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Pommerle hatte den Kopf tief auf den Bogen gesenkt, den es mit Eifer beschrieb. Zeile reihte sich an Zeile. Es war so sehr in seine Arbeit vertieft, daß es das Eintreten des Onkels nicht hörte. Erst als Professor Bender dem Kinde die Hand auf die Schulter legte, blickte es auf.
»So fleißig, kleine Maus?«
»Sieh mal, Onkel, ich habe schon drei Seiten ganz voll geschrieben.«
»Für die Schule?«
»Nein – ein Wunschzettel zu Weihnachten.«
»Aber, Pommerle! Seit wann bist du denn so anspruchsvoll? Bist doch immer unser bescheidenes Pommerle gewesen.«
»In der Schule haben sie mir gesagt, ihr seid sehr reich, du verdienst schrecklich viel Geld. Da habe ich mir gedacht, ihr möchtet eurem Pommerle viel Freuden machen. Und wenn man schenkt, freut man sich doch. Nun schreibe ich alles auf, was ich haben möchte.«
»Wer reich oder arm ist, können deine Mitschülerinnen wohl sehr wenig beurteilen, mein liebes Kind. Dein Onkel ist ein fleißiger Mann, der sich sein Geld verdienen muß, und deine Tante ist eine tüchtige Hausfrau, die alles gut zusammenhält. Ich glaube nicht, daß dir alle deine Wünsche erfüllt werden.«
Pommerle hielt dem Onkel die beschriebenen Seiten hin. »Ich habe mir gedacht, daß es sehr schön wäre, wenn ich das alles bekäme.«
»Recht lange Pulswärmer? – Willst du Pulswärmer tragen?«
»Für den Jule.«
Weiter las der Professor. – Was stand da alles niedergeschrieben! Gewiß, Pommerle war nicht gerade bescheiden; es hatte sich allerlei hübsches Spielzeug ausgesucht. Aber auf dem Wunschzettel stand gar vieles, was für andere bestimmt war.
»Da wollen wir uns den Wunschzettel einmal nehmen und gemeinsam überlegen, was man streichen könnte.«
»Ich bin noch lange nicht fertig, Onkel.«
»Nun gut«, sagte Professor Bender, »so behalte vorläufig deinen Wunschzettel. Aber sprechen werden wir doch noch einmal darüber. Ich glaube, man kann auch glücklich und zufrieden sein, wenn man sich weniger wünscht. Meinst du das nicht auch?«
Pommerle blickte nachdenklich auf das Papier nieder, dann sagte es kleinlaut:
»Aber ein Roller, ein Handball, eine neue Puppe und ein Paar Schlittschuhe müßten es doch sein.«
»Hast du Lust, mich zu Meister Reichardt zu begleiten, mein Kind? Ich will zu ihm gehen und mir einen kleinen Schrank bestellen; will dem Meister sagen, wie er ihn machen soll.«
Der Federhalter flog auf den Tisch. Pommerle sprang auf. »Oh, fein! Zum Jule und zur Sabine, die nichts sehen kann!«
»Ganz recht, Pommerle. Auch ich möchte gern einmal das junge Mädchen wiedersehen. Sabine war lange von Hause fort; sie hat in Breslau allerlei gelernt. Nun ist sie zu den Eltern zurückgekehrt und wird sich nützlich machen.«
»Wenn man nichts sehen kann, Onkel, kann man sich doch nicht nützlich machen.«
»Deswegen ist Sabine ja lange in Breslau in einer Blindenanstalt gewesen. Dort lernte sie Lesen und Schreiben – –«
Pommerle lachte auf. »Lesen? – Wenn sie doch keine Buchstaben sehen kann?«
»Das erkläre ich dir unterwegs, Pommerle. Nun mache dich fertig, wir wollen gehen.«
Pommerle griff hastig in die Schürzentasche. Ein paar Bonbons kamen daraus zum Vorschein.
