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Im Seminar herrschte stärkste Erregung. Die Mitschülerinnen umdrängten Pucki mit ihren Glückwünschen. Freilich, das Erstaunen war groß darüber gewesen, daß Hans Rogaten nun doch nicht der Erwählte war, und Lilli, die Pucki wegen des Briefes immer noch ein wenig grollte, hatte ein recht langes Gesicht gezogen. Schließlich gratulierte sie der jungen Braut aber doch herzlich.
»Man nennt dich mit vollem Recht einen Puck, Hedi. Denn du hast uns alle miteinander an der Nase herumgeführt. Von allerlei Freunden hast du geschwärmt, nur wenn einmal von Claus Gregor die Rede war, stelltest du dich, als ginge er dich überhaupt nichts an.«
Susi lachte: »Das macht man doch immer so. Stille Wasser sind tief.«
»Nanu«, schrie Emmi dazwischen, »Hedi Sandler ist doch kein stilles Wasser!«
»O doch!« rief Lulu Pelling schwärmerisch. »Sie weiß auch, was es heißt, im geheimen zu lieben! Heimliche Liebe ist am süßesten. Sie ist voller Poesie!«
»Fang bloß nicht wieder an zu dichten«, rief Pucki lachend. »Und nun laßt mich in Ruhe, Kinder, ich muß mit Volldampf arbeiten, damit ich Ostern mein Examen baue.«
»Ich kann mich nicht genug darüber wundern, Pucki«, nahm Lulu wieder das Wort, »daß du ins Seminar zurückgekommen bist. Ich an deiner Stelle hätte mein Studium aufgegeben, um mich ganz nur ihm, dem Allerliebsten, zu widmen.«
»Quatsch«, sagte Pucki. Aber ein wenig beschämt dachte sie doch daran, daß sie selbst anfangs, nachdem sie sich verlobt hatte, nicht gewillt gewesen war, das Seminar weiter zu besuchen. Erst die Eltern, die Freundinnen und der Verlobte hatten sie zu einer richtigeren Auffassung bringen müssen.
Trotzdem kamen für Pucki immer wieder Augenblicke, in denen sie sich sagte, daß das Examen zwecklos sei. Immerhin bereitete sie sich doch gewissenhaft darauf vor.
Oft dachte sie auch an die Worte ihres geliebten Claus und schüttelte dann glücklich lächelnd den blonden Kopf. Wer sollte ihr das große Glück rauben? Claus war ein gesunder Mann. Warum sollte gerade er von einer schlimmen Krankheit erfaßt werden, die zum Tode führte? O nein, sie würde gut aufpassen, würde ihn hegen und pflegen und dafür sorgen, daß er nach anstrengender Arbeit ausruhte. Sein Heim sollte eine Stätte des Friedens sein.
Von diesem Heim träumte Pucki oftmals. Mitunter geschah es sogar, daß sie während der Unterrichtsstunden daran dachte und sich arg zusammenreißen mußte, um bei der Sache zu bleiben. Ihre selbsterdachten Märchen, die sie gar gern erzählte, bekamen von jetzt an auch ein anderes Gesicht. Immer spielte eine junge Frau darin mit, die im Glück lebte und die ein wunderschönes Heim hatte, in dem alles zu Gold wurde.
Sehnlichst wünschte Pucki das Weihnachtsfest heran.
Claus schrieb ihr sehr oft, manchmal nur wenige Zeilen, einen herzlichen Gruß, ein liebes Wort. Sie bat ihn oft, er möge ihr mehr aus seinem Berufsleben erzählen, sie wolle schon jetzt von allen Fällen wissen, die er behandelte.
