Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Pucki hatte Mühe, ihre erregten Kinder zu beruhigen. Seit einer halben Stunde bestürmten sie die Mutter, nun endlich mit ihnen loszugehen. Der Großvater sollte nicht noch länger mit dem Kaffeetrinken warten. Da er heute Geburtstag hatte, wollten sie zur rechten Zeit im Forsthause sein.
»Ich bin noch nicht fertig, wartet noch ein Weilchen, Kinder!«
»Wir müssen immer fertig sein, wenn es losgehen soll«, meinte Karl. »Mutti, mach doch schnell! Der Großpapa mag nicht gern warten. Der Großpapa ist ein alter Mann!«
Pucki fuhr herum. Förster Sandler ein alter Mann? Er ging heute noch mit schnellen Schritten, ungebeugt, durch seinen geliebten Wald und erfüllte seine Pflicht bis ins kleinste. Er hatte mit seinen sechzig Jahren noch nichts an Spannkraft eingebüßt. Er konnte noch die weitesten Märsche machen und hatte kaum ein graues Haar.
»Ein alter Mann? Wer hat denn das gesagt?«
»Großvater Wallner! Wenn man ein Großpapa ist, ist man ein alter Mann. Und der Mann mit dem Hund in der Klinik ist auch ein alter Mann. – Mutti, das weißt du eben nicht. Ein Großvater ist immer ein alter Mann!«
»Das laßt euren Großpapa nicht hören. – So, nun bin ich sofort fertig, dann können wir gehen. – Habt ihr auch eure Geschenke?«
»Ja, die haben wir! – Mutti, hoffentlich gibt es wieder den schönen Rosinenkuchen.«
»Ich ess' die Rosinen, und du kannst den Kuchen essen, Mutti.«
»Daß du heute sehr artig bist, Peter! Denke an das letztemal!«
»Ich weiß schon, Mutti«, klang es ein wenig zaghaft zurück. »Aber heute sind wir furchtbar artig und machen dem Großpapa große Freude.«
»Das ist recht!«
Claus konnte nicht mit hinaus nach dem Forsthaus gehen, denn er hatte zuviel zu tun. Aber Waltraut wollte gegen Abend ebenfalls hinauskommen, um mit den anderen den Geburtstag des Vaters zu feiern. So wanderte Pucki mit ihren drei Kindern durch den frischen grünen Wald. Diesmal blieben die Buben nicht bei ihr. Sie hatten sich scheinbar sehr viel zu erzählen. Sie waren beständig außer Hörweite, blieben aber von Zeit zu Zeit stehen, schrien sich an und beschrieben mit den Armen Kreise in der Luft. Karl machte Bewegungen, als wollte er die Welt zusammenschlagen. Schließlich ertönte ein lautes Lachen. Wenn aber die Mutter hinzukam und fragte, was sie für eine merkwürdige Unterhaltung führten, blitzten sechs Schelmenaugen sie an. Peter legte den Finger auf den Mund und flüsterte:
»Mutti, das sagen wir nicht!«
»Was trägst du eigentlich in der großen Tasche, Peterli?«
»Eine Freude für den Großvater.«
»Willst du mir diese Freude nicht zeigen?«
»Nein, Mutti, nein!«
Dann eilten die Knaben wieder davon, und aufs neue setzte die merkwürdige Unterhaltung mit den Armbewegungen ein. Pucki ließ die Kinder ruhig gewähren. Sie empfand wieder große Freude über den Gesang der Vögel, genoß die herrliche Waldesruhe und ergötzte sich an den zierlichen Sprüngen der Eichkätzchen, die von Ast zu Ast sprangen und neugierig nach den Menschen unten auslugten. Mehrfach machte Pucki die Knaben auf die munteren Tierchen aufmerksam, fand aber heute keine Gegenliebe bei ihnen. Die Knaben hatten anscheinend Wichtiges zu beraten.
Das Forsthaus Birkenhain kam bald in Sicht, und mit Geschrei stürmten die Kinder darauf zu. Agnes hatte die Kommenden längst bemerkt und stand an der Gartentür.
»Gib mir fix den Quirl!« Das waren die ersten Worte, die Peter der Tante zurief.
»Komm mit und hole die große Kanne aus dem Stall!« sagte Karl.