»Die nehme ich der blinden Sabine mit, Onkel, damit sie sich freut. Schmecken kann sie ja.«
»Ich finde, deine Bonbons sehen nicht gerade appetitlich aus, kleines Pommerle.«
»Das finde ich auch, Onkel, aber – sie sieht sie doch nicht.«
»Blinde können mit den Händen sehen.«
»Hahaha, Onkel –«
»Blinde haben solch ein feines Tastgefühl, daß sich Sabine sehr leicht eine Vorstellung machen kann, ob die Bonbons gut aussehen.«
Wieder wurde das kleine Mädchen nachdenklich. Dann sagte es ein wenig kleinlaut: »Onkel, schenkst du mir ein Stück Schokolade aus dem Kasten, wo jedes Stück so hübsch eingewickelt ist?«
»Ich denke, wir nehmen der Sabine den ganzen Karton mit.«
»Den Karton mit dem hübschen Bild darauf?«
»Ja, Pommerle, ich denke, du wirst ihn gern für Sabine hergeben.«
»Wenn sie doch das hübsche Bild auf dem Deckel nicht sehen kann, und wenn ich das hübsche Bild immerfort sehen kann? Oder – fühlt sie auch das Bild?«
»Aber, Pommerle, ich muß ja ganz neue Eigenschaften an dir entdecken. Ich dachte immer, du bist ein kleines Mädchen, das gern anderen etwas schenkt, zumal solchen, die nicht so glücklich sind wie du. Du hast zwei helle, große Augen, kannst alles sehen, und die arme Sabine ist blind. Willst du den Karton behalten, oder wollen wir ihn der Sabine schenken?«
»Der Sabine«, sagte das Kind leise.
Bald war man auf dem Wege zu Meister Reichardt. Aufmerksam hörte das kleine Mädchen den Worten des Onkels zu. Unzählige Fragen hatte es zu stellen. Es wollte Pommerle gar nicht in den Sinn, daß sich ein Blinder auch zurechtfinden könne, daß er das Lesen erlerne und Handarbeiten mache. Pommerle konnte es kaum noch erwarten, Sabine kennenzulernen; das Kind wollte die Sechzehnjährige fragen, ob sie tatsächlich alles das leisten könne, was der Onkel gesagt hatte.
Meister Reichardt stand gerade im Vorgarten seines Hauses, als Professor Bender herankam. Er fragte nach Jule und ob der Meister mit ihm zufrieden sei.
»Ich kann nicht über ihn klagen; er macht zwar manches verkehrt, ist mitunter etwas zu eifrig und verdirbt dabei allerlei. Aber er ist dann auch wieder einsichtsvoll, nimmt ruhig den Tadel hin und gibt sich Mühe.«
»Und wo ist er jetzt?«
»Hinten im Hof, er schichtet Bretter auf.«
»Dann laufe rasch mal zu ihm, Pommerle.«
Das ließ sich das kleine Mädchen nicht zweimal sagen. Jule war bald gefunden, seine Augen strahlten, als er Pommerle sah.
»Bist du fleißig?«
»Komm, kannst mir etwas helfen. – Hier, faß mal mit an!«
Aber in dem Augenblick, als Pommerle das erste Brett aufhob und ein Ächzen ausstieß, weil das Brett recht schwer war, rief Jule beinahe erschrocken:
»Nee, nee, laß mal liegen, das verstehst du nicht!«
Ihm stand plötzlich ›Rübezahls Leichenstein‹ wieder vor Augen. Er glaubte nun einmal an den Berggeist. Er ließ es sich nicht nehmen, daß der alte Herr mit seinem langen Bart überall herumsaß und ihn beobachtete.
»Ich kann schon tragen«, meinte Pommerle wichtig.
»Nein, nein, das ist keine Arbeit für junge Damen, das macht nur ein Lehrling.«
»Sie ist gerade drin in der Werkstatt.«
»Was macht sie denn da?«
»Nichts. Sie ist vorhin hereingekommen, da wird sie wohl noch dort sein.«
»Kann ich sie mal sehen, Jule?«
»Komm mit!« Jule klemmte zwei Bretter unter den Arm und schritt voran in die Werkstatt. Pommerle folgte ihm zögernd.
