Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

6. Kapitel
Das Ebenbild des Vaters

Die Versuche Brausewetters, Herrn Hampel zur Zurücknahme der Anzeige zu bewegen, waren fruchtlos verlaufen. Herr Brausewetter hatte durch die Innung mehrfach an den Photographen schreiben lassen, ihn auch darauf aufmerksam gemacht, daß er wenig Erfolg haben werde; doch Hampel blieb bei dem Verlangen, gegen das Atelier in der Brückenstraße energisch vorzugehen.

Mit Rotmühl hatte Herr Brausewetter persönlich gesprochen. Er war nicht so starrköpfig wie sein Kollege und sah schließlich die Angelegenheit als eine unüberlegte Handlungsweise der Kinder an, für die man die Mutter nicht haftbar machen könne. Immer noch hatte Herr Brausewetter gehofft, Bärbel eine beruhigende Nachricht geben zu können. Er hatte seinen Besuch daher von Tag zu Tag hinausgeschoben. Schließlich blieb ihm nichts anderes übrig, als Frau Wendelin davon zu unterrichten, daß es bisher noch zu keiner Einigung gekommen wäre. Trotzdem solle sie die Hoffnung nicht aufgeben, daß alles wieder zum guten Ende käme. Seinen Besuch konnte er zunächst nicht machen, da das Weihnachtsfest für das Atelier Brausewetter viel Arbeit brachte.

Dagegen war und blieb es bei Goldköpfchen still. Es gab kaum etwas zu tun, nur ganz vereinzelt eine kleine Aufnahme. Die Bilder für Geheimrat Rose waren trefflich gelungen, Bärbel hatte von dem alten Herrn ein liebes und anerkennendes Schreiben erhalten. Er versprach ihr darin auch, das Atelier weiter zu empfehlen, doch konnte Goldköpfchen jetzt noch nicht darauf rechnen, da sie wußte, daß der Geheimrat schon in den nächsten Tagen verreiste und einige Zeit von Loschwitz fern blieb.

Am 23. Dezember trafen die Eltern aus Dillstadt ein. Beide hatten sich vorgenommen, die Tochter über die schwere Zeit hinwegzubringen. Sie ahnten, daß gerade das erste Weihnachtsfest, das sie ohne den Gatten verbringen mußte, für Bärbel sehr schmerzlich war, daß auch von den Kindern das Fehlen des Vaters bemerkt werden mußte und einen Schatten auf die Feststimmung warf.

Doch Bärbel kämpfte tapfer. Sie wollte sich von ihrem großen Weh nicht unterjochen lassen, wollte weder Eltern noch Kinder merken lassen, wie es in ihr aussah. Aber ein einziger Blick aus den Augen der Mutter genügte, um Frau Wagner sofort Bärbels Inneres zu enthüllen. Wie schmerzlich mußte es für die junge Witwe sein, wenn die Kinder immer wieder vom Vater sprachen, wenn sie das letzte Weihnachtsfest erwähnten, wenn Hermann voller Stolz und doch mit leiser Trauer den Aschenbecher zeigte, den er auch in diesem Jahre für den Vater geformt hatte.

»Mutti sagt uns immer, der Vati ist bei uns, auch wenn er tot ist; da muß er doch zum Weihnachtsfest auch was bekommen. Wenn er zu uns herunterguckt, darf sein Gabenplatz nicht leer sein.«

Besonders Jürgen war still und in sich gekehrt, stand öfters denn je vor dem Bilde des Vaters, und ein banges Kinderstimmchen fragte oftmals:

»Kommst du denn nicht mal zu Weihnachten zu uns zurück?«

Wohl brannte am heiligen Abend der lichtergeschmückte Baum, wohl waren die Tische der drei Kinder reich besetzt, und auch für Bärbel hatten die Eltern manch schönes Geschenk aufgebaut; aber es war doch ein trübes Fest, denn nicht nur Bärbel und die Eltern, auch Hermann und Jürgen hatten von Zeit zu Zeit Tränen in den Augen. Oft schlich sich einer aus dem Zimmer hinaus, um dem anderen nicht zu zeigen, wie schwer ihm das Herz war, wie sehr der Vater allen fehlte.