Endlich kam der Dezember heran. Draußen lag der Schnee hoch, mitunter fegte ein eisiger Wind durch die Straßen Leipzigs. Sonst hatte Pucki viel Freuden an der weißen Pracht gehabt. Der Winter brachte so viel Abwechslung. Sie konnte mit den Schneeschuhen Ausflüge machen oder die blitzenden Schlittschuhe hervorholen. Aber in diesem Jahr galt all ihr Denken den kommenden Weihnachtstagen. Sie hatte für Claus eine hübsche Handarbeit begonnen und stichelte in den Freistunden emsig daran. Ebenso sollte Rose Teck mit einer Arbeit erfreut werden, denn sie war es ja gewesen, der sie ihr Glück verdankte.
Da blieben, kurz vor den Ferien, die Nachrichten von Claus plötzlich aus. Zwei Tage lang war kein Schreiben von ihm gekommen.
»Es wird viel Krankheit in Rahnsburg geben«, dachte sie. Bei dem strengen Frost erkälten sich die Leute leicht. Damit beruhigte sich Pucki zunächst. Aber am dritten Tage stieg ihre Unruhe immer mehr. Sie schrieb abermals einen Brief an Claus und bat um einige kurze Zeilen, doch erst am übernächsten Tage kam von Frau Gregor ein Schreiben, das Pucki in heiße Angst versetzte. Sie schrieb:
»Claus sendet Dir viele Grüße, Pucki. Er kann leider nicht selbst schreiben, denn er hat sich bei einem Nachtbesuch, den er außerhalb Rahnsburgs machen mußte, erkältet. Er liegt im Elternhause, und ich pflege ihn, so gut ich kann. Wir wollen hoffen, daß sich sein Zustand bald bessert. In zehn Tagen beginnen Deine Ferien, Du kannst dann selbst nach unserem lieben Kranken sehen. Es wird nichts versäumt. Wir haben den Arzt aus Dabern kommen lassen, der täglich nach ihm sieht. Es wird auch eine Vertretung für Rahnsburg gestellt werden, weil Claus für die nächste Zeit der größten Schonung bedarf.«
Dann schrieb Frau Gregor noch einige unwichtige Mitteilungen, die von Pucki mit wenig Anteilnahme gelesen wurden.
Ihr Claus war erkrankt! Ihr Claus war so krank, daß er ihr nicht selber schreiben konnte! – Der Arzt kam täglich. Wenn der Arzt täglich kam, bedeutete das, daß der Patient ernstlich krank war.
Und plötzlich fielen ihr die Worte des Geliebten ein, der zu ihr gesagt hatte, man wisse nie, ob nicht ein Leben rasch zu Ende gehen könne. Sie solle ihr Examen machen, damit sie, wenn es einmal nötig sei, auf eigenen Füßen stehen könne.
Pucki fühlte einen stechenden Schmerz am Herzen. In der Oberförsterei lag ihr Claus krank, vielleicht schwerkrank, und sie war weit fort von ihm.
In derselben Stunde noch schrieb sie ihm einen Brief, einen zweiten an Frau Gregor und einen dritten an die Mutter. In jedem bat sie in heißem Flehen, man möge ihr genaue Auskunft über das Befinden ihres Claus geben.
»Schreibt mir täglich, damit ich weiß, wie es ihm geht. Was sagte der Arzt? Was fehlt Claus? Ihr könnt euch denken, in welcher Angst ich lebe!«
Auch Carmen erhielt einen Brief von Pucki, in dem sich die ganze Angst des jungen Mädchens zeigte:
»Ich habe damals in meinem Glück gesagt, ich würde mein großes Glück festhalten und es nicht mehr loslassen. – Carmen, in mir ist quälende Angst! Ich habe das Gefühl, als käme Schreckliches an mich heran. Ach, Carmen, Du bist in Hamburg an der Seite Deines Verlobten und weißt nicht, wieviel Leid solch eine Trennung in sich schließt, zumal dann, wenn der Geliebte erkrankt ist.«
Am nächsten Tage erhielt Pucki von der Mutter einen Brief, in dem sie der Tochter mitteilte, daß sich Claus eine Lungenentzündung geholt hätte.