An der Hobelbank stand ein junges Mädchen. Ein dicker, blonder Zopf war zweimal um ihren Kopf geschlungen. Pommerle blieb an der Tür stehen und rührte sich nicht, als Jule sagte:
»Fräulein Sabine, hier ist das Pommerle, von dem ich Ihnen schon erzählt habe.«
»Das Pommerle! Willkommen, kleines Pommerle!«
Sabine hatte sich umgewandt, die beiden Mädchen standen sich gegenüber. Pommerle sah die ausgestreckte Hand nicht. Das Kind starrte der Blinden ins Gesicht und stellte fest, daß Sabine zwei richtige Augen im Kopfe hatte. Genau so blaue Augen wie Pommerle.
»Willst du mir nicht die Hand geben, Pommerle?«
Noch immer schaute Pommerle in das Gesicht Sabines. Dann streckte es die Hand aus, die Sabine herzlich drückte.
»Du bist die Sabine? Vom Meister Reichardt die Sabine?«
»Ei freilich.«
Pommerle hielt den Karton mit dem Konfekt hin, wickelte rasch das Papier ab und sagte:
»Möchtest du das haben?«
»Was denn?«
»Das hier!«
»Willst du es mir nicht einmal zeigen?«
Der Onkel hatte gesagt, daß Sabine mit den Händen so gut fühlen könne, daß sie wisse, was sie bekäme. Sie reichte Sabine die Schachtel.
»Das hast du mir mitgebracht, kleines Pommerle? Sicherlich ist da etwas Gutes zum Essen darin. – Soll ich alles haben?«
»Ja, alles. Mach doch mal auf!«
Geschickt öffnete Sabine die Schachtel, fuhr mit den Fingerspitzen über den Inhalt hinweg und sagte freudig:
»Oh, welch schönes Konfekt! Ich danke dir herzlichst dafür, Pommerle.«
Das kleine Mädchen war fassungslos. So etwas hatte es noch nicht erlebt. Und als nun Sabine das Kind sogar aufforderte, es möge mit ihm hinüber in die Wohnung kommen, kannte das Staunen Pommerles keine Grenzen.
»Komm, Pommerle, ich führe dich hinüber zur Mutter. Der Vater hat jetzt zu tun.«
Die Kleine wagte kaum zu atmen. Sie sollte von Sabine geführt werden – von einer Blinden, die gar nichts sah! Willenlos ließ sich das Kind an die Hand nehmen. Immer wieder gingen die blauen Kinderaugen zu Sabines Gesicht hinauf, das froh und zufrieden aussah.
Sabine war zur Tür gegangen. Pommerles Herz schlug laut, als die Blinde vor der Schwelle stand. Jetzt mußte Sabine gleich hinfallen. Aber das junge Mädchen schritt darüber hinweg, ging an einem Stoß Bretter, der im Hofe stand, ohne Zögern vorüber und schritt ganz richtig, ohne einen Umweg zu machen, auf die Haustür zu.
