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Förster Sandler hatte auch am heutigen Tage, wie schon so oft, sein Töchterchen mit in den Wald genommen. Da nicht weit vom Forsthaus gearbeitet wurde, konnte die Kleine, ohne daß der Vater etwas zu befürchten brauchte, allein den Heimweg antreten. Aber heute wollte Hedi nicht so rasch von der Seite des Vaters fortgehen, denn es wurden hohe Bäume gefällt; das war für das kleine Mädchen ein gar wichtiges Ereignis.
Anfangs war die Kleine immer sehr traurig gewesen, daß solch schöner Baum sterben mußte. Als ihr der Vater aber erklärte, daß nur die Bäume geschlagen würden, die keine Lust mehr zum Leben hätten, beruhigte sich Hedi.
»Für die kleinen Bäume muß Platz gemacht werden, mein Kind, sie sollen doch auch groß und kerzengerade wachsen. Das könnten sie jedoch nicht, wenn all die alten Bäume stehenbleiben.«
»Aber es tut dem Baum gewiß weh, wenn man auf ihn loshackt.«
»Wir hacken nur solche Bäume um, denen es nicht mehr wehtut, mein Kind. Die Waldarbeiter wissen ganz genau, wie sie es anfangen müssen, damit der Baum keine Schmerzen leidet.«
Aufmerksam verfolgte das Kind die Säge, die in dem dicken Baumstamm hin und her ging. Wenn sie gar zu laut wurde, meinte Hedi traurig:
»Vati, ich glaube halt doch, daß es dem Baum weh tut.«
Der Vater führte seine weichherzige Tochter schließlich fort. Er ließ das Kind auf geschlagenen Baumstämmen laufen, ließ sie schöne Tannenzapfen suchen, und so wurde Hedi bald wieder fröhlich.
»Kannst du auch auf den Baumstämmen laufen, Vati?«
»Freilich kann ich das! Als Junge habe ich das immer gemacht.«
»Bist du als Junge auch viel im Walde gewesen?«
»Jawohl, den ganzen Wald habe ich durchwandert.«
»Ist doch schade, Vati, daß ich dich damals nicht gekannt habe, als du noch ein kleiner Junge warst; wir hätten so schön miteinander gespielt.«
»Bald wird dein kleines Schwesterchen auch so groß sein, daß du mit ihm spielen kannst.«
Hedi zog die Nase kraus. »Nein, Vati, das kleine Schwesterchen wächst nicht, mit dem kann ich nichts anfangen, mit dem kann ich auch nicht spielen.«
»Dein kleines Schwesterchen wird mit jedem Tage klüger. Es kennt dich schon und freut sich, wenn es dich sieht.«
»Wie heißt denn das kleine Schwesterchen, Vati?«
»Das ist eine kleine Waltraut.«
»Heißt sie so?«
»Ja!«
»Ach – Vati, das ist nicht schön, wir wollen sie Greif nennen, so wie der große Hund vom Onkel Oberförster heißt. – Nicht wahr, Vati, wir nennen sie Greif?«
»Aber Pucki – –«
»Ich weiß, Vati, wir nennen sie Mucki! Ein Muckenhorn wird ihr schon noch wachsen, wenn sie groß ist! – Ach ja, wir nennen sie Mucki!«
»Wir haben an unserer Pucki reichlich genug, eine Mucki wollen wir nicht haben.«
»Haste genug an mir, Vati? – Wozu brauchen wir dann noch so'n Kindchen.«
»Es ist doch schön, wenn du ein Schwesterchen hast.«
»Möchtest du auch einen Paul, einen Walter und einen Fritz haben wie Onkel Niepel?«
»Nein, nein«, lachte Förster Sandler, »ich habe vorläufig an euch beiden genug!«
»Ich auch, Vati – aber es wäre schon besser gewesen, wenn ihr an mir genug hättet. Und wenn ich nicht weg gewesen wäre, hätte sich die Mutti auch keinen Greif angeschafft. – Oh, es war sehr dumm von mir, daß ich weg war.«