»Bei großem Unwetter und eisiger Kälte ist er noch spät abends über Land gefahren, weil man ihn rief. Er hat dann selbst die Medizin besorgt und ist am nächsten Morgen, obwohl er schon eine leichte Unpäßlichkeit merkte, wieder hinaus zu dem Kranken gefahren. Das hat ihn niedergeworfen. Wir wollen hoffen, mein geliebtes Kind, daß Claus, der immer eine feste Gesundheit hatte, die schwere Krankheit bald überwindet. Das hohe Fieber ängstigt uns sehr.«
Pucki hielt es nicht länger aus. Sie ging zur Post und verlangte eine Verbindung mit der Oberförsterei. Sie wollte selbst Herrn oder Frau Gregor sprechen. Irgendwo hatte sie einmal gelesen, daß Lungenentzündung etwas Gefährliches sei, noch dazu, wenn beide Lungenflügel in Mitleidenschaft gezogen seien, wie das bei ihrem Claus der Fall war.
Sie sprach zuerst das Hausmädchen. »Ich werde gleich Frau Gregor an den Apparat rufen. Sie ist im Krankenzimmer. Es geht Herrn Doktor nicht gut.«
Pucki vermochte nichts zu sagen. Nach kurzer Zeit vernahm sie die Stimme von Frau Gregor. Wenn sie Pucki auch berichtete, daß man die Hoffnung nicht verlieren dürfe, schien es dem verängstigten jungen Mädchen doch, als sähe auch sie den Fall sehr ernst an.
»Ich rufe morgen früh wieder an«, sagte Pucki tonlos. Dann verließ sie wie im Traume das Postamt.
Wenn Claus starb – war all ihr Glück vorüber. Dann ging es ihr wie der blassen, kranken Bianka. Auch sie hatte an einem Nachmittag alle Hoffnungen begraben müssen und war elend und krank geworden.
»Claus, lieber Claus, stirb nicht«, murmelte Pucki mit zuckenden Lippen. »Ach, Claus, ich habe dich ja so lieb! Du meintest oftmals, ich sei ein übermütiges und törichtes junges Ding. – Claus, du wolltest mein Lehrmeister sein. – Claus, stirb mir nicht! Nein, Claus, das darfst du mir nicht antun! Ich hab' dich doch erst so kurze Zeit. – Claus, mein lieber Claus, was soll ich ohne dich?«
An diesem Tage war mit Pucki nichts anzufangen. Im Seminar war sie mit ihren Gedanken immer bei ihrem Verlobten.
»Sind Sie krank, Fräulein Sandler?«
Pucki schwieg, nur ihre traurigen Augen verrieten das große Leid, das sie erfüllte. Als sie später von der Vorsteherin des Seminars gerufen wurde, war sie unfähig, ihren Schmerz zu meistern.
»Mein Verlobter ist schwer erkrankt; er ist sehr krank!«
Am Abend schrieb Pucki an Carmen abermals einen Brief. Es war ein verzweifelter Aufschrei ihres wunden Herzens.
»Ach, Carmen, ich halte es nicht länger in Leipzig aus, ich muß nach Hause fahren. Wenn Claus so krank ist, will ich wenigstens bei ihm sein. Ach, warum habe ich vermessen davon gesprochen, daß ich alles Glück der Erde für mich allein behalten will, daß ich es festhalte und nicht mehr lasse. Carmen, liebste Carmen, hilf Deiner unglücklichen Freundin!«
Am nächsten Morgen frühzeitig ließ sich Pucki abermals mit der Oberförsterei verbinden. Auch heute kam nur der trostlose Bescheid: »Wir müssen hoffen, mein liebes Kind.«
»Sage mir, wie es Claus geht!«
»Claus ist schwer krank, Pucki.«
»Es ist keine Hoffnung mehr?«
»Du sollst nicht verzweifeln, Pucki. So lange der Mensch lebt, müssen wir hoffen.«
Es schien Pucki, als vernehme sie durch den Apparat unterdrücktes Schluchzen. Da stürmte sie fort, eilte zum Seminar und ließ sich bei der Vorsteherin melden.