»Ich denke – du bist – blind?«
»Das bin ich, Pommerle.«
»Wie siehst du denn dann, wo du gehen mußt?«
»Ich fühle es, und ich höre es.«
»Wenn ich die Augen zumache, fühle und höre ich nicht, wo ich gehen muß, dann falle ich hin.«
»Das ist eben bei uns ganz anders, kleines Pommerle.«
»Bist du nicht sehr traurig, daß du nichts sehen kannst?«
»Nein, kleines Mädchen, warum soll ich traurig sein? Ich habe so vieles, worüber ich mich freuen kann; ich bin behütet und beschützt von den Eltern, habe liebe Freunde, ich höre die Vögel singen, das Wasser rauschen. Ich kann teilhaben an allen Unterhaltungen, die die Eltern führen. Und wenn ich auch nicht zwei Augen habe wie andere Menschen, kann ich mir doch vorstellen, wie schön die Welt ist.«
»Weißt du auch, wie die Blumen aussehen und die Fische – und die Schiffe?«
»Ja, das stelle ich mir alles vor. Man hat uns vieles gezeigt, wir haben es befühlen dürfen, und daher würde ich mich in der Welt zurechtfinden.«
»Wenn es doch immer schwarz vor deinen Augen ist, so kannst du dich doch nicht an der Sonne und den Sternen erfreuen. – Oder – siehst du doch ein bißchen von der Sonne?«
»Von der Sonne, die du siehst, sehe ich freilich nichts, Pommerle, trotzdem ist es nicht dunkel vor meinen Augen – und auch nicht dunkel in meinem Herzen. Ich weiß nicht, ob du das schon verstehst, kleines Mädchen. Wir Blinden, wir fangen uns die Sonne ein, die behalten wir dann im Herzen, und der Mensch, der Sonne im Herzen hat, für den kann die Welt nicht öde und traurig sein. Wir finden immer etwas, worüber wir uns freuen, wir sind dem Himmel dankbar, daß wir noch so viel Schönes genießen und in uns aufnehmen können.«
»Wenn du nun die Sonne im Herzen hast, Sabine, dann hast du wohl immer Freude?«
»Ja, Pommerle, ich weiß, daß ich blind bin, daß ich es immer bleiben werde. Wenn mir nun auch dieser eine Sinn fehlt, nutze ich die anderen doppelt aus.«
Die beiden standen vor dem Hause. Sabine öffnete die Tür.
»Komm, wir gehen nun zur Mutter.«
»Eine Mutter hast du noch«, sagte Pommerle, »da hast du sehr viel. Der arme Jule hat keine mehr – und ich auch nicht. Mein Vater ist ertrunken. – Du hast auch noch einen Vater. – O ja, du hast noch viel Sonne im Herzen.«
Wieder kam eine Schwelle. Eben wollte Pommerle laut aufschreien, um Sabine zu warnen, da war das junge Mädchen schon darüber hinweggestiegen, ging ohne Zögern den Flur entlang, hin zu einer Tür.
Das alles begriff Pommerle nicht. Es mußte wohl mit der Sonne im Herzen zusammenhängen, die so hell herausleuchtete, daß Sabine immer alles fand – die Tür, die Klinke, daß sie die Schwelle sah und nicht an den Haufen Bretter stieß.
Im Zimmer gab es wieder viel neue Überraschungen. Sabine schob dem Pommerle einen Stuhl hin und wollte davongehen, um die Mutter zu rufen.
»Inzwischen kannst du dir einmal die kleinen Körbchen ansehen, die ich gearbeitet habe.«
Was war das für ein feines Rohrgeflecht! Körbchen mit blauem und rotem Rand; sogar Muster waren hineingeflochten. Und alles das hatte eine Blinde gearbeitet.
Sabine war längst hinausgegangen, und Pommerle schaute noch immer fassungslos auf die hübschen Arbeiten. Da kam Sabine schon wieder zurück ins Zimmer und mit ihr die Meisterin. Das erste war, daß sich Pommerles Augen in die der freundlichen Frau bohrten. Wie kam es nur, daß ein Vater und eine Mutter sehen konnten und doch ein Kind hatten, das blind war.
Freundlich sprach die Meisterin mit Pommerle. Die Kleine wagte kaum zu antworten. Solange sie neben Sabine saß, fühlte sie sich verwirrt. Alles, was die Blinde sagte, erschien Pommerle ganz anders. Wenn Sabine erzählte, daß sie kürzlich eine hübsche Geschichte gelesen habe, daß sie demnächst auch durchs Hirschberger Tal wandern wollte, klang es Pommerle wie ein Märchen.
»Und wenn du nun mal zu einem Doktor gehst, kann der dich denn nicht gesund machen?«
»Ich bin doch gesund, Pommerle.«
»Aber du kannst doch nicht sehen!«
»Da kann mir auch der Doktor nicht helfen.«
»Wenn du aber groß bist, kannst du dann auch noch nicht sehen?«
»Nein, niemals mehr.«
»Auch dann nicht, wenn du ganz alt bist?«
»Nein, Pommerle.«
Aus Pommerles Augen fielen Tränen. Sabine sprang auf und legte den Arm um das erschütterte Kind.