»Das ist ja eine nette Begrüßung«, meinte die Tante erstaunt.
»Tante Agnes, mach schnell, denn es soll gleich losgehen!«
»Ich warte erst auf die Mutti.«
»Tante Agnes, du bist doch sonst immer so gut! Bitte, sei heute auch gut und komm mit, sonst ist aller Spaß vorbei!«
In diesem Augenblick trat ein großer, schlanker Mann aus der Tür des Forsthauses. Im nächsten Augenblick war er von den Knaben umringt.
»Onkel Walter! – Fein, daß du heute auch zum Geburtstag hier bist. Willst du auch Rosinenkuchen essen?«
Walter Niepel hob die Knaben nacheinander in die Höhe und schwenkte sie durch die Luft. Mit ihm ließ sich immer Spaß machen. Er war stets guter Laune und wußte so schön zu erzählen. Von der Mutti wußten die Kinder, daß Onkel Niepel mit ihr und seinen beiden Brüdern zusammen zur Schule gegangen war. Das Niepelsche Gut lag etwa eine halbe Stunde vom Forsthaus Birkenhain entfernt. Die Mutti war als Kind sehr oft dort gewesen und hatte mit den Drillingen Paul, Walter und Fritz gespielt. Nun war Walter auf dem Gute der Eltern als Inspektor tätig. Er war ein tüchtiger Landwirt und kam jedesmal, wenn er in Rahnsburg weilte, ins Doktorhaus.
»Komm schnell, Onkel Walter, gib uns die große Kanne aus der Kammer.«
»Ich will erst eure Mutter begrüßen.«
»Nein, nein, es muß gleich losgehen, Onkel Walter!«
»Was muß losgehen?«
»Der Großpapa hat heute Geburtstag, und wir machen ihm eine feine Musik. Sieh mal her, Onkel Walter, der Peter hat seine Trommel mitgebracht.«
»Und den großen Bumser.« Peter wickelte den großen Fleischklopfer und seine Trommel aus.
»Und nu noch die Kanne. Eine Trompete habe ich auch. – Weißt du, in einem Buch hat gestanden, wie Kinder auch einmal so eine Musik gemacht haben. Alles haben sie dabei zerschlagen, die Jungens und das Mädchen.«
Peter machte eine weit ausholende Bewegung mit dem Fleischklopfer. »Bums und noch mal bums – immer auf die Milchkanne!«
Walter Niepel, der junge Landwirt, lachte laut auf. »Wie die Alten sungen, so zwitschern auch die Jungen!« sagte er.
»Komm schnell!«
»Also eine Milchkanne soll es wieder sein wie damals bei uns! Aber die Milchkanne dürft ihr nicht zerschlagen. Hinten sind genug alte Eimer, die tun es auch.«
»Wir wollen eine feine Musik machen!«
»Wird sie ebenso fein wie unsere, die wir einmal als Knaben in der Oberförsterei machten? Eure Mutter war dabei. Sie wollte durchaus, daß der taube Holzhacker eine Freude hätte.«
»Onkel Walter, da war mal ein kleines Mädchen, das steht in einem Buch, und dazu drei Jungen, die haben alles kaputt gemacht. Und hinterher haben sie doch noch Waffeln bekommen, und allen, die zugehört haben, hat es mächtigen Spaß gemacht.«
»Da hat euch die Mutti wohl erzählt, wie wir es als Kinder getrieben haben! Wollt ihr auch dieselbe Musik machen wie wir einmal?«
»Wer?« fragte Karl gespannt aufhorchend.