»In fünf Tagen wird geschlossen – darf ich heute schon nach Hause fahren?«
»Wie geht es Ihrem Verlobten, Fräulein Sandler?«
Pucki drückte das Taschentuch vors Gesicht.
»Fahren Sie, Fräulein Sandler. Gebe Gott, daß sich alles zum Guten wendet.«
Rasch packte Pucki das Notwendigste zusammen und eilte zum Bahnhof. Sie wußte nicht, ob zu dieser Stunde ein Zug abging, aber es drängte sie fortzukommen.
Auf dem Hauptbahnhof erfuhr sie, daß sie noch neunzig Minuten Zeit hätte, ehe sie abreisen könne. Da schrieb sie erneut einen kurzen Gruß an Carmen und teilte ihr mit, daß sie ins Elternhaus reise.
Es dünkte ihr eine Ewigkeit, ehe die neunzig Minuten verstrichen waren. Endlich trug sie der Zug dem Elternhause entgegen.
Da niemand von Puckis Kommen wußte, war keiner ihrer Angehörigen auf dem Bahnhof. Pucki nahm das leichte Köfferchen in die Hand und wanderte den bekannten Weg nach Birkenhain. Der Schnee, der reichlich gefallen war, tat heute zum ersten Male ihrem Herzen weh. Sonst liebte sie die weiße Decke, die über die Natur gebreitet war. Heute mußte sie daran denken, daß Schnee und Wind ihren Claus aufs Krankenlager geworfen hatten.
Förster Sandler war nicht daheim. Frau Sandler stand in der Küche und bereitete das Mittagesten. Sie fühlte sich plötzlich von zwei Armen umschlungen. Es war Pucki. Frau Sandler erschrak. Was führte ihre Tochter so plötzlich zurück ins Elternhaus?
»Mutti, sage mir rasch das eine: Wie geht es Claus?«
»Ich habe gestern abend die letzte Nachricht aus der Oberförsterei erhalten. Heute konnten wir noch nicht anrufen. Ich will es sogleich tun.«
»Steht es sehr schlimm um ihn?« fragte Pucki halb erstickt vor Sorgen.
»Claus ist sehr krank.«
»Rufe die Oberförsterei an, Mutti. Oder, noch besser, ich werde es selbst tun.«
»Möchtest du nicht erst den Mantel ablegen, mein Kind. Ich werde sofort dein Zimmerchen heizen lassen.«
Frau Sandler fragte nicht, ob die Ferien des Seminars schon begonnen hätten oder ob Pucki früher Urlaub genommen hätte. Sie sah nur das bekümmerte Gesicht ihrer Tochter und wußte, daß sie von der Sorge um ihren Claus heimgetrieben war. Es stand ja für sie ihr Lebensglück auf dem Spiel. Gestern abend war keine hoffnungsfrohe Kunde aus der Oberförsterei gekommen. Das hohe Fieber wollte nicht weichen und schwächte den Patienten über alle Maßen. Frau Gregor hatte gestern, als sie mit Sandlers sprach, schon durchblicken lassen, ob es nicht das richtigste wäre, Pucki nach Hause kommen zu lassen. Aber die besorgte Mutter war darüber so erschrocken, daß sie erklärte, man wollte doch erst die Krisis abwarten. Nun stand Pucki plötzlich im Elternhaus, mit klopfendem Herzen, in den Augen heiße Angst.
Wieder war Frau Gregor am Fernsprecher.