»Liebes Pommerle, warum weinst du?«
»Weil – weil – du nie mehr sehen kannst!«
»Du gutes, liebes Mädchen. Aber darüber brauchst du wirklich nicht zu weinen. Glaube mir, Pommerle, ich bin trotzdem so glücklich wie du. Das hat das Schicksal schon so eingerichtet. Ich brauche auch gar nicht traurig zu sein, ich fühle mich wirklich recht zufrieden. Von innen heraus kommt so viel Fröhlichkeit, so viel Glück, daß ich meine Blindheit ganz und gar vergesse. Ich kann ja noch einiges arbeiten, und wenn ich erst länger im Hause bin, dann werde ich auch der Mutter fleißig helfen, ganz gewiß! Ich werde kochen und plätten und wirtschaften. Das kann ich alles, Pommerle. – Warum sollte ich also traurig sein?«
»Wenn du doch aber nicht siehst, daß die Veilchen blau blühen, und daß der Schnee so schön weiß ist und das Meer so schön blau, und die vielen, vielen Wolken darüber.«
»Ich sehe es auch, Pommerle, ich sehe das alles mit meinen blinden Augen. Vielleicht ein wenig anders als du, aber ich sehe es mit meinem Herzen.«
Langsam trocknete Pommerle seine Tränen. In diese neue Welt mußte es sich erst hineinfinden. Nochmals betrachtete es staunend all die hübschen Körbchen, hörte von den vielen Handarbeiten, die die Blinden anfertigten. Dann kam Professor Bender und mahnte zum Aufbruch.
»Onkel, darf die Sabine auch mal zu uns kommen? Wenn sie doch sehen kann, will ich ihr meine Puppen und den Gummifrosch zeigen.«
»Aber natürlich darf die Sabine kommen. – Wie wäre es, wenn du sie am nächsten Sonntag abholtest? Und der Jule kommt auch mit?«
»Kommst du?« fragte das Kind unsicher.
»Natürlich komme ich gern zu dir.«
»Ich werde dich abholen. Dann trinkst du bei uns Kaffee. Du darfst auch allen meinen Kuchen essen. Und ich schenke dir – ich schenke dir – ganz was Schönes. Dir – schenke ich es jetzt gern.«
»So, mein Pommerle, nun verabschiede dich, und dann komm.«
»Darf ich noch schnell mal zum Jule gehen?«
»Freilich, aber halte den Jule nicht lange auf. Ich warte auf dich.«
Leise und behutsam drückte Pommerle der blinden Sabine die Hand. Diese Hand war für das Kind etwas ganz Wundersames geworden. Mit dieser Hand konnte Sabine alles erfühlen, was sie nicht sehen konnte.
Pommerle lief nach der Werkstatt. Da stand der Jule.
»Jule«, sagte das Kind, heiser vor innerer Erregung, »sieh dir mal alles recht genau an. Es könnte doch auch mal sein, daß du blind wirst. Dann ist es schwarz vor dir. – Du mußt dir auch die Sonne einfangen, ins Herz hinein einfangen, damit es niemals vor dir dunkel wird. Jule, es drückt mich so am Herzen. Aber sie ist nicht traurig, sie sagt, sie kann sehen, nur anders.«
»Sehen kann sie nun nicht, aber ich habe mir schon gedacht, der Rübezahl hat doch eine Wurzel, mit der kann er Tote wieder lebendig machen. Vielleicht kommt er mal und hält der Sabine die Wurzel an die Augen. Dann kann sie wieder sehen.«
»Jule, du bist dumm! Der Rübezahl ist eine Sage. Sie hat gesagt, sie kann nie mehr sehen, und wenn sie so alt wird wie eine Großmutter.«
»Vielleicht kommt er doch mal mit der Wurzel.«
»Am Sonntag kommt ihr zu uns. Die Sabine auch. Oh, wir wollen sehr lieb zu ihr sein.«
Daheim angekommen, ging Pommerle in sein Stübchen. Auf dem Tisch lagen die drei Blätter, voll beschrieben mit den Wünschen.
