Bärbel und rollte mit den Augen, »ich wünsche dir diese Schmerzen nicht.«
»Soll ich einen Arzt rufen, Bärbel?«
»Ach nein, – Herr Münzinger hat sicherlich ein gutes Mittel dagegen. Herr Münzinger versteht überhaupt alles.«
»Herr Münzinger ist jetzt aber nicht hier, und morgen ist noch ein Feiertag. Bis übermorgen kann alles sehr schlimm geworden sein.«
»Macht euch meinetwegen nur keine Sorgen, ich ziehe mich zurück, und ihr könnt weiter hier vergnügt sein.«
»Wie könnte ich vergnügt sein, Bärbel, wenn ich dich krank weiß,« gab Harald sehr ernst zurück.
»Vielleicht ist es dir nicht angenehm, in einem Hause zu sein, in dem vielleicht eine ansteckende Krankheit ausbricht. Du hast ja noch andere Bekannte, – nicht wahr, Großmama, du wirst Herrn Wendelin für morgen ausladen. – Vielleicht gehst du dann zu Fräulein Redlich, – ein so fleißiger Mann wie du arbeitet auch ganz gern 'mal in den Feiertagen. Sie versteht dich doch so glänzend, dann könntet ihr vielleicht etwas zusammen erfinden.«
»Aber, Bärbel, – was hat dir denn das arme Fräulein Redlich getan?«
»Arm ist sie auch noch, – na ja, jetzt kann ich alles begreifen.«
»Dir würde Fräulein Redlich auch gut gefallen, Bärbel.«
Goldköpfchen schlug mit der flachen Hand auf den Tisch, die Stimme brach ihm mehrfach, als es sagte:
»Warum heiratest du sie denn nicht, wenn sie dir gar so gut gefällt? Es ist nicht anständig, sich mit einer jungen Dame monatelang herumzuziehen. Man verlobt sich doch immer zu Weihnachten. – Warum tust du es denn nicht?«
»Aber, Bärbelchen,« erwiderte Harald verstört, »wie könnte ich denn Fräulein Redlich jemals heiraten! Diese Dame ist doch schon über fünfundzwanzig Jahre im Büro und kürzlich achtundfünfzig Jahre alt geworden.«
Goldköpfchen machte große Augen.
»Achtundfünfzig Jahre, – dann ist sie ja eine Großmutter!«
»Das nun nicht, eine hochintelligente Dame, die der Firma unentbehrlich geworden ist.«
»Achtundfünfzig Jahre!« Bärbels Gesicht glühte, dann begann sie plötzlich zu lachen und rief jubelnd: »Achtundfünfzig – ach, dann ist ja alles gut – na, natürlich ist sie eine tüchtige Kraft, – fabelhaft tüchtig! Das ist ja herrlich, daß du sie als Sekretärin bekommen hast. Hoffentlich stirbt sie dir nicht bald weg. – Achtundfünfzig Jahre – – da hat sie keine blonden Haare mehr?«
»Nein, graue Haare.«
»Ach, das wird ja immer schöner, für graue Haare darfst du schwärmen. Großmama hat auch graue Haare. Damen mit grauen Haaren sind immer prachtvoll! Ich freue mich schrecklich, daß du mit Fräulein Redlich arbeitest.«
Dann sprang Bärbel übermütig im Zimmer umher.
Frau Lindberg schüttelte den Kopf.
»Was ist denn heute mit dir los, Bärbel?«
»Großmama, ich könnte die ganze Welt umarmen.« Dann faßte sie Frau Lindberg an beiden Schultern und wirbelte sie durch das Zimmer. »Großmama, – graue Haare auf dem Kopfe einer Frau ist das Wunderschönste, was ich kenne.«
»Sind blonde Locken denn nicht auch etwas Wunderschönes?« fragte Wendelin.