»Du, Pucki – in Birkenhain?«
»Wie geht es Claus? Bitte, sage mir alles ganz genau. Darf ich gleich nach Tisch kommen? – Darf ich Claus sehen?«
»Claus hat noch immer hohes Fieber. Ich glaube kaum, mein liebes Kind, daß er dich erkennen wird.«
»So will ich ihn wenigstens sehen. – Ich werde mäuschenstill an seinem Bett sitzen. Es wird ihm nichts schaden. Ich werde kein Wort sprechen, nicht einmal weinen. Aber sehen muß ich ihn!«
»So komm, Pucki. Soll ich den Wagen schicken?«
»Ach ja, schicke ihn, denn jede Minute ist kostbar.«
»Wir lassen dich mit dem Schlitten abholen, mein Kind.«
Dem Mittagessen sprach Pucki kaum zu. Vergeblich mahnte die Mutter, sie möge etwas mehr genießen. Aber Pucki schüttelte traurig den Kopf.
»Es geht nicht, Mutti. – Vielleicht esse ich drüben etwas, nachdem ich Claus gesehen habe. Ich komme, wenn man es mir erlaubt, erst abends zurück. Und« – ihre Stimme schwankte merklich – »wenn es schlimmer werden sollte – bleibe ich dort.«
»Ja, Pucki!«
Trotzdem zeigte sich Pucki sehr tapfer. Sie wollte nicht vor den Eltern und den Geschwistern weinen. Noch durfte sie die Hoffnung nicht sinken lassen, daß Claus bald wieder gesund wurde.
»Wenn er wieder gesund wird, wenn ich seine Frau werde, will ich immer dankbar sein, daß er mir erhalten blieb«, nahm Pucki sich vor.
Man hielt es für das beste, daß Pucki allein zur Oberförsterei fuhr. Jeder weitere Besuch würde störend empfunden werden. So saß das junge Mädchen, in warme Decken eingehüllt, in dem kleinen Schlitten und fuhr der Oberförsterei zu. Wieviel Freude hatte sie sonst an solch einer Fahrt durch den verschneiten Wald gehabt! Das helle Klingen der Schellen tönte ihr stets gar lustig in den Ohren. Heute hörte sie es kaum. Heute hatte sie auch keinen Blick für die Winterpracht. Sie wünschte nur das eine, daß die Fahrt bald beendet sei, damit sie ihren Claus wiedersehen konnte.
Das Hausmädchen trat Pucki beim Ankommen entgegen.
»Wie geht es Claus?«
»Nicht gut, Fräulein Sandler«, klang es leise zurück. Dann eilte das Mädchen auf den Fußspitzen davon. Pucki pochte an die Tür des Wohnzimmers. Es war leer. Sie ging nach dem Arbeitszimmer des Oberförsters. Er saß dort am Schreibtisch, erhob sich bei ihrem Kommen und schloß seine Schwiegertochter schweigend in die Arme. Sein Gesicht war ernst.
»Tapfer sein, kleine Pucki.«
»Ja – ich will es sein. Bitte, laß mich zu ihm.«
»Der Arzt sagt, heute würde die Entscheidung fallen.«
»Heute noch –«, klang es dumpf zurück. »Heute noch. Da ist es gut, daß ich gekommen bin.«
»Claus wird dich nicht erkennen, Pucki, er liegt in hohem Fieber.«
»Bitte, laß mich zu ihm, laß mich seine Hand halten. Es wird ihm nichts schaden. – Ich weine nicht, Onkel Oberförster, ich bin ganz still. – Ach, ich glaube, ich kann gar nicht weinen.«
»Pucki! – Nicht so schwarz sehen! So lange ein Mensch atmet, muß man hoffen.«
Dann gingen beide hinüber nach dem Zimmer, in dem Claus lag. Frau Gregor saß am Fenster, eine Krankenschwester huschte geräuschlos durch den Raum. Soeben füllte sie einen Eisbeutel.