»Da hast du recht! – Doch nun mußt du heimgehen, Pucki, sonst ängstigt sich die Mutti.«
»Und sonst holt sie sich noch ein Kindchen.«
»Immer hübsch den Weg geradeaus, nicht wieder verlaufen wie damals.«
»Nein, Vati – ich habe gar keine Angst.«
»Du brauchst auch keine Angst zu haben, Pucki, du weißt doch, jedes Kind hat seinen Schutzengel.«
»Läuft der Schutzengel immer neben mir her?«
»Ja, das tut er.«
»Geht der Schutzengel auch mit in den dunkelsten Wald?«
»Ja, mein Kleines, der Schutzengel bleibt immer an deiner Seite.«
»Hat der Greif auch einen Schutzengel?«
»Ein Hund braucht keinen Schutzengel.«
»Ich meine doch das Schwesterchen, das bei uns im Wagen schreit.«
»Also dein Schwesterchen Waltraut! Ja, Waltraut hat auch schon einen Schutzengel, sogar einen ganz großen. Der hält beide Arme über das kleine Mädchen, damit ihm gar nichts passieren kann.«
»Hat's einen größeren Schutzengel als ich?«
»Je kleiner ein Kind ist, um so größer ist der Schutzengel.«
»Vati, dann hast du nur noch 'nen ganz kleinen Schutzengel, so klein wie ein Mäuschen.«
»Das genügt; die Hauptsache ist, daß jeder Mensch vom lieben Gott beschützt wird. Ob es nun ein großer oder ein kleiner Engel ist, bleibt sich gleich.«
»Und der Engel ist so wie die Luft, daß man ihn gar nicht mal sehen kann? – Steht er denn immerzu neben dem Wagen von dem kleinen Mädchen?«
»Ja.«
»So, so – Mutti weiß das auch? Darum läßt sie manchmal den Wagen allein im Garten stehen.«
»Pucki, du mußt nun heimgehen, Mutti wartet auf dich. Sie wird sich ängstigen, wenn du nicht kommst.«
»Nur noch ein kleines bißchen. – Wenn ich nun auf einem anderen Wege nach Hause gehe, kommt dann der Schutzengel auch mit oder geht der immer nur geradeaus?«
»Du darfst auf keinem anderen Wege gehen als auf diesem. Wenn du nicht folgst, nehme ich dich nicht mehr mit in den Wald.«
»Ich wollte doch nur wissen, Vati, ob der Schutzengel das immer mitmacht, was ich mache. – Hat der Schutzengel vom Paul auch mit auf dem Baum gesessen? Ist er mit heruntergekullert?«
»Nein, der Schutzengel hat unten am Baum gestanden, er hat den Paul gewarnt, hinauf zu steigen – –«
»Und da hat der Paul nicht gehört?«
»Und dann hat ihn der Schutzengel aufgefangen, als er vom Baum fiel, sonst hätte sich der Paul den Kopf zerschlagen.«
»Da hätte ihn der Schutzengel aber besser auffangen müssen, Vati. Ein Bein ist doch zerbrochen.«
»Das war die Strafe dafür, daß er den lahmen Knecht verhöhnte. Wäre der Schutzengel nicht gewesen, so wäre das Bein vom Paul nicht so gut geheilt. Doch der Schutzengel hat gleich seine Hand darauf gelegt, damit der Paul kein Hinkeldei wurde.«
»Vati, ich möchte gerne wissen – –«
»Pucki, jetzt wird Vati ernstlich böse, wenn du nicht sogleich heimgehst. – So, hier hast du den geraden Weg vor dir, und in fünf Minuten bist du am Forsthaus. Ich warte hier noch ein Weilchen und kann dich sehen.«
»Wenn nun aber der Schutzengel so hinter mir hergeht, daß du mich nicht sehen kannst?«
»Du hast doch selbst gesagt, der Schutzengel ist wie die Luft. Durch den Schutzengel kann man sehen. Auch geht er nicht hinter dir, sondern neben dir.«
»Wo geht er denn, Vati – hier oder hier?« Das Kind wies nach rechts und nach links.