Bärbel hielt sich überraschend tapfer. Wohl war es ihr mitunter, als müsse sie laut aufschreien; aber dann sah sie die Kinder an, schaute auf die Eltern, und die Worte des Geheimrats tönten ihr im Ohr: »Sie reiche, überreiche Frau!«

Am Nachmittag hatte sie eine stille Stunde am Grabe des heißgeliebten Gatten verbracht. Ganz allein hatte man sie zum Hügel hinausgehen lassen. Schon vorher hatten Eltern und Kinder das Grab reich mit Blumen geschmückt. An dem Hügel, der ihr alles barg, war aufs neue ein heiliges Gelöbnis abgelegt worden, die Kinder zu tüchtigen Menschen zu erziehen und selbst tapfer zu sein.

»So manchen Wunsch hast du mir erfüllt, mein Häschen, bitte dort oben für die Kinder, daß sie so werden wie du!«

Und – merkwürdig, am Weihnachtsabend, als Hermann der Mutter sein kleines Geschenk überreichte, legte er den Arm um ihren Hals und sagte so leise, daß es kein anderer hören konnte als sie:

»Ich schenke dir noch viel was Schöneres, Mutti, doch das sieht man nicht. Ich schenke dir, daß ich so werden will wie der Vati. Der war immer so gut!«

»Mein Junge, mein geliebter Junge!«

»Sollst mal sehen, Mutti, wenn ich erst größer bin, werde ich genau so wie der Vati. Dann hast du keine Sorgen mehr. Wenn die Leute auch nicht zu dir kommen wegen der Bilder, sei nur ruhig, dann verdiene ich alles, genau so wie der Vati.«

Wer solche Kinder sein eigen nannte, der brauchte nicht zu klagen, nicht Verlorenem nachzuweinen. In allen drei fand sie vertraute Züge des Dahingegangenen. Er pflanzte sich fort in ihnen, er schickte ihr durch die Kinder Freude und Glück.

»Ich will stark sein, mein Häschen, ich will es!«

Unter den vielen Geschenken, die die Kinder erhalten hatten, erregte bei Hermann der Rodelschlitten die größte Begeisterung. Jürgen saß dagegen von früh bis abends vor seinem neuen Kaufmannsladen und verkaufte den Großeltern dauernd seine Waren. Erna hatte sich in eine Zimmerecke zurückgezogen und strahlte dort ihre neue Puppe an. Doch immer wieder kamen die Drei abwechselnd zur Mutter gelaufen, immer wieder wurde ihr inneres Alleinsein durch die strahlenden Blicke der Kinder erhellt, und das gab ihr die Kraft, die Feiertage zu überwinden und sogar in diesem Jahre den Kindern eine leidlich fröhliche Erinnerung an dieses Fest zu hinterlassen.

Trotzdem waren die Eltern in großer Sorge um ihre Tochter. Der berufliche Ärger, den sie in den letzten Wochen gehabt hatte, belastete das Herz noch mehr. Der Vater war der Meinung, Goldköpfchen solle das Atelier aufgeben und mit den Kindern nach Dillstadt übersiedeln. Doch dagegen wehrte sich Bärbel entschieden.

»Hier hat er gelebt, hier erinnert mich alles an ihn, hier möchte ich bleiben. Auch will ich meine Arbeit nicht verlassen. Sie ist mir trotz allem lieb.«

Frau Wagner pflichtete der Tochter bei. Bärbel mußte eine Tätigkeit haben, um zunächst ein wenig zu vergessen. Obwohl sie sich eifrig der Erziehung ihrer Kinder widmete, war es dennoch gut, wenn ihre Gedanken nebenbei in noch andere Bahnen gelenkt wurden.

Die schönen Wintertage wurden von den Kindern zu Schlittenfahrten und zum Schlittschuhlaufen benutzt. Die Großeltern begleiteten die Kleinen häufig, und auch Bärbel fühlte, daß ihr die Spaziergänge gut taten. So wandelte der kleine Trupp fast täglich hinaus zu dem Teich oder hin zu den Abhängen, an denen die Jugend von Heidenau rodelte.