»Nun, eure Mutti. Wir drei Niepelschen Jungen waren natürlich auch dabei. Dann ging es mit dem Leiterwagen zur Oberförsterei, und dort wurde alles zerschlagen.«
»Die Mutti war dabei?«
»Freilich!«
»Die Mutti war dabei?« fragte Karl noch einmal. »War die Mutti das kleine Mädchen? – Ach nein, das war die Mutti nicht, das war ein schlimmes Mädchen in dem Buch.«
»Na, allerlei lustige Streiche hat die Mutti mit uns gemacht, aber sie war immer ein sehr liebes Mädchen.«
»Onkel Walter, was hat sie denn gemacht?«
»Laßt euch das nur von ihr selber erzählen. Wir haben sogar miteinander geboxt. Na, das ist ihr schlecht bekommen. Die Mutti hat lange im Bett liegen müssen.«
»Und auf dem Sportfest hat sie auch mitgemacht – mit einem Hund?«
»Freilich, auf eine hohe Stange ist sie sogar geklettert –«
»Hat sie auch – hat sie auch –? – Onkel Walter, du bist ein Schwindler!«
»Höre mal, mein lieber Junge, betrage dich manierlich! Das sagt man nicht.«
»Du bist doch ein Schwindler«, klang es wieder. »Das kleine Mädchen hat einer armen Waschfrau Geld genommen. Meine Mutti nimmt aber keinem was weg. – Das war nicht meine Mutti, das war ein anderes Mädchen in dem Buch.«
»Aus deinem Gerede werde ich nicht klug, Karl. Doch nun kommt, wir wollen einen Eimer holen, damit die Musik beginnen kann.«
Während Peter und Rudi dem Onkel folgten, blieb Karl zurück. Er sah die Mutti im Gespräch mit Tante Agnes. Forschend blickte er zu ihr hinüber. Es konnte nicht wahr sein, was Onkel Niepel eben gesagt hatte. Die Mutti machte keine schlimmen Streiche, sie war immer lieb und artig, und alle Menschen hatten sie gern. Karl hörte, daß man ihn rief. Er mußte gleich an die Mutter eine Frage richten, die ihm auf der Seele brannte.
Pucki bemerkte bald, daß Karlchen sie gar so verlangend anschaute. »Nun, Karlchen, was möchtest du haben?«
»Mutti, warst du auf einem Sportfest mit einem Hund? Hast du dich mit kleinen Jungen geboxt?«
»Freilich hat das die Mutti getan«, rief Tante Agnes dazwischen.
»Mutti« – Karlchens Stimme schwankte bedenklich, »warst du ein kleines Mädchen, dem die Blumenuhr zugerufen hat: ›Tu's nicht, tu's nicht‹?«
In diesem Augenblick erkannte Pucki, was in der Seele ihres Kindes vorging. Bis jetzt wußte Karlchen noch nicht, daß das kleine Mädchen in dem Buche seine Mutter war. Wenn den Kindern auch die übermütigen Streiche der kleinen Hedi viel Spaß gemacht hatten, sie fanden doch mit sicherem Gefühl heraus, was Übermut und was Unrecht gewesen war. Und daß Pucki damals aus dem heißen Verlangen heraus, das Elternhaus wiederzusehen, sich verleiten ließ, gefundenes Geld nur für kurze Zeit zu behalten, dünkte dem Kinde ein schweres Unrecht. Dieses Unrecht stand jetzt vor Karlchen. Er konnte nicht glauben, daß seine Mutti zu solch häßlichem Vorgehen fähig gewesen war.
Wäre Claus jetzt bei ihr, er würde das richtige Wort finden, um den Knaben zu beruhigen. Aber neben ihr stand die lachende Schwester, die ahnungslos rief:
»Deine Mutti hat als Kind manchen dummen Streich gemacht, Karlchen. Der Vati hat alles aufgeschrieben. Das ist ein sehr lustiges Buch geworden. Nicht wahr, Pucki?«
Karlchen sah in Gedanken das Buch vor sich, aus dem Fräulein Melchert ihnen vorgelesen hatte. Ehe die Mutter eine Antwort geben konnte, eilte er davon. Er wußte selbst nicht, was ihn in diesem Augenblick dazu trieb, sich sogar vor der Mutti zu verstecken. Niemand sollte ihn jetzt sehen. Er mochte auch an der Musik nicht teilnehmen, die man dem Großvater bringen wollte.
Pucki blickte sinnend vor sich nieder.
»Was hast du?« fragte die Schwester.
»Als Kind beging ich mancherlei Unrecht, liebe Agnes. Aber heute bin ich vielleicht am bittersten gestraft worden.«
»Ja, was ist denn eigentlich los, Pucki?«
»Ich will rasch nach Karlchen sehen«, sagte sie, aber als Pucki fortgehen wollte, kamen Förster Sandler und die Mutter hinzu. So brachte Pucki ihre Glückwünsche an und wurde von den Eltern nach der großen Veranda geleitet.