»Das kann ich nicht wissen. Wahrscheinlich geht er an der Seite, wo du dein Herzchen hast. – So, und nun lauf!«
»Vati – ich glaube, der Schutzengel meint, er wollte noch ein bißchen im Walde bleiben. Er möchte gern sehen, wie der große Baum umknallt.«
Förster Sandler streckte den Arm aus und wies gebieterisch auf den Weg.
»Nun aber los, Hedi!«
»Na dann komm, Schutzengel!«
Sehr langsam trottete die Kleine den breiten Weg entlang. Von Zeit zu Zeit sah sie sich um, und als sie noch immer den Vater bemerkte, winkte sie ihm zu.
Der Schutzengel, der neben ihr herschreiten sollte, beschäftigte das Kind außerordentlich.
Hedi wandte sich rasch noch einmal um. Vom Vater war nichts zu erblicken. So bog sie voller Übermut in einen kleinen Pfad ein, wandte rasch nochmals den Kopf zurück und – lag im nächsten Augenblick auf der Nase. Sie war über eine Wurzel gestolpert, die sie nicht bemerkt hatte.
Die Kleine verzog das Gesicht und rieb die Stirn.
»Hättest auch besser aufpassen können, Schutzengel – nu komm, wir wollen schon den breiten Weg gehen.«
Endlich war das Forsthaus erreicht. In jähem Schreck blieb Pucki an der Pforte stehen. – Was war denn das? Dort, an der Laube der Wagen, in dem das kleine Schwesterchen lag und direkt daneben ein viel kleinerer Kinderwagen, in dem auch ein blondlockiges Kindchen saß. Es hatte einen Teddybär in den Händen, den es krampfhaft festhielt.
In Hedi stieg der Zorn empor.
»Nun bin ich nur so'n bißchen länger fortgewesen, da hat sich die Mutti schon wieder ein Kindchen geholt!«
Eine tiefe Falte wurde auf der Stirn Hedis sichtbar, als sie an den kleinen Wagen herantrat.
»Was wollen alle die Kinder bei uns? – Ich will nicht noch ein Kindchen haben, und der Vati will auch nicht! Er hat gesagt, jetzt ist es genug! Ich verstehe die Mutti nicht, immerfort holt sie sich ein neues Kind! Zuerst war's so schön, als ich allein war.«
Dicht neben dem kleinen Wagen stand das schlafende Schwesterchen. Das war noch viel kleiner als das, was sich die Mutti heute geholt hatte.
»Was willst du denn hier? Wir sind genug, wir brauchen dich nicht!«
Puckis Hände faßten den Griff des kleinen Wagens, und plötzlich ging ein helles Leuchten über das Kindergesicht.
»Hab mal keine Angst, Kleine, wenn ich dich in den Wald fahre. Du hast auch einen großen Schutzengel, der steht immerzu neben dir. Keiner tut dir was. Wir wollen dich nicht, Kleine!«
Behutsam fuhr Hedi den Sportwagen aus dem Garten hinaus, bog in den breiten Weg ein, den sie soeben gekommen war und hielt bald im Fahren inne. Zu Vati durfte sie nicht, er würde vielleicht das Kindchen auch behalten, obwohl er vorhin gesagt hatte, daß er so viele Kinderchen nicht wolle.
»Du kriegst 'ne andere Mutti! Wir können dich nicht brauchen.«
Mit diesen Worten bog Hedi in den kleinen Waldweg ein, den Wagen vor sich herschiebend. Dem kleinen Buben, der mit dem Teddybär spielte, schien diese Spazierfahrt gut zu gefallen. Er schaute Hedi vergnügt an und ließ von Zeit zu Zeit ein leises Lachen hören.
»Ich fahre dich in den ganz dunklen Wald, der Schutzengel ist immer bei dir – ein ganz großer – so groß, wie dort der Baum!«
Da der Weg viele Wurzeln aufwies, holperte der kleine Wagen bedenklich. Hedi ließ sich dadurch nicht bange machen. Einmal streifte auch ein tief herabhängender Zweig das Gesicht des Kindes, und es begann zu schreien.