Stumm begrüßte Pucki Frau Gregor. Auch der Krankenschwester nickte sie wortlos zu. Sie setzte sich auf den Stuhl neben dem Krankenlager und schaute ihren geliebten Claus an. War das der lebensprühende, kraftvolle Mann, der in den Herbstferien ihr Herz und Hand geboten hatte? War es derselbe, dessen Mund so liebe Worte sprechen, dessen Augen so schelmisch lachen konnten? Der Ausruf, der über ihre Lippen kommen wollte, wurde gewaltsam zurückgedrängt.
Behutsam griff sie nach der Hand des Verlobten. Wie heiß sie war! Unruhig warf sich Claus von einer Seite auf die andere.
»Pucki ist hier«, flüsterte sie kaum hörbar. »Pucki ist bei dir, lieber, lieber Claus.«
Dann verharrte sie stumm, beinahe regungslos. Die Augen waren auf den Kranken gerichtet.
Frau Gregor versuchte mehrmals, Pucki aus dem Krankenzimmer zu entfernen, doch das junge Mädchen sandte ihr einen solch flehenden Blick zu, daß Frau Gregor sie bleiben ließ. Gegen sechs Uhr kam der Arzt. Angstvoll forschte das junge Mädchen in seinen Mienen, was sie deuteten.
»Wir wollen hoffen«, sagte der Arzt, »daß der Kranke von morgen an der Genesung entgegenschläft. Die Macht des Fiebers werden wir hoffentlich brechen können.«
Am liebsten wäre Pucki die Nacht über im Hause des Oberförsters geblieben. Man duldete es aber nicht.
»Der Schlitten ist vorgefahren, Pucki. Rufe morgen früh gleich an. Hoffentlich geht es Claus dann besser. Wir lassen dich sonst sofort holen.«
Noch einmal drückte sie die Hand des Verlobten, noch einmal klammerten sich ihre angstvollen Blicke an sein Gesicht. – Was würde ihr der morgige Tag bringen?
Frau Sandler, die den Gemütszustand ihrer Tochter ahnte, wollte ihr ein Schlafpulver geben, da sie genau wußte, daß Pucki sonst keine Ruhe finden würde. Aber Pucki lehnte ab, und da sie in den letzten Nächten kaum geschlafen hatte, so schlief sie vor Müdigkeit bis zum grauenden Morgen, fuhr dann aber erschreckt auf.
»Claus, mein lieber Claus!« war ihr erster Gedanke.
Kaum angezogen, eilte sie an den Fernsprecher. Da hörte Frau Sandler aus dem Zimmer einen unterdrückten Schrei. Sie setzte den Teller, den sie gerade in der Hand hielt, nieder und eilte zu Pucki ins Zimmer.
Das junge Mädchen saß am Schreibtisch des Vaters, den Kopf mit den geschlossenen Augen zurückgelegt, die Hand mit dem Hörer ruhte im Schoß.
»Pucki!«
»Er wird wieder gesund werden, Mutti. – Er hat gut geschlafen.«
Dann brach ein Tränenstrom aus Puckis Augen. Es war der Mutter unmöglich, das erlösende Weinen zu stillen.
»Er wird wieder gesund werden! – Claus, lieber Claus!«
Die seelische Spannung, die Pucki in den letzten Tagen erfüllt hatte, löste sich in diesem Tränenstrom. Das junge Mädchen, das sich bisher tapfer und beherrscht gezeigt hatte, brach in dem Augenblick zusammen, da die größte Gefahr vorüber war. Alles, was Frau Gregor noch gesagt hatte, war von Pucki nicht gehört worden. Nur das eine wußte sie, die Krisis war überstanden, Claus schlief der Genesung entgegen.