Kaum saß sie am Kaffeetisch, als ein Höllenlärm losging. Wenn auch Karlchen dabei fehlte, so sorgten die beiden anderen Brüder, unterstützt von Onkel Walter, dafür, daß das Ständchen für den Großvater kräftig ausfiel.
»Genau wie damals!« lachte Frau Sandler. »Weißt du es noch, Pucki? Eine Milchkanne mußte daran glauben.«
Die Unterhaltung ging in die Vergangenheit zurück. Vieles aus Puckis Jugend wurde noch erzählt, aber die junge Mutter nahm wenig teil daran. Ihre Augen suchten Karlchen, der nicht bei der Musikkapelle war. Sie erhob sich, durchschritt den Garten und fand ihren Ältesten in der Laube. Er saß versunken auf der Bank.
»Karlchen, mein lieber Junge!«
Unsicher blickte der Angerufene auf. Dann fragte er schüchtern: »Mutti, sag doch, warst du das schlimme Mädchen, von dem in dem Buch steht? Hast du die schwarzen Bohnen ins Himmelskästchen getan? Hast du in der Konditorei mit Schokoladengeld bezahlt?«
Pucki zögerte einige Augenblicke, dann hielt sie es für richtig, ehrlich und offen zu sein. Sie hob den Knaben auf ihren Schoß, legte die Arme um ihn und sagte weich und zärtlich:
»Ja, Karlchen, das ungezogene Mädchen bin ich gewesen.«
»So, wie es in dem Buch steht?« Ein ängstlicher Ausdruck trat in die Augen des Knaben.
»Ja, Karlchen, alle die schlechten Streiche, die ich als Kind machte, sind in jenem Buch aufgeführt, die lustigen und auch die schlimmen. Deine Mutti war einmal ein sehr wildes Mädchen, das den Namen Pucki mit Recht trug. Sie hat den Eltern viel Kummer bereitet und in der Schule nicht lernen wollen. Auch das steht in dem Buche aufgeschrieben.«
»Ja – das steht in dem Buche – –«
»Die Mutti wollte lange nicht einsehen, daß Kinder lernen müssen und daß faule Kinder, die ihre Schulaufgaben nicht machen, leicht auf dumme Gedanken kommen wie jene kleine Hedi in dem Buch, die mit nichts zufrieden war.«
»Und der Waschfrau das Geld nahm –?«
»Karlchen, in dem Buch steht alles nur ganz kurz. Nun will ich dir die Geschichte von der Waschfrau so erzählen, wie sie wirklich gewesen ist. Ich habe damals viel Herzeleid darum gehabt, denn ich wußte, was ich für ein großes Unrecht tat. Mein Gewissen ließ mir keine Ruhe mehr, ich konnte nicht essen, nicht schlafen. Da brachte ich das Geld zu Tante Grete.«
»Konntest nicht essen und nicht schlafen?«
Pucki erzählte dem gespannt zuhörenden Knaben, wie ihr Kinderherz damals angstvoll geschlagen, wieviel Unruhe ihr jenes Unrecht bereitet hatte, und daß sie erst wieder froh wurde, als alles eingestanden war. Weiter sprach sie von ihren vielen Streichen und von den Versuchungen, denen jeder Mensch ausgesetzt sei.