»Still bist du!« rief Hedi, »sonst schilt dein Schutzengel!«
Nachdem sie etwa zehn Minuten auf dem schmalen Weg gefahren war, fühlte Pucki sich ermüdet.
»Jetzt ist es genug«, meinte sie, »nun kann dich eine andere Mutti holen. Vati wird gewiß 'ne Freude haben, wenn er hört, daß das neue Kindchen weg ist.«
Der Wagen wurde neben einen Baum geschoben, Hedi nickte dem kleinen Kinde zu und sagte schon im Fortgehen: »Der Schutzengel ist bei dir – so, nun sind wir dich los!«
Mit erleichtertem Herzen eilte sie zurück. Noch war der breite Weg nicht erreicht, da hörte sie in der Ferne lautes Krachen.
»Der Baum ist gepurzelt, ich muß hin!«
Vergessen war die Mahnung des Vaters. Hedi setzte sich in Laufschritt, erreichte bald den breiten Weg, stürmte vorwärts, vernahm auch kurze Zeit darauf das Sprechen der Waldarbeiter und stand in der nächsten Minute vor den Leuten, die soeben den dicken Baum gefällt hatten.
»Bum, da liegt er«, rief sie erfreut!
Förster Sandler war nicht mehr bei den Waldarbeitern; er war bereits zu einem anderen Schlage gegangen und ahnte daher nicht, daß seine unfolgsame Tochter zurückgekommen war. Für Hedi gab es vieles zu erkunden. Sie stellte unzählige Fragen an die Leute, die lachend von ihnen beantwortet wurden. Man hatte das kleine blonde Mädchen des Försters gar gern. Die Arbeiter scherzten mit ihm und freuten sich über das liebe Kind. Hedi lauschte auf jedes Wort, das gesprochen wurde. Manches verstand sie freilich nicht; daß man aber einen Baum zersägte und ihn zu einer Klafter zusammenstellte, war ihr bekannt und nichts neues.
»Hackt ihr den Baum nu auch noch kaputt?«
»Nein, der bleibt stehen.«
»Weil er noch nicht krank ist, weil er noch jung ist?«
»Ja, Hedi, deswegen bleibt er stehen.«
Dann sprachen die Männer allerlei zusammen und plötzlich sagte einer laut und vernehmlich:
»Wenn es doch der Oberförster so haben will, können wir nichts ändern.«
»Oh, da tutet es! Das ist der Onkel Oberförster!«
»Mädel, Hedi, hierbleiben!«
Doch das Kind war nicht zu halten. Es kannte die Hupe des Oberförsters genau, der ja so oft am Försterhaus angehalten oder vorübergefahren war. Jetzt freilich schien er nicht nach dem Forsthause zu wollen, denn das Hupen kam gerade von der entgegengesetzten Seite. Aber der Vater sprach oft davon, daß der Onkel Oberförster immer dort sei, wo Bäume umgeschlagen wurden.
»Hedi – Pucki!«
Vergeblich war das Rufen der Waldarbeiter.
Hedi jubelte innerlich. Dort drüben stand das graue Auto des Oberförsters. Es hielt mitten auf der breiten Straße im Walde.
»Onkel Oberförster – Onkel Oberförster«, jubelte sie schon von weitem.
Neben dem grauhaarigen Herrn stand der Vater. Hedi streckte verlegen die Zunge heraus und wischte damit in den Mundwinkeln umher.
»Nanu?« Mehr sagte der Vater nicht, doch in seiner Stimme grollte es.
»Weidmannsheil, Onkel Oberförster!« sagte Hedi hastig und machte dem alten Herrn ein artiges Knickschen. Verlegen griff das Kind mit der Hand nach der rechten Seite, als wolle es den Schutzengel festhalten, der hier stehen mußte.