»Ach du – du,« jubelte sie ungestüm und packte nun auch Harald an den Schultern, um ihn kräftig zu schütteln. »Ich freue mich nur so, daß du so 'ne famose Sekretärin hast. – Dann hast du wohl das Lied vorhin gar nicht für Fräulein Redlich gespielt?«
»Nein, Bärbel.«
»Woran hast du denn gedacht, als du spieltest? Ich habe dich dabei genau angesehen. – An irgendetwas hast du dabei gedacht.«
»Willst du das wissen?«
»Ich hätte es wohl gern gewußt.«
»Ich habe daran gedacht, daß ich ein ganz armes Studentlein war, das man gar liebevoll in Dillstadt in einer Apotheke aufnahm. Und daß dort ein niedlicher kleiner Backfisch weilte, der mich anfangs zu ärgern versuchte. – Es gelang ihm nicht recht. – Weiter habe ich daran gedacht, daß dieser kleine Backfisch sich mit Eifer und Pflichttreue einen Beruf erwählte, daß er alle seine Aufgaben gar ernst nahm und sich bemühte, seine Fehler abzulegen. Daß er eine Galerie schuf, die er über das Bett hing, und daß ich nun immer wieder dieses junge Mädchen sehen darf, das man Goldköpfchen nennt, weil es nicht nur goldige Haare auf seinem Kopfe hat, sondern auch ein goldenes Herz besitzt. – Dann habe ich gespielt, Bärbel – – auch für dich!«
Goldköpfchen senkte das Gesicht. Es war wie in Blut getaucht. Harald hatte jene Galerie über ihrem Bett erwähnt, und erst vor wenigen Minuten hatte sie ärgerlich das Bild dieses Mannes zerrissen, der jetzt so lieb zu ihr sprach. – Bärbel schämte sich. Und ganz plötzlich sprang sie auf, schlug mit beiden Fäusten auf das Klavier und fuhr mit dem Daumen über die ganze Tonskala.
»Verstehst du das auch, was ich da eben komponierte?«
»Leider nicht, Bärbel.«
»Na, dann ist es gut. – Großmama, dir will ich es nachher sagen. Ritsch – ritsch – ratsch, soll es heißen. – Aber ich klebe es wieder zusammen, oder – noch besser, ich hänge beide Teile wieder auf.«
»Was hast du denn schon wieder angestellt, Goldköpfchen?« fragte Frau Lindberg.
»Na, ich kann es ja sagen, ich habe immer meine Eseleien eingestanden. – Ich habe mich mächtig geärgert, da habe ich das Bild von dir mitten durchgerissen.« Sie wandte das Gesicht Harald zu.
Stürmisch griff der junge Ingenieur nach beiden Händen Bärbels. Angstvoll trat Goldköpfchen einen Schritt zurück. Sie verstand diese Bewegung ganz falsch und dachte, Harald wäre über ihre Handlungsweise entrüstet. Aber in seinem Herzen sah es ganz anders aus. Auch hier bewahrheitete sich wieder das Wort: Himmelhochjauchzend, zu Tode betrübt, glücklich allein ist die Seele, die liebt. Bärbel liebte ihn, diese Neigung war erwacht und wuchs weiter und immer weiter.
»Brauchst nicht böse zu sein, Harald,« sagte sie hastig, »ich mache ein neues Bild von dir, das wird noch viel schöner.«
»Nur nicht gar zu sehr schmeicheln, Bärbel.«
»Nein,« sagte sie mit treuherzigem Augenaufschlag, »das ist nicht notwendig, du bist doch ein schöner Mann.«
»Noch schöner als der Herr Münzinger?« neckte er.
»Ach, der,« sagte Bärbel gleichgültig, »er ist ja viel besser als der Herr von Sasseneck, der zuerst im Atelier war, aber ich mache mir nichts aus ihm. Wir sprechen wie Kollegen zusammen, und damit ist die Sache erledigt.«
Wieder lächelte der Ingenieur, aber er wollte Bärbel nicht an die Widersprüche erinnern. Er wußte bereits viel zu genau, daß sie vorhin den Kollegen nur so sehr herausgestrichen hatte, weil sie von Eifersucht geplagt worden war.