»Ich bin reich – ich bin glücklich«, sagte das Kind. »Ich will zufrieden sein, ich will nichts haben. Ich will meine hellen Augen behalten. Ich kann die schöne, große Welt sehen, ich will keinen Roller, ich will auch keine Puppe. Ich will der Sabine lieber etwas ganz Schönes schenken.«
Energisch riß Pommerle seinen Wunschzettel durch. Nach einer Weile nahm es ein neues Blatt Papier zu Hand, überlegte zuerst ein Weilchen, dann setzte es zögernd die Feder an.
»Ich wünsche mir, daß ich der Sabine eine große Freude machen darf, und dann möchte ich noch einen ganz kleinen Roller, um durch die schöne Welt zu fahren, die ich sehen kann. Und wenn ich noch um etwas bitten dürfte, ich möchte auch noch einen Handball.«
Das letzte strich das Kind wieder durch.
»Nein, es ist genug«, sagte es energisch. »Aber lesen kann man es doch noch. Vielleicht bekomme ich ihn trotzdem.«
Und dann stand das kleine Mädchen lange am Fenster, schaute hinauf zum Himmel, blickte hinaus in den verödeten Garten.
»Oh, du schöne, große Welt, die ich sehen darf!«
*
Der Frühwinter war in diesem Jahre so schön, daß Professor Bender seinem Pflegetöchterchen Pommerle den Vorschlag machte, am kommenden Sonntag nicht daheim am Kaffeetische zu sitzen; es würde Sabine sicherlich eine große Freude sein, wenn man mit ihr und Jule ein wenig durchs Hirschberger Tal wandere. Noch sei kein Schnee gefallen, es ließe sich also trefflich marschieren.
»O ja«, sagte Pommerle strahlend, »das wird ihr Freude machen. Ach, Onkel, wenn heute schon Weihnachten wäre, wünschte ich mir was zum Sonntag.«
»Was wünschtest du dir?«
»Daß wir mit der Sabine zum Harfen-Karle gingen. Weißt du, der Harfen-Karle kann so schöne Lieder singen. Er soll auch mal der Sabine etwas vorsingen. Irgendein Lied, über das sie schrecklich lachen muß und sich freuen kann.«
»Wenn es am Sonntag schön ist, können wir ja einmal den Harfen-Karle besuchen. Ich will schon lange einmal hinaus zu ihm gehen.«
»Es ist auch nur zu deinem Besten, lieber Onkel. Der Harfen-Karle hat lauter Kasten mit Kräutern, über die du viel schreiben kannst, und dann verdienst du wieder massenhaft Geld damit. Ja, ja, komm nur mit mir zum Harfen-Karle.«
»So wollen wir es Meister Reichardt wissen lassen, daß wir schon am Sonntag vormittag loswandern wollen. Früh gegen neun Uhr holst du die Sabine ab, wenn es nicht regnet. Und der Jule geht auch mit.«
Während der nächsten zwei Tage schaute das Kind gar häufig zum Himmel hinauf. Als es aber am Sonntag morgen schön und trocken war, sprang Pommerle in aller Frühe aus den Federn und eilte zum Bett des Onkels.
»Heute geht es zum Harfen-Karle. Ich hole gleich nachher die Sabine und den Jule!«
Bereits um neun Uhr war Pommerle bei Meister Reichardt. Sabine kam dem Kinde freudestrahlend entgegen.
»Ach, wie freue ich mich auf den Spaziergang, es wird wunderschön werden!«
Auch der Jule stellte sich pünktlich ein. Pommerle faßte die Blinde an der Hand, der Jule mußte an Sabines anderer Seite gehen, und dann ging es dem Hause des Professors zu.