Wie viel gab es hier zu lachen! Hermann wollte bald den Großvater, bald die Großmutter mit auf seinen Schlitten nehmen; und wenn gar Onkel Forstrat mitkam, ließ er nicht eher mit Bitten nach, als bis der alte Herr tatsächlich mit ihm den Hügel hinunterfuhr. Man brauchte keine Sorgen zu haben, ein Unglück konnte hier kaum geschehen. Nur auf den Teich ließ Bärbel die Kinder seit zwei Tagen nicht mehr gehen, da plötzlich Tauwetter eingetreten war.

»Die anderen laufen doch auch noch«, sagte Hermann und schaute sehnsüchtig zu der fröhlichen Schar hinüber, die sich auf dem Weiher tummelte.

»Der Vati würde es dir auch verbieten, Hermann.«

»Na, dann gut«, meinte er seufzend, »da müssen wir es eben lassen.«

Doch das Rodeln unterblieb nicht. Alltäglich gingen Hermann und Jürgen davon. Oftmals auch allein, am Hang trafen sie sich mit den Klassenfreunden, und großes Wettrodeln setzte ein.

Silvester!

»Mit dem Dunkelwerden kommt ihr wieder heim«, sagte Bärbel zu den beiden Knaben. »Du, Hermann, paßt gut auf Jürgen auf. Mutti kommt heute nicht mit, und auch die Großeltern bleiben daheim.«

»Wird gemacht«, sagte Hermann.

An dem Rodelhang herrschte wieder reges Leben. Heute war es ganz besonders schön. An manchen Stellen spritzte das Tauwasser hoch auf. Welch eine Freude, wenn dieser oder jener Schlitten in solch eine Pfütze fuhr!

»O je«, sagte Hermann plötzlich, »es wird dunkel, da ist es aus mit dem Vergnügen. Nun muß ich heim.«

»Bleib doch noch ein Weilchen.«

»Nein«, erwiderte Hermann energisch. »Komm, Jürgen, wir müssen heim.«

Hermann klemmte die lange Rodelstange fest unter den Arm, gestattete dem jüngeren Bruder, daß er sich auf den Schlitten setzte und ergriff die Leine.

»Olles Ferkel«, sagte er geringschätzig. »Bist naß wie 'ne Wassermaus!«

Man kam an dem kleinen Teich vorüber. Er war fast leer. Nur am Rande belustigten sich noch einige Kinder damit, das Eis mit dem Absatz des Stiefels zu zerhacken. Hermann warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Kinder, dann fuhr er weiter.

Plötzlich hielt er im Gehen an. Ein lauter Schrei war an sein Ohr gedrungen, der sich vervielfältigte.

»Hilfe – Hilfe!«

»Da ist was los!«

»Du bleibst schön sitzen, Jürgen, und ich gehe rasch mal nachsehen.«

Hermann eilte zurück, der kleinere Jürgen hinter ihm her. Am Rande des Teiches liefen aufgeregt mehrere Knaben hin und her. Von der Mitte gellte immer wieder der Schrei: »Hilfe – Hilfe!«

»Was ist denn los?«

»Dort ertrinkt einer!«

»Da müssen wir doch helfen.«

»Mensch, willst du auch einbrechen?«

»Wenn wir ganz vorsichtig hinkriechen – –«

Jürgen wagte sich bereits auf das Eis. Mit raschem Griff hatte ihn Hermann erfaßt. »Dämlicher Bengel«, schrie er ihn an. »Du bleibst am Ufer!«

»Hilfe – Hilfe!«

Und dann lief in der nächsten Sekunde ein Mann mit flatterndem Mantel über das Eis, hin zu der Unglücksstelle.

Ein Schrei aus vielen Kinderkehlen: »Er ist eingebrochen!«

»Wer ist denn das?«

»Der Photograph Hampel, seine Grete ist eingebrochen, er will sie retten.«

Hermann, der sich bereits platt auf das Eis gelegt hatte, richtete sich wieder auf. »Der Hampel«, sagte er ergrimmt.