»Wenn ich erst in Dillstadt mein Atelier habe, mache ich von dir ein großes Bild, Harald. – Du kommst mich doch in Dillstadt einmal besuchen?«
»Im Oktober hast du ausgelernt,« sagte er, und diesmal kam der Seufzer von seinen Lippen. »Ich habe nur einmal im Jahre Urlaub. Das wird sehr schmerzlich sein. Dann können wir uns an keinem Sonntag sehen.«
»Kannst du nicht in Dillstadt einen elektrischen Laden aufmachen? Vielleicht 'ne eigene Fabrik oder so was Ähnliches?«
»Nein, Bärbel, das ist ganz unmöglich.«
»Ob ich nun gerade in Dillstadt mein Atelier haben werde, weiß ich heute noch nicht. – Sage 'mal, ist denn in Heidenau ein anständiger Photograph?«
»Ein künstlerisches Atelier ist noch nicht da.«
Bärbel faßte den Freund an den Schultern. »Du – das ist 'ne feine Idee, – ich mache in Heidenau mein Atelier auf. In deiner Fabrik machst du dann Reklame für mich, dann bekomme ich schnell viel Kundschaft. Vielleicht kann ich auch was für eure Fabrik photographieren. – Das geht. Dann habe ich feine Einnahmen, und wenn du Ferien hast, machen wir zusammen die Reise an den Rhein.«
»Die Reise nach dem Rhein mit dir würde mich locken.«
»Mich auch, Harald. – Großmama, wir müssen in der nächsten Zeit 'mal nach Heidenau hinausfahren, um das Terrain zu sondieren. Ich bin schon fast der Überzeugung, daß ich dort bessere Geschäfte machen werde als in Dillstadt, – und, sieh 'mal, liebe Großmama,« Bärbel streichelte der alten Dame zärtlich die Wange, »du bist dann auf deine alten Tage nicht so verlassen. Ich komme dich dann öfters besuchen. Schließlich könntest du doch auch ganz nach Heidenau hinausziehen. Ist das nicht eine herrliche Idee?«
»Vorläufig hast du noch dreiviertel Jahre zu lernen, mein Kind, bis dahin kann sich noch manches ereignen.«
»Ich sehe heute meine Lebensbahn schon ziemlich genau vorgezeichnet, Großmama. Heidenau ist wirklich der rechte Ort für mich. Es ist gut, wenn man sich mit einem Manne über die Berufsfrage ein wenig ausspricht. Ich will morgen den Eltern schreiben, daß ich mich für Heidenau entschieden habe.«
So verging der erste Weihnachtsfeiertag in angenehmster Stimmung. Bärbel bat sogar darum, daß Harald noch eine eigene Komposition zum besten gebe.
»Wird sie dir denn gefallen?« fragte er lächelnd. »Du liebst doch solche Schmarren nicht?«
Goldköpfchen lenkte beschämt ein.
»Ich bin nicht genügend musikalisch gebildet, aber was du jetzt spielen wirst, gefällt mir sicherlich.«
Wieder saß er am Klavier, und nun tönte Griegs: »Ich liebe dich« durch das Zimmer. Harald spielte es so innig, daß Bärbel am liebsten laut gejauchzt hätte.