»Schau, Karlchen, solche Versuchungen treten an jeden Menschen heran, auch schon an Kinder. Wer unterliegt, wird mitunter ein schlechter Mensch, wer aber den Mut hat, der Versuchung zu widerstehen, um den ist es gut bestellt. Einem Kinde sind deswegen die Eltern die beste Stütze, damit sie sich Rat und Hilfe bei ihnen holen. Karlchen, auch zu dir wird öfters die Versuchung kommen; dann sollst du zum Vati oder zur Mutti laufen und ihnen alles sagen. Dann brauchst du nicht so viel Herzeleid durchzumachen wie deine Mutti.«
Ein Weilchen betrachtete Karlchen seine Mutti forschend. Plötzlich schlang er die Arme um ihren Hals. »Du hast das Geld nicht behalten? Und wenn deine Mutti gleich dagewesen wäre, hättest du es ihr auch gesagt?«
»Ja, Karlchen, das hätte ich getan. Ich hätte es aber auch Tante Grete sagen müssen.«
»Eine Tante ist aber doch was anderes als eine Mutti!«
»Die Versuchung ist noch manchmal an mich herangetreten, Karlchen, und ich habe nicht immer so gehandelt, wie ich es hätte tun müssen. Ich will dir später noch manche Geschichte aus meinem Leben erzählen, dann wirst du erkennen, daß es lange dauert, bis man sich durchringt. Willst du nun deiner Mutti glauben, daß sie – –«
»Mutti, liebe, liebe Mutti, ich komme immer zu dir, wenn die Versuchung zu mir will. Dann sagst du mir, was ich machen soll, denn sonst schreiben sie auch einmal so ein Buch von mir.«
Pucki fühlte sich sehr erleichtert. Sie spürte die alte Zärtlichkeit in der Umarmung ihres Kindes, sie hatte ein aufkeimendes Mißtrauen in dem Kinde zum Schweigen gebracht.
»Höre, Karlchen, die Musikanten fangen wieder an, Lärm zu machen. Willst du nicht auch dabei sein?«
»Mutti, darf ich – oder ist das auch ein schlimmer Streich?«
»Nein, Karlchen, das ist ein lustiger Spaß, nur braucht ihr die Milchkanne nicht zu zerschlagen. Etwas weniger Lärm genügt auch.«
»Mutti, dann renne ich ganz schnell hin!« Vergessen war das kindliche Herzeleid. Karl entriß Rudi die beiden Blechdeckel, Onkel Walter händigte Rudi den Paukenschläger und einen Blecheimer aus, und der Lärm begann von neuem. Karlchen hielt es sogar für richtig, noch ein Geschrei dazu anzustimmen, weil ihm die Kapelle nicht laut genug war.
Endlich gebot der Großvater Ruhe. »Der Kaffee ist fertig! Ihr habt euch den Kuchen verdient. Für jeden gibt es außerdem noch zehn Pfennige.«
Als das Geld ausgehändigt war, streichelte Karl dem Großvater die Wange. »Du bist ein guter und sehr lieber Großpapa.«
»Wirklich?« lachte der.
Die Kinder sprachen am Kaffeetisch dem Kuchen kräftig zu. Waffeln standen auch auf dem Tisch, und Frau Sandler reichte den Teller mit hellem Lachen ihrer Tochter Pucki. »Hast sie immer gern gegessen.«
»Hast sogar mal einige vom Teller gemaust«, ergänzte Walter.
Später waren die Knaben mit den Großeltern, der Mutter, Agnes und Walter im Garten.
»Wann will Waltraut kommen?« fragte Agnes.
»Sie muß erst bei ihrem Manne bleiben«, meinte Peter, »der ist krank.«
»Sie hat doch keinen«, verbesserte Walter.
»Warum hat sie keinen Mann?« fragte Rudi.
»Weil sie nicht verheiratet ist.«
»Warum ist sie nicht verheiratet, Onkel Walter?«
»Ich bin auch nicht verheiratet und Tante Agnes auch nicht.«
»Warum bist du nicht verheiratet?« fragte Rudi unermüdlich.
»Weil ich noch keine Frau gefunden habe.«
»Wo findet man eine Frau?« mischte sich Peter ein.
»Überall!«
»Warum hast du sie dann noch nicht gefunden? – Tante Agnes, warum findest du keinen Mann?«
»Es wird schon mal einer kommen.«
»Wann kommt er?«
»Das weiß ich nicht.«
»Wenn eine Frau keinen Mann hat und ein Mann keine Frau hat – können doch die beiden Mann und Frau sein. – Onkel Walter, laß doch die Tante Agnes deine Frau sein?«
Agnes wurde blutrot und gab Peter einen Klaps auf den Mund. Der machte ein erstauntes Gesicht und wandte sich wieder an den lachenden Walter Niepel.
»Ist Tante Agnes nun deine Frau?«
»Wir müssen erst mal sehen, ob wir zueinander passen.«
»Höre endlich mit dem dummen Geschwätz auf«, rief Agnes und steckte Peter einen Bonbon in den Mund. Frau Sandler riet den Kindern, im Garten zu spielen. So war die Unterhaltung, die Agnes peinlich zu werden begann, schnell abgebrochen.