Eine Sekunde lang dachte er an die Ohrfeige, die er von jenem bekommen hatte. Aber schon im nächsten Augenblick warf er sich abermals flach aus die Eisdecke.

»Ich rutsche hin.«

»Mensch, du ertrinkst.«

»Meine Stange!«

»Bist ja verrückt, Hermann.«

Aber der beherzte Knabe hatte bereits die lange Rodelstange fest in beiden Händen.

»Ich komme mit«, rief Jürgen.

»Du bleibst da«, rief Hermann erregt. »Du bleibst da, oder ich verhaue dich.«

Es nützte nichts, Jürgen wagte sich gleichfalls auf die Eisdecke.

»Du Schafskopf – wenn du – – ich haue dir den Kaufmannsladen entzwei! Haltet den Bengel fest.«

»Zu Hilfe – zu Hilfe!«

Der Mann, von dem die Kinder meinten, daß es der Photograph Hampel sei, rief verzweifelt nach Beistand. Er konnte wohl immer wieder die Eisdecke fassen und sich daran über Wasser halten, doch schon nach wenigen Augenblicken brach das Eis wieder fort.

»Hilfe! – Hilfe!«

»Meinen Schlitten!«

Man schob Hermann den Schlitten zu, der leicht über das Eis rutschte.

»Ich komme«, rief der Knabe.

Er gab dem Schlitten einen kräftigen Stoß. Der kam geradeswegs an die Einbruchsstelle. Hermann sah, wie sich zwei Kinderhände daran klammerten. Dann war auch der Schlitten verschwunden.

Hermann schob sich behutsam auf der Eisdecke weiter, vorsichtig näherte er sich der Einbruchstelle, die Rodelstange weit vor sich hinschiebend. Wenn es ihm gelang, die Stange quer über das Einbruchsloch zu legen, konnte sich der Mann daran festhalten, ebenso das kleine Mädchen, das er in seinem einen Arm hielt.

»Hilfe! – Hilfe!«

»Ich komme ja schon!«

Es glückte. Die Stange lag quer über dem Loch, das Kind klammerte sich fest daran.

»Festhalten!« rief Hermann, dann schrie er mit um Hilfe.

Noch dichter an das Loch heran durfte er sich nicht wagen, denn das Eis knackte bedenklich unter ihm. Wie gern hätte er dem kleinen Mädchen die Hand gereicht. Ob er noch ein wenig weiter vorrutschen konnte?

Plötzlich fühlte sich Hermann an beiden Füßen ergriffen.

»Loslassen, Jürgen, du bist wohl verrückt!«

»Ruhig, mein Junge, wir kommen dir zu Hilfe. Wenn du einbrichst, halten wir dich fest. Kannst du das Mädchen fassen?«

Noch einmal ein vorsichtiges Vorschieben Hermanns, dann griff er mit beiden Händen nach dem Kinde.

»Nun ziehen, feste ziehen!« schrie er nach rückwärts.

Der Mann, der gleich Hermann flach auf dem Eise lag und den Knaben an beiden Füßen hielt, zog ihn rückwärts. Auf diese Weise gelang es, das Mädchen auf das Eis hinaufzuschieben. Eine Wasserwelle ergoß sich über Hermann. Der schnaufte laut, dann aber schob er das Kind mit kräftigem Stoß nach hinten.

»Der Mann ist auch noch im Wasser.«

Photograph Hampel hing halb erstarrt an der Stange. Die Stange konnte man nicht zurückziehen, es war also nur möglich, den Mann genau so aus dem Wasser zu retten wie das Kind.

»Geben Sie mir Ihre eine Hand«, sagte Hermann.

»Hilfe! – Hilfe!«

»Packen Sie doch zu!«

Ein Arm klammerte sich an den des Knaben.

»Nun wieder ziehen!« rief Hermann zum zweiten Male.

Und wirklich gelang das schwere Rettungswerk. Nun erst merkte Hermann, wie erschöpft er war. Kalt war ihm nicht, o nein, im Gegenteil, furchtbar heiß.