Pommerles Herzchen klopfte wie ein Hammer. Es hatte namenlose Angst um Sabine. Wenn ein Straßenübergang kam, kündete es der Blinden schon eine ganze Weile vorher dieses Hindernis an. Vernahm Pommerle aus der Entfernung Räderrollen, eilte es mitten auf die Straße; kam der Wagen näher, streckte es beide Arme aus, zum Zeichen, daß man vorsichtig und langsam fahren solle. Kurzum, das Kind befand sich beständig in Angst und atmete erst auf, als man das Haus des Onkels erreicht hatte.
Sabine hatte zwar mehrfach ihrer kleinen Beschützerin gesagt, daß solch übergroße Vorsicht gar nicht notwendig sei. Aber Pommerle war sich seiner Verantwortung voll bewußt. Es nahm sich auch vor, auf dem Wege durchs Hirschberger Tal die blinde Sabine treu zu behüten.
Frau Bender nahm an dem Spaziergang nicht teil. Sie hatte daheim zu tun und ließ den Gatten mit seinen drei Schützlingen allein gehen.
»Ich denke, Sabine, du nimmst meinen Arm, und die beiden anderen laufen neben uns her. Ich kann dir dann am besten die Gegend erklären und dich auf allerlei aufmerksam machen.«
»Soll sie der Jule nicht noch an die Hand nehmen?« fragte Pommerle besorgt.
Professor Bender schüttelte den Kopf. »Sabine hat ihr Spazierstöckchen mitgenommen, mit dem sieht sie.«
Pommerle sagte dazu gar nichts. Alles, was Sabine betraf, war so merkwürdig, daß an den Worten des Onkels nicht zu zweifeln war.
Hatte sich Pommerle eingebildet, daß man nur ganz langsam, Schritt für Schritt gehen werde, so irrte es sich. Der Professor schritt rüstig aus, und die blinde Sabine wanderte wacker an seiner Seite mit. Pommerle ging stets sechs Schritte vor den beiden her. Es achtete nur auf den Weg. Lag ein größerer Stein oder ein kleines Ästchen auf dem Wege, bückte es sich schnell und räumte das Hindernis fort, daß die Blinde ja nicht stolpere.
Sabine fühlte sich sehr glücklich. Wie lange hatte sie sich nach solch einer Wanderung gesehnt! Doch die Mutter war schlecht zu Fuß, und der Vater hatte bisher noch keine Zeit gehabt, seiner Tochter diese Freude zu bereiten.
»Wenn es nicht zu anstrengend ist, Sabine, gehen wir öfter einmal. Jetzt kommt freilich erst mal der Winter. Wenn dann aber die Natur wieder erwacht, geht es einmal etwas höher hinauf.«
»Ach ja, wenn der Frühling kommt, wenn alles wieder grün wird, wenn die Vöglein singen, dann wollen wir hinauf in die Berge gehen.«
Pommerle hatte diese Worte gehört. Ein Weilchen blieb das Kind still; dann schlich es an Jule heran und sagte flüsternd:
»Wenn der Frühling kommt, so sieht sie es auch, wenn es grün wird. Das sieht sie alles mit dem Herzen, weil sie dort viel Sonne hat.«
Nach einstündiger Wanderung war das bescheidene Häuschen des Harfen-Karle erreicht. Heute saß der Alte nicht vor der Hütte. Man fand ihn im Zimmer. Er war gerade damit beschäftigt, getrocknete Blätter in kleine Säckchen zu legen.
»Das ist ja ein gar lieber Besuch«, sagte der Alte. »Ei, Herr Professor, welche Freude, daß Sie auch wieder einmal zu dem Alten kommen!«
»Ich bringe Ihnen noch anderen Besuch mit, alter Freund.«
Gar schnell war man in lebhafter Unterhaltung. Pommerle rückte schon ein Weilchen ungeduldig auf dein Stuhl hin und her, so daß Professor Bender lachend sagte:
»Was ist denn mit dir, Kleines, hast wohl keine Ruhe zum Sitzen mehr?«
»Ich möchte gern auch mal mit dem Harfen-Karle reden.«
»Was willst du denn von mir wissen, kleines Mädchen?« fragte der alte Mann freundlich.