Das Lied war verklungen, Harald hatte sich erhoben und wiederholte nochmals träumerisch die Worte, die den Text bildeten:
»Ich liebe dich in Zeit und Ewigkeit.«
Seine Augen gingen zu Bärbel hinüber. Die Blicke der beiden trafen sich, und wieder stieg es Goldköpfchen heiß ins Gesicht. Nein, sie wollte diese Verlegenheit meistern. Rasch fuhr sie sich mehrfach mit den Händen durch die goldene Lockenfülle, dann rief sie, sich überstürzend:
»Jetzt machst du es genau so wie mein Freund Gerhard Wiese, der hat mir immer Gedichte geschickt, hatte sie abgeschrieben und dann gesagt, es wären seine eigenen. Nun sollst du mir eine Komposition von dir vorspielen und pumpst den Grieg an. – Du hast gemogelt!«
»Es war doch stets dein Lieblingslied, Bärbel, warum sollte ich es dir heute nicht vorspielen?«
Sie machte sich an einer Vase mit Blumen zu schaffen und fand keine Antwort. Aber ihre Lippen flüsterten unhörbar:
»Ich liebe dich in Zeit und Ewigkeit.«
Dann sprach sie dem Konfekt reichlich zu, bis die Großmama die Schale fortnahm.
»Aber, Bärbel, nun bist du bald zwanzig Jahre alt und noch so kindisch.«
»Ich esse es doch so gern, Großmama! Ach, mir gefällt die Welt so gut, ach, so gut!«
Spät abends verabschiedete sich Harald Wendelin von den beiden Damen. Am liebsten hätte er schon heute das bindende Wort gesprochen, doch wagte er es noch nicht. Bärbel war sich erst seit ganz kurzer Zeit klar darüber geworden, daß sie liebte. Aber nicht mehr lange, dann würde sich eine passende Gelegenheit bieten, um ihr das zu sagen, was sein Herz bewegte. Er brauchte nun nicht mehr zu fürchten, daß er von ihr die Antwort bekam, die da lautete: ich heirate nie, ich habe meine Kamera.
»Komm morgen nicht zu spät,« sagte Bärbel beim Abschiednehmen, »wir essen pünktlich um ein Uhr. Morgen koche ich die Speise, sehr groß, – einen Zitronencreme, der kann nämlich nicht anbrennen. Und einen Haufen Schlagsahne drauf. Sei also sehr pünktlich!«
»Morgen,« sagte er übermütig. »Ja, darf ich denn morgen wiederkommen? Ich sollte doch morgen zu Fräulein Redlich gehen?«
Da errötete Bärbel zum dritten Male am heutigen Tage, und dann sagte sie schelmisch lachend:
»Was willst du denn bei der alten Dame mit den grauen Haaren, die hast du im Büro immer. Komm doch lieber zu uns.«
»Wenn du mich morgen wieder haben willst, Bärbel, wenn ich kommen darf?«
»Natürlich darfst du, und morgen machen wir wieder Musik.«
»Und dann zeigst du mir mein Bild, das du inzwischen wieder repariert hast.«
Sie lachte ihn glücklich an, drückte ihm nochmals die Hand und schloß die Tür hinter ihm.
»Großmama – Großmama!« Bärbel eilte auf die alte Dame zu und umarmte sie leidenschaftlich.
»Was ist denn los, mein Kind?«
»Ach, Großmama, ich weiß selber nicht! Königin, o Gott, das Leben ist doch schön!«
Heute dauerte es sehr lange, ehe Bärbel ins Bett fand. Sie saß auf dem Rande ihres Lagers, in jeder Hand eine Hälfte des zerrissenen Bildes.
»Ich arbeite dich neu auf, Harald, du wirst wieder hübsch werden. Ich finde aber, daß ich heute recht ruppig war, ich muß mich kasteien. Strafe muß sein. Ich werde mir kein weiches Lager schaffen, ich werde meinen Kopf auf die beiden harten Pappstücke legen. – Zur Strafe!«
Sorgfältig legte das junge Mädchen das zerrissene Bild auf ihr Kopfkissen, dann sank der goldlockige Kopf darauf nieder.
»Oh, ist das hübsch,« lächelte Goldköpfchen, drehte das Haupt langsam immer weiter nach rückwärts, und ganz leise drückten sich ein Paar frische, rote Lippen auf das zerrissene Bild.