»Junge, du braver Junge!«

Der schüttelte sich das Wasser vom Mantel. »Wo ist der Jürgen?«

Der saß weinend am Rande des Teiches. Einer der Knaben hatte ihm eine kräftige Tracht Prügel gegeben, weil er sich zu weit hinaus auf die Eisdecke gewagt hatte.

»Wenn du noch weiter schreist, haue ich dich auch noch durch«, rief Hermann erregt.

»Nun rasch in das kleine Restaurant«, sagte einer der Herren, denn am Ufer des Teiches hatten sich zahlreiche Menschen eingefunden, die lebhaft auf den Knaben einredeten und ihm anerkennende Worte sagten.

»Quatsch«, sagte Hermann ärgerlich, »ich konnte den Mann doch nicht ertrinken lassen.«

In dem geheizten Lokal bemühten sich gar viele Hände um den jungen Retter. Man hüllte ihn in einen dicken Pelz, gab ihm heißen Tee zu trinken; doch Hermann wehrte ärgerlich jedes Lob ab.

»Ich muß nun heimgehen, die Mutti hat gesagt, wir sollen daheim sein, wenn es dunkel wird.«

»Wer ist deine Mutti, mein tapferer Junge?«

»Frau Bärbel Wendelin, die das photographische Atelier in der Brückenstraße hat.«

»Der Wendelin«, sagte einer der Herren, »der Sohn jenes Mannes, der im Frühling sein Leben hingab, um durchgehende Pferde zum Stillstehen zu bringen.«

»Das war mein Vater!« sagte Hermann stolz.

Einer der Männer hielt die beiden Hände des Knaben fest. »Du Sohn deines Vaters«, sagte er herzlich. »Was hast du dir gedacht, als du dich auf das Eis hinaus wagtest, mein Junge?«

»Da ertrinkt einer, das darf doch nicht sein.«

Etwas abseits standen andere Männer und Frauen. Die sprachen leise und zaghaft zusammen. Erst gestern hatte eine von den Wendelinschen Kindern zu berichten gewußt, daß es Verbrechernaturen seien, das sähe man deutlich an dem Verhalten. – Und heute?

Im Nebenzimmer lagen Hampel und seine Tochter. Als der Photograph hörte, wer ihm das Leben gerettet hatte, war Hermann Wendelin schon längst auf dem Heimwege.

»O weh«, meinte der Knabe, »dunkel ist es schon, naß bin ich und der schöne Rodelschlitten ist futsch.– Was wird die Mutti sagen?«

»Hahaha, und wie du aussiehst«, lachte Jürgen. »In so 'nem alten Mantel.«

Hermann war sehr kleinlaut, als er das Haus erreichte. Jürgen dagegen stürmte die Treppe hinan und betrat das Wohnzimmer mit dem Ruf:

»Ätsch, der Schlitten vom Hermann ist ertrunken, und der Hermann ist pudelnaß!«

Bärbel befand sich seit einer halben Stunde in größter Erregung. Die Kinder folgten sonst aufs Wort. Warum kamen sie heute nicht rechtzeitig heim?

»Was ist geschehen?«

»Einer ist ins Eis eingebrochen, der Hermann hat ihn rausgeholt und noch ein Mädchen dazu.«

»Wo ist Hermann?«

Der hatte sich sogleich zu Frau Leuschner begeben. Zunächst warf er die Pelzjacke von sich, die man ihm übergezogen hatte; und während er sich der feuchten Kleidungsstücke entledigte, begann er zu Frau Leuschner von seinem Mißgeschick zu reden.

Da standen schon Bärbel und Frau Wagner im Zimmer. »Hermann, mein lieber, lieber Junge, was ist geschehen?«

»Ach, Mutti, sei mir nicht böse.« Der Knabe barg sein Gesicht an ihrer Schulter. »Es ist heute mal etwas später geworden, und mein schöner Rodelschlitten ist futsch.«

Noch während Hermann erzählte, läutete es draußen. Einer der Zeugen, einer, der die heldenhafte Tat des Knaben gesehen hatte, fand sich ein, um Frau Wendelin genauen Bericht zu geben.