»Weidmannsdank, Kleine. Bist wohl mit dem Vater in den Wald gegangen?«
»Hedi – –«
»Ja, Vati, gleich geht Hedi wieder nach Hause, ich wollte nur Onkel Oberförster was fragen.«
»Was willst du mich fragen?« forschte der kinderliebe alte Herr.
»Onkel Oberförster, möchtest du ein kleines Kindchen haben? Im Walde is eins!«
»Ja, das sehe ich, daß im Walde ein Kindchen ist. Und nun wirst du dem Vater folgen. Du willst doch mal in den Himmel kommen?«
»Ja! Aber nicht jetzt. Jetzt darf ich nicht!«
»Was – du darfst nicht?«
»Ich muß gleich nach Hause gehen, sonst wird der Vati sehr böse. Oh, der Vati kann so böse werden wie der Harras!«
»Dann lauf mal schleunigst heim!«
»Kommste mit? – Soll ich dir mal das Kindchen zeigen?«
»Du sprichst kein Wort mehr, Hedi, du gehst sofort heim.«
»Ich wollte dem Onkel Oberförster doch nur das Kindchen zeigen, das wir nicht mehr haben wollen.«
Als Hedi aber die tiefe Falte auf der Stirn des Vaters sah, machte sie rasch einen Knicks und lief eilends den breiten Weg zurück, dem Forsthause zu. – –
Im Forsthause herrschte größte Aufregung. Frau Weimann war vor einer halben Stunde aus Rahnsburg gekommen, um im Forsthaus die Schuhe abzugeben, die ihr Mann für Förster Sandler und dessen Gattin fertiggemacht hatte. Da es ein herrlicher Maientag war und die Sonne warm schien, hatte die Schuhmachersfrau den kleinen Sportwagen mit dem einjährigen Söhnchen im Vorgarten stehen lassen. Das Wägelchen war dicht neben den anderen Wagen gefahren worden; hier draußen im Garten konnte den Kleinen ja nichts passieren. Außerdem war Rudi ein stilles und ruhiges Kind, das sich oft allein mit seinem Spielzeug beschäftigte.
Frau Sandler, die in der Küche beschäftigt war, wollte ihren Besuch ins Zimmer nötigen, doch Frau Weimann blieb in der Küche. Es gab mancherlei aus Rahnsburg zu erzählen, und so vergingen die Minuten gar rasch. Endlich verabschiedete sich die Schuhmachersfrau. Begleitet von Frau Sandler, betraten beide den Vorgarten. Vergeblich schauten sie sich nach dem Wagen mit Klein-Rudi um, er war nirgends zu erblicken.
Man rief Minna, die im Gemüsegarten arbeitete. Sie hatte nichts gehört, nichts gesehen, sie wußte auch nicht einmal, daß Besuch gekommen war. Kurzum: das Kind war verschwunden.
»Wie ist das möglich?« sagte Frau Sandler beunruhigt.
»Vielleicht ist ein Vagabund vorübergekommen, der mein Kind mitgenommen hat«, weinte die besorgte Mutter. Dann begannen die beiden Frauen zu rufen.
Niemand konnte sich das Verschwinden des Kindes erklären. Noch niemals war im Forsthause etwas abhanden gekommen. Nun sollte ein Kind verschwunden sein?
»Wo ist mein Kindchen? – Bubi – Bubi!«
Laut und ängstlich tönte die Stimme der unglücklichen Mutter in den Wald hinein. Niemand hörte die Rufe, denn Hedi war mit dem Wagen viel zu tief in den Wald gefahren, und Förster Sandler weilte bei dem Holzschlag.
»Es ist unmöglich, daß das Kind verschwunden ist«, sagte die Förstersfrau.
»Es ist gestohlen – wurde geraubt! Vielleicht haben es vorüberziehende Zigeuner mitgenommen. – Ach, wo finde ich mein Kind!«
Die beiden Frauen und Minna liefen nach allen Seiten, in der Hoffnung, den Wagen irgendwo zu finden. Doch alles Suchen blieb erfolglos. Sie lauschten angestrengt hinein in den Wald – nichts war zu hören.