»Ich will zu ihm gehen, Mutti.«
»Willst du nicht bis zum Nachmittag warten, mein Kind? Claus schläft jetzt, du wirst ihn nicht sprechen können. Er braucht die größte Ruhe.«
»Ich möchte so gern zu ihm.«
»Erst am Nachmittag, mein Kind. Wir werden uns einen Schlitten nehmen. Ich begleite dich und kehre bald wieder heim; dich aber lasse ich am Abend holen. Du darfst die Güte Gregors nicht ausnützen, darfst nicht immer ihr Fuhrwerk in Anspruch nehmen.«
Pucki fügte sich mit schwerem Herzen. Heute schmeckte ihr das Frühstück wieder, zumal sie gestern kaum etwas zu sich genommen hatte. Da ließ sie das Hupen eines Autos durchs Fenster blicken. Draußen stand ein Auto aus Rahnsburg. Ihm entstieg ein junges Mädchen.
»Carmen!«
Wenige Augenblicke später hielten sich die beiden Freundinnen umschlungen.
»Carmen, wie kommst du hierher?«
»Wie geht es deinem Claus, Pucki?«
Aufs neue strömten aus Puckis Augen die Tränen. Unter heftigem Schluchzen berichtete sie der Freundin von dem Gespräch, das sie heute vormittag mit Frau Gregor gehabt hatte.
»Ich hatte größte Sorge um dich, Pucki. Als ich deinen Brief erhielt, sagten Vater und Christian, ich müßte sofort zu dir fahren. Ich bin gestern abend in Rahnsburg angekommen, habe mir im Hotel ein Zimmer genommen und komme nun, um nach dir zu sehen. Ich wußte ja nicht, was dir der Tag bringen würde. Ich wußte nur das eine, daß ich zu dir gehöre, daß ich bei dir sein müßte.«
»Carmen, du gute, du beste Freundin!«
»Es war gar nicht anders möglich, ich mußte zu dir kommen. Vater und Christian hielten es auch für das einzig Richtige.«
»Meinetwegen hast du die weite Reise gemacht, Carmen, hast dich von deinem Verlobten getrennt, der dir so oft fern ist?«
»Es war mir, Pucki, als könntest du mich brauchen. Da gab es kein Überlegen mehr. Wir dürfen niemals über das eigene Glück die Mitmenschen vergessen, sonst sind wir des Glückes, das uns beschieden wurde, nicht wert.«
»Es geht Claus besser, er wird gesund werden.«
Gerührt begrüßte Frau Sandler das junge Mädchen, das die weite Reise nicht gescheut hatte, um der Freundin in einer schweren Stunde beizustehen.
»Ich bleibe heute in Rahnsburg, denn ich will erfahren, ob die Besserung bei deinem Claus anhält. – Wenn es so ist, reise ich morgen wieder heim, denn wir dachten gerade daran, zum Wintersport zu fahren. Alles ist bereits vorbereitet. Vater und Christian freuen sich sehr auf diese Ferienzeit.«
»Du gute, du treueste Freundin. Meinetwegen hättest du sogar die Winterreise aufgegeben?«
»Ja, Pucki.«
Carmen hielt es für selbstverständlich, daß Pucki am Nachmittag hinüber in die Oberförsterei fuhr und sich nicht weiter um sie bekümmerte.
»Ich fahre unterdessen zur Schmanz und werde Rose benachrichtigen, wie alles steht. Ich freue mich herzlich darauf, Rose wiederzusehen.«
Am Nachmittag wurde Pucki eine große Freude zuteil. Schon beim Eintreten ins Krankenzimmer rief Claus ihr einen Willkommensgruß entgegen. Pucki vermochte kaum zu antworten. Sie umklammerte Claus' Hand so fest, als gelte es, an dieser Hand den geliebten Mann festzuhalten, den ihr ein grausames Geschick entreißen wollte. Sie sprach nicht viel, sie fühlte, daß Claus die größte Schonung brauchte und daß sie ihn nicht erregen dürfe. Es erschien ihr schon genug, ihn zu sehen und zu wissen, daß er sich auf dem Wege der Besserung befand.
»Claus, was hätte ich ohne dich anfangen sollen?«
»Der böse Claus hat dir viel Kummer gemacht«, versuchte er zu scherzen.