So erfuhren es alle. Bärbel saß ganz still auf dem Sofa und hörte den Bericht an.

»Ich konnte ihn doch nicht ertrinken lassen«, das war das einzige, was der Knabe dazwischenrief.

Bärbel schloß die Augen. Sie sah sich auf der Landstraße nach Lerchental, sah ihren Gatten, wie er beherzt zusprang, als die durchgehenden Pferde einen Kremser mit Ausflüglern umzustürzen drohten. Sie hörte ihres Harald Worte, daß man anderen beistehen müsse.

Was hatte ihr der Knabe am Weihnachtsabend geschenkt? In allem so zu werden wie der Vati. Der Vater hatte sein Leben für Fremde hingegeben, sein Sohn besann sich keinen Augenblick, um einen Ertrinkenden zu retten.

»Ich möchte sein wie der Vater.«

Frau Wendelin hob den Blick zu dem Bilde ihres Haralds. War es nicht, als nicke er freundlich zu ihr hernieder?

»Wie stolz können Sie auf Ihren Jungen sein, Frau Wendelin!«

Sie konnte nicht viel antworten. Sie sah Vater und Sohn in innigstem Verein. Einer wie der andere. Oh, sie war eine glückliche Frau!

»Sag mal, mein Junge, man erzählt, du hattest Prügel bekommen von Herrn Hampel, – stimmt das?«

»Na und ob!«

»Und dann hast du ihn gerettet?«

»Ich habe ihm aber zuerst 'ne Hand voll Wasser ins Gesicht gespritzt.«

»Und hast ihn gerettet, mein Junge?«

»Na, er darf doch nicht ertrinken.«

»Du bist ein prächtiger Knabe! Aus dir wird ein tüchtiger Mann werden. Und nun darfst du dir von mir etwas wünschen. Du hast gewiß einen Wunsch. Ich glaube auch, daß dir noch manche Anerkennung werden wird. – Was möchtest du denn gern geschenkt haben, mein Junge?«

Schon öffnete sich der Knabenmund, man sah es ihm deutlich an, er wollte einen Wunsch hervorsprudeln. Aber sofort preßten sich die Lippen wieder fest zusammen.

»Nun, so sage es doch!«

»Ich darf nicht.«

»Du darfst es schon!«

»Nein, ich darf wirklich nicht.«

»Doch, doch, mein Junge, mir kannst du deinen Wunsch sagen. Hast dich heute so tapfer gezeigt, daß ich dir deinen Wunsch erfüllen will.«

Hermann wandte sich fragend zur Mutter. Bärbel nickte ihm zu.

»Ich hoffe, du bist nicht unbescheiden, Hermann, doch einen Wunsch darfst du äußern.«

»Mutti, darf ich wirklich?«

»Ja, mein liebes Kind.«

Noch ein kurzes Zögern, dann sagte der Knabe stockend: »Wenn Sie sich photographieren lassen wollen, dann kommen Sie doch in unser Atelier. Die Mutti hat seit Tagen nichts zu tun.«

»Ja, mein Junge, das soll geschehen.«

Goldköpfchen wurde verlegen. Solch einen Wunsch hatte sie freilich nicht erwartet. Würde ihr diese Bitte des Knaben nicht neue Unannehmlichkeiten einbringen? Es war gewiß nötig, daß sie eine Erklärung gab.

Aber als sie davon zu reden beginnen wollte, wehrte der Herr lächelnd ab. »Ich verstehe den Wunsch Ihres Sohnes richtig, Frau Wendelin.«

Dann war er gegangen. Goldköpfchen packte ihren Hermann ins Bett, obwohl dieser behauptete, er fühle sich ganz wohl und friere gar nicht.

»Dem Jürgen kannst du eine runterhauen, Mutti, der folgt nicht.«

Das wurde noch ein recht lebhafter Silvesterabend. Verschiedener Besuch stellte sich ein, denn sehr schnell hatte sich die Heldentat des Hermann Wendelin herumgesprochen. Aber all das Lob, das man ihrem Sohne zollte, erfreute Bärbel nicht so sehr als das Bewußtsein, daß ihr Ältester in den Fußtapfen des Vaters wandelte.