Förster Sandler rief nach seinen beiden Hunden. Er wußte, das waren die besten Spielgefährten für die Knaben, dann konnten die Erwachsenen ungestört reden, ohne auf die Hunderte von kindlichen Fragen antworten zu müssen.
Jedesmal, wenn man im Forsthaus zusammenkam, wurde von der Vergangenheit gesprochen. So auch heute wieder. Walter erzählte von seinem Bruder Paul, der seit mehreren Jahren in Australien auf einer Viehfarm weilte und als tüchtiger Landwirt galt.
»Er hat den Eltern viele Sorgen gemacht. Paul war früher ein eigenwilliges Kind. Weißt du es noch, Pucki?«
»Wie könnte ich die Jugendzeit jemals vergessen, Walter. Hast du auch von Fritz gute Nachrichten erhalten?«
»O ja, Fritz ist in seinem Beruf sehr zufrieden, er wartet nun auf eine Oberförsterei. Vorläufig läuft er noch als Forstassessor herum.«
»Von Dora, deiner Schwester, habe ich lange nichts gehört. Sie schrieb sonst so fleißig.«
»Es geht ihr gut. Ihr Mann ist ein tüchtiger Landwirt und wird vorankommen. Dora ist eine umsichtige Gutsfrau und eine gute Mutter. Schade, daß sie so weit fort heiratete. So ist ein Wiedersehen nur selten möglich.«
»Und wie geht es den Eltern, Walter? Ich hatte sie zu Weihnachten bei mir.«
»Alles ist gesund, Pucki. Und bei euch geht es auch gut? Die Klinik deines Mannes genießt einen guten Ruf.«
»Ach ja, wir können sehr zufrieden sein.« – –
Es war kurz vor dem Abendessen, als Peter, der mit den Brüdern Versteck spielte, im Garten umherschlich, um sich ein Versteck zu suchen. Da hörte er leises Flüstern. Sofort blieb er stehen. Wer war in der Laube?
»Wollen wir es miteinander versuchen? Ich denke, es müßte gehen«, sagte eine Stimme.
»Nun, wenn du meinst«, klang es fröhlich zurück.
»Aber natürlich geht es«, klang es wieder.
Peter bog die Zweige auseinander und sah, wie Onkel Walter Tante Agnes in die Arme nahm und sie herzlich küßte. Da lief er rasch davon, hin zur Mutti. Vergessen war das Spiel.
»Mutti – Mutti! – – Wenn der Vater dir einen Kuß gibt, bist du doch seine Frau, nicht? – Jetzt ist die Tante Agnes auch die Frau von Onkel Walter.«
»Junge, was redest du da wieder?«
»Mutti du hast gestern erst gesagt, ein Mann darf seiner Frau einen Kuß geben. – Onkel Walter hat doch seiner Frau eben auch einen Kuß gegeben. – Komm schnell, ich zeige es dir!«
Förster Sandler und seine Frau lachten. »Junge, mach, daß du fortkommst!«
»Ich hab' auch keine Zeit mehr, ich muß schnell noch mal zur Laube laufen. – Mutti, weißt du, was Onkel Walter gesagt hat?«
»Peterli, ich will gar nichts wissen!«
Peter eilte davon. Leider kam er zu spät, denn die Laube war jetzt leer. Arm in Arm kamen ihm Agnes und Walter entgegen.
Am Abend kamen noch Claus und Waltraut, und in einer fröhlichen Runde wurde die Verlobung von Puckis jüngster Schwester gefeiert. Als die Knaben schon längst im Bett lagen, erzählte Peter den Brüdern, wie ein Mann seine Frau findet:
»Er sagt: ›Wollen wir es miteinander versuchen?‹ Und sie sagt: ›Es wird schon gehen.‹ Dann geben sie sich einen Kuß und sind Mann und Frau.«
Die Worte Peters machten natürlich starken Eindruck auf die Brüder.
Nach zwei Tagen sahen die Kinder zufällig, wie Waltraut im Garten der Klinik einen Krankenstuhl schob, auf dem ein junger, blasser Mann lag. Es war Förster