»Möchtest du mir nicht ein Lied singen?«
»Ach was, das kann ich nicht mehr recht.«
Pommerle legte bittend die Hände zusammen. »Du kannst es so gut wie kein anderer. Hast mir damals so ein schönes Lied gesungen, ich weiß es heute noch. Und dem Jule habe ich es auch gesagt. Er weiß jetzt, daß er zur Arbeit, nicht zum Müßiggang geschaffen ist. – Harfen-Karle«, Pommerle nahm den Alten am Bart und zog seinen Kopf zu sich herab, »singe der Sabine doch auch so ein hübsches Lied. Ein Lied, das sie froh und glücklich macht. – Die Sabine hat keine Augen, vor der ist es immer finster. Aber sie meint, sie kann doch sehen, weil sie sich die Sonne eingefangen hat. – Harfen-Karle, bitte, bitte, singe der Sabine ein Lied, damit sie recht froh ist.«
»Na, wenn du meinst, daß es eine Freude wird, will ich es schon tun. – Ich soll dem kleinen Pommerle ein Lied vorsingen.«
»Nein, der Sabine«, rief Pommerle lebhaft.
»Für mich ein Lied? Das wäre sehr schön, wenn es der Harfen-Karle täte«, sagte Sabine.
»Hörst du?« meinte das Kind. Dann eilte es in die Ecke und winkte dem Alten.
Lachend kam Harfen-Karle heran.
Die Augen des Alten glitten zu Sabine hinüber, die den Kopf lauschend gehoben hatte. Ein Weilchen überlegte er, dann begann er:
»Ich bin ein armes, doch frohes Blut,
Trotz meiner Leiden und Schmerzen,
Ich habe als eigen das kostbarste Gut,
Ich habe die Sonne im Herzen.
Ich sing' mit den Vöglein, daß laut es schallt,
Kann lachen, springen und scherzen,
Ich freu' mich an Wiese, Feld und Wald,
Ich habe die Sonne im Herzen.
Drum bin ich der reichste, der glücklichste Mann,
Vergessen sind Sorgen und Schmerzen,
Ich wandle zufrieden des Lebens Bahn,
Denn mir leuchtet die Sonne im Herzen.«
Pommerle sah in Sabines glückliches Gesicht. Dem Kinde wurde andachtsvoll zumute. Ja, das war ein Lied, wie es zu Sabine paßte, die sich die Sonne eingefangen hatte und in deren Herzen es hell und licht war. Dann blickte Pommerle auf den alten Harfen-Karle, der auch seinerseits schmunzelnd zu dem Kinde hinüberschaute.
»War's gut so?«
»Lieber, lieber Harfen-Karle«, sagte Pommerle, und in diesen wenigen Worten lag heißer Dank einer beglückten Kinderseele.
»Wie schön, wie wunderschön war das!« sagte nun auch Sabine.
»Hat es dir Freude gemacht?« forschte die Kleine.
»Ich habe schon viele schöne Tage erlebt, Pommerle, doch der heutige war wohl der schönste von allen. Nun hast du es auch gehört, daß es das Schönste und Beste ist, wenn man sich die Sonne im Herzen eingefangen hat.«
Pommerle breitete die Arme aus. »Oh,« rief es glücklich, »jetzt weiß ich, wie es ist, wenn die Sonne ins Herz hineinrutscht. Mir ist so heiß hier drin, es klopft so furchtbar. Oh, ich bin so froh, so froh! Bist du nun auch wirklich glücklich, Sabine? Und war's schön, was der Harfen-Karle sang?«
»Das alles habe ich dir zu verdanken, Pommerle, dir und deinem guten Onkel.«
»Onkel, nun habe ich auch die Sonne im Herzen und, nicht wahr, du auch, denn die Sabine ist so froh und zufrieden.«
Professor Bender legte den Arm zärtlich um sein kleines Pflegetöchterchen und drückte das Kind an seine Brust.