Am Abend saß sie noch ein ganzes Weilchen am Bett des Knaben.

»Wenn ihr nun schon soviel Wesens davon macht«, sagte Hermann ein wenig schmollend, »wenn der eine meint, ich hätte mich wie ein Mann benommen, könnte doch der Mann heute, am Silvesterabend aufbleiben, wie das alle Männer machen. Aber, siehst du, jetzt bin ich nun wieder ein kleiner Junge und kein Mann.«

»Gerade ein Mann, der am Nachmittag fast im Wasser gelegen hat, würde so klug sein und sagen: ›damit ich mich nicht erkälte, gehe ich ins Bett‹.«

»Ich erkälte mich nicht. Ich war manchmal schon viel nässer, Mutti, dann weißt du es nur nicht. Aber heute haben sie eben gar so viel Aufhebens davon gemacht.«

»Du hast eine lobenswerte Tat vollbracht, mein lieber Hermann.«

»Ach«, meinte er geringschätzig, »heute war's nicht viel. Aber als ich neulich den Hugo von drei Indianerhäuptlingen befreite, als sie alle mit Fäusten auf mich einschlugen, das war 'ne Tat, Mutti!«

»Du hast heute dein Leben für andere Menschen gewagt, und das ist das Schöne daran.«

Der Knabe schaute eine Weile zur Decke empor, faßte dann nach der Hand der Mutter und sagte mit tiefer Innigkeit in der Stimme: »Wie der Vati habe ich es gemacht, nicht wahr?«

»Ja, Hermann.«

»Na, habe ich es dir nicht gesagt, ich werde schon so werden, wie der Vati gewesen ist?«

»Mutti«, jammerte es vom zweiten Bett herüber. »Immerzu redest du mit dem Hermann. Ich bin doch auch auf dem Eis gewesen, bin auch mit beiden Beinen in ein Loch getreten.«

Bärbel erhob sich und ging zum zweiten Bett hinüber. Da flammte Hermanns Eifersucht auf. »Ich bin der Mann, hat einer gesagt, und der da hat nichts getan. Im Gegenteil. Er ist im Wasser herumgepatscht und hat mir nicht gefolgt.«

Bärbel mußte geschickt den ausbrechenden Streit schlichten. Sie war heute so überglücklich, daß die beiden Knaben einer Gefahr entronnen waren, daß sich ihr Hermann so mutig und überlegt gezeigt hatte, und daß er der echte Sohn seines Vaters zu werden schien.

Sie löschte das Licht im Kinderzimmer; doch war es ihr unmöglich, sofort hinüber zu den Eltern zu gehen, die im Wohnzimmer waren. Einige Augenblicke wollte sie allein sein. Nein, nicht allein, vereint mit ihrem Harald.

Leise, daß sie niemand hörte, ging sie in ihr Schlafzimmer hinüber und sah zum Bilde des Verstorbenen auf.

»Häschen«, sagte sie leise, »wenn ich dich heute ansehe, dann werden die Augen nicht mehr so tränenschwer. In mir ist so viel Freude, so viel Trost. Du hast es gesehen, bist du stolz auf deinen Jungen? – Häschen, ich fühle es immer wieder, wie du segnend um mich bist. Die Kinder sind mir geblieben, für die Kinder soll ich leben und wirken. Hermann ist mir erhalten geblieben, – du bist von uns gegangen, dich kann ich nicht mehr zurückrufen, aber meinen Kindern will ich noch mehr sein als zuvor. Was sagte mir der alte, einsame Freund, dem man alles nahm? Ich kann es nicht zwingen, daß die Knospen springen, kanns nicht zwingen, dich zurückzurufen. Aber in aller Stille die Knospen zum Reifen zu bringen und mich dadurch zum Frühling durchzuringen, das kann ich zwingen. – Häschen, ich will es auch zwingen! Die Knospen sollen reifen, deine Kinder sollen dir gleich werden. Und nun, mein liebes, liebes Häschen, nun will ich den Eltern ein freudiges Gesicht zeigen. Nicht immer weinen und klagen. Du bleibst mir, meine Arbeit an den Kindern bleibt mir auch, ich habe ja noch so viele Aufgaben zu erfüllen. Sollst doch stolz auf dein Goldköpfchen sein.«

Sie hob die Hände empor und streichelte innig sein Bild. Dann begab sie sich hinüber ins Wohnzimmer.