»Wo ist Hedi?«
»Sie ist mit meinem Manne in den Wald gegangen, sollte jedoch bald wieder heimkommen. Das Kind gehorcht nicht immer. Ich möchte meinen Mann aufsuchen.«
»Nein, Frau Sandler, bleiben Sie hier«, weinte Frau Weimann.
Frau Sandler wußte keinen Rat. Die unglückliche Mutter tat ihr sehr leid, und doch war nicht anzunehmen, daß der Knabe geraubt worden war.
Nochmals liefen die Suchenden nach allen Seiten. Minna war die erste, die auf Hedi stieß, die den breiten Weg dahergegangen kam.
»Woher kommst du?«
»Vom Vati und von Onkel Oberförster.«
»Hast du den kleinen Rudi gesehen?«
»Ich habe keinen kleinen Rudi gesehen.«
Seelenruhig schritt das kleine Mädchen zum Forsthaus, hinein in den Garten. Vor dem Hause auf der Bank saß die weinende Schuhmachersfrau.
»Mein Rudi – mein Rudi – warum habe ich ihn allein gelassen!«
»Warum weint die Frau?« fragte Hedi und wandte sich fragend an Minna.
»Ihr kleiner Junge ist fort, sie findet ihn nirgends.«
»Ein kleiner Junge im kleinen Wagen?«
»Ja, Hedi, der Wagen hat im Garten gestanden.«
»Ist das das Kind von der Frau und nicht das Kind von meiner Mutti?«
»Dummes Mädel, das ist das Söhnchen von Frau Weimann. Sie brachte Vaters Schuhe, sie kommt aus der Stadt.«
»Ach je, das ist also nicht unser Schwesterchen? – Na, das ist gut! Ich habe gedacht, das ist unseres, da habe ich es weggefahren.«
»In den Wald habe ich es gefahren.«
»Das Kind – in den Wald? Ja, was fällt dir denn ein! Frau Weimann, Hedi hat Ihren Jungen gesehen.«
Die Angeredete sprang auf. »Hedi, wo ist mein Rudi?«
»Willste dir dein Kind wieder mitnehmen? Bleibt es nicht bei uns?«
»Nein – wo ist mein Kind?«
Gleichgültig wies die Kleine mit dem Fingerchen nach dem Waldweg. »Es steht unter einem Baum. – Wir wollten es nicht haben, und der Onkel Oberförster will es auch nicht.«
»Wo finde ich Rudi?«
Frau Sandler hatte die letzten Worte vernommen. Eiligst kam sie hinzu, und erneut wurde Hedi ausgefragt.
Die Kleine lächelte verschmitzt. »Weißt du, Mutti, wir wollten nicht so viele sein, und weil schon wieder ein Kindchen hier war, habe ich es in den Wald gefahren.«
»Ganz allein – in den Wald?«
»Es ist nicht allein – der ganz große Schutzengel steht neben ihm und paßt auf.«
»Wo ist der Wagen?« fragte die Mutter streng.
Als Hedi abermals gleichgültig nach dem Wald wies, bekam sie von der Mutter einen Klaps auf die Hand.
»Du bist ein recht unnützes Mädchen, Hedi! Was fällt dir nur ein, den Wagen aus dem Garten zu schieben. Sofort kommst du mit und wirst uns führen.«
Hedi ging schmollend voran. Kaum hatte man den kleinen Weg erreicht, da vernahmen die Näherkommenden das Geschrei des Knaben. Beide Frauen eilten weiter, Hedi blieb mit erschrecktem Gesicht stehen.
»Nu krieg ich die Haue«, murmelte sie, »und wollte doch nur, daß der Vati eine Freude hat.«
Sehr bald kehrten die beiden Frauen mit dem Wagen zurück. Frau Weimann schob das kleine Fahrzeug und sprach zärtlich auf den noch immer weinenden Knaben ein.
Wenige Minuten später war die Schuhmachersfrau fortgefahren. Frau Sandler rief nach Hedi.