»In diesen furchtbaren Tagen ist es mir klar geworden, Claus, daß ich dich über alle Maßen liebhabe. Es hat sich aber noch manches andere in mir gewandelt. Mir ist es, als wäre ich eine andere geworden. Ich sehe heute das Leben mit anderen Augen an. Vieles, an dem ich bisher achtlos vorüberschritt, habe ich entdeckt. – Claus, du sprachst kürzlich davon, daß ich noch immer ein übermütiges und unerfahrenes Mädchen wäre. Die Tage der Sorge und des Kummers haben mich in eine harte Schule genommen. In dieser schweren Schule lernte ich gar viel.«
»Meine Pucki wird hoffentlich ihren Frohsinn und ihr goldenes Lachen nicht verlernt haben.«
»Nein, Claus, seit ich weiß, daß du genesen wirst, seit der Zeit ist es wieder hell in mir geworden, und auch das Lachen wird zurückkehren.«
Die Krankenschwester machte dem jungen Mädchen ein Zeichen, zu schweigen. Erschrocken legte Pucki die Hand auf den Mund. Eben noch hatte sie erklärt, daß sie nun überlegt handeln wolle, und schon war ihr wieder ein Fehler unterlaufen. Es ging nicht so rasch mit dem Umlernen.
Es dunkelte bereits, als Frau Gregor ins Krankenzimmer trat und Pucki berichtete, daß Carmen mit dem Auto von der Schmanz zurückgekehrt sei und draußen warte, um sie abzuholen. Sie hätte Carmen aufgefordert einzutreten, doch habe sie entschieden abgelehnt, da sie zu all den Sorgen, die die Krankheit des jungen Arztes ins Haus getragen hätte, nicht noch die Unbequemlichkeiten eines fremden Besuches hinzufügen wolle.
»Carmen ist immer lieb und rücksichtsvoll«, sagte Pucki.
»Laß sie nicht warten«, mahnte Frau Gregor, »Claus bedarf jetzt der Ruhe.«
Nach herzlichem Abschied von dem Verlobten, mit tausend Wünschen für weitere Besserung, verließ Pucki die Oberförsterei.
Carmen stand schon wartend am Wagen.
»Wie geht es deinem Claus? Hält die Besserung an?«
Beglückt berichtete Pucki, daß sie eine lange Zeit bei Claus gesessen und sogar mit ihm gesprochen hätte.
»Rose sendet dir und Claus tausend gute Wünsche«, sagte Carmen. »Rose war in banger Sorge um euch, und sie wußte sich vor Freude über meine guten Nachrichten kaum zu lassen.«
»Willst du wirklich morgen schon fort, Carmen?«
Pucki war es, als hätte Carmen ihr das Glück wiedergebracht. Seit sie hier weilte, war die Besserung im Befinden ihres Claus eingetreten, und nun hoffte sie im stillen, daß Carmens Freundschaft ihr und Claus auch weiter helfen würde.
»Du brauchst mich nun nicht mehr, liebe Pucki, du hast deinen Claus wieder. Mich aber erwarten Vater und Christian. Du weißt doch, daß wir gemeinsam eine Winterreise in die Berge machen wollen.«
»Verzeih, Carmen, daran habe ich in all meiner Aufregung nicht mehr gedacht. Du siehst, wie Liebe und Kummer uns Menschen zum Egoisten machen. Hab Dank für deine treue Freundschaft.«
Dann war das Forsthaus erreicht.
Eine Weile noch standen die beiden Mädchen vor der Tür und schauten hinauf zum sternenbesäten Himmel und hinein in den verschneiten Winterwald. Der Mond übergoß die schneeverhangenen Tannen mit silbernem Licht und schuf eine Zauberwelt.
Pucki konnte sich an dieser Wunderpracht wieder erfreuen. Wie still und friedlich war es jetzt in ihr nach der Spannung der letzten Tage! Heißes Dankgefühl erfüllte ihre Seele.