Frau Wagner schaute die Tochter mit forschenden Blicken an. In den müden Augen Bärbels stand heute ein kleiner Schimmer der Freude. War es die schöne Tat ihres Ältesten? Auch die Stimme Bärbels hatte jetzt nicht mehr den umflorten Klang. Irgendetwas war geschehen, das ihr ins Herz gedrungen und ihr Freude gebracht hatte. Aber niemand fragte sie danach. Nur in den Herzen der Eltern keimte leise die Hoffnung, daß sich der Tochter verzweifelter Schmerz langsam legen werde, daß ihr die geliebten Kinder neue Kraft geben würden, das Leben zu meistern.

»Morgen ist Neujahr«, sagte Apotheker Wagner, »aber ehe ich am zweiten Januar abfahre, kaufe ich Hermann einen neuen Schlitten. Wie hat er um das verlorene Spielzeug gejammert!«

»Und ich schicke ihm die Indianerausrüstung. Sie liegt daheim auf dem Boden in einer Kiste. Erinnerst du dich noch daran, Bärbel? Die Brüder haben mit Begeisterung Indianer gespielt. Alles wiederholt sich im Leben.«

»Oh, ich weiß es noch genau, Mama, hoffentlich fällt mir mein Hermann nicht auch die Spaziergänger an wie einstmals Kuno, als er sich in Dillstadt als Indianerhäuptling hervortat.«

»Laß ihn ruhig machen, in dem Jungen steckt so viel Gutes – –«

»Du hast ja gehört, wie er sich dem Konkurrenten gegenüber betragen hat. – Was wird mir das neue Jahr nur noch nach dieser Richtung hin bringen? Herr Brausewetter schrieb mir, daß er mit Herrn Hampel keinen Schritt vorwärts gekommen sei.«

»Hat dir der Hermann das Geschäft versiebt, wird er es nun wohl wieder gutmachen. Ich kann mir nicht denken, Bärbel, daß der Mann, den dein Junge vom Tode des Ertrinkens rettete, – nicht nur ihn, auch seine Tochter, – daß dieser Mann dir jetzt noch etwas nachträgt. Er muß deutlich erkannt haben, daß Hermann keine Verbrechernatur ist, wie er gesagt haben soll. Ganz im Gegenteil, ich denke, er findet sich persönlich bei dir ein, und ihr werdet in Zukunft gute Nachbarschaft halten.«

»Ach, Väterchen, wenn das einträfe, fiele mir mancher Stein vom Herzen. Ich bin ein wenig verzagt.«

»Nanu, – so kenne ich mein Goldköpfchen noch gar nicht. Immer Mut, es wird schon alles wieder gut werden!«

In den Augen der jungen Witwe glomm wieder leises Hoffen auf. »Ja, Väterchen«, sagte sie, »es muß werden. Heute, am Jahresschluß, habe ich es mir wiederum recht fest vorgenommen, Knospen zum Reifen zu bringen, das kann man zwingen. Meinst du nicht auch?«

Wagner zog seine Tochter fest an sich. »So ist es recht, mein liebes Goldköpfchen. In eines jeden Menschen Leben gibt es dunkle Stunden, Augenblicke, wo man glaubt, daß man die schwere Last nicht mehr tragen kann. Aber gemach, es geht noch immer. Freud und Leid ist des Menschen Dasein. Da gibt es eine schöne Bitte an die ewige Allmacht: wollest mit Freuden und wollest mit Leiden mich nicht überschütten, doch in der Mitten liegt stilles Bescheiden. – Nicht wahr, mein geliebtes Goldköpfchen, so wollen wir es halten.«

»Ja, Väterchen!« erwiderte sie fest und bestimmt.


 << zurück weiter >>