»Hast du gesehen, wie sich die arme Mutti ängstigte, wie sie weinte? Und auch deine Mutti hat einen schweren Kopf vor Angst und Aufregung. Schämst du dich nicht, so etwas zu tun?«
Hedi schluckte an den aufsteigenden Tränen. Und als Frau Sandler mehrfach aufstöhnend die Hände an die Stirn legte, weil sie von der Aufregung heftige Kopfschmerzen bekommen hatte, tat es dem kleinen Mädchen sehr leid. Sie konnte die gute Mutter nicht leiden sehen.
»Mutti, sei wieder gut! Ich werde auch alle Kinderchen hier lassen, die du holst. Ich werde kein Kindchen mehr in den Wald fahren. – Mutti, sei wieder gut!«
»Laß nur Vati heimkommen, der wird dir die unartigen Streiche austreiben.«
In der Küche saß Hedi mit sorgenvollem Gesicht bei Minna. »Die Mutti hat Kopfschmerzen. Ach, die arme Mutti! Nun ist sie krank, und Hedi wollte ihr doch eine Freude machen.«
»Du mußt recht brav sein, Pucki, und nicht immer soviel dummes Zeug treiben.«
»Wie der Pucki, bei dem alles schlimm ausgeht.«
»Ja, ja, wie beim Pucki. Wenn du nicht artiger wirst, hat dich die Mutti nicht mehr lieb. Dann hat sie nur die kleine Waltraut lieb, von der sie nicht geärgert wird.« –
Die Worte Minnas stimmten das kleine Mädchen recht nachdenklich. Hedi stand eine halbe Stunde später vor der Mutter, die sich mit dem kleinen Schwesterchen beschäftigte.
»Hast du die Waltraut lieber als mich?«
»Die Waltraut hat Mutti noch nicht geärgert.«
Aufmerksam betrachtete Hedi die Kleine, die aus den Windeln gewickelt wurde. Lachend und strampelnd lag das kleine Wesen, ganz nackt, vor der Mutter.
»Du liebes, kleines Englein«, sagte Frau Sandler zärtlich zu ihrem jüngsten Kindchen.
»Is das ein Engelchen, Mutti?«
»Ja, das ist ein Engelchen.«
»So, wie ein Schutzengelchen?«
»Ja.«
»Mutti – – wenn der Schutzengel neben mir herläuft, ist er dann auch ganz nackt?«
»Den Schutzengel sieht man doch nicht.«
»Mutti – weil er sich schämt, nicht wahr – weil er nackend ist! Wenn ich mal ein Engel bin, Mutti, zieh ich mir aber was an! Ich möchte nicht nackend umherlaufen.«
»Du bist ein unartiges Mädchen, Hedi, und kein Englein.«
»Engel sind doch immer im Himmel? Waltraut will aber gar nicht in den Himmel.«
»Mutti ist froh, daß sie solch kleines Engelchen hat.«
Gegen Abend kam der Vater heim. Das war für Hedi keine gute Stunde. Die Mutter erzählte von dem schlimmen Streich und von den Sorgen, die die Tochter den beiden Frauen bereitet hatte. – Da holte der Vater die Rute, und Hedi erhielt eine gehörige Tracht Prügel. Am Abend gab es auch keinen Gutenachtkuß, und lange noch lag Pucki im Bettchen und überdachte den schlimmen Tag, der so viel Leid gebracht hatte.
»Ich möchte auch Muttis Engelchen sein«, weinte die Kleine leise.
Plötzlich kletterte es aus dem Bett und trippelte hinüber ins Wohnzimmer. In der Tür blieb Hedi stehen.
»Vati – Mutti – ich möchte so gerne euer Engelchen sein wie das kleine Schwesterchen. – Mutti, ach Mutti –«
Hedi kletterte der Mutter auf den Schoß, schlang beide Ärmchen um ihren Hals und flüsterte zärtlich und kosend:
»Mutti, laß mich wieder ein Engelchen sein – ich will auch immer brav sein.«
Da konnte Frau Sandler nicht anders, als dem Kinde von ganzem Herzen vergeben.
»Du bist und bleibst unser Pucki«, sagte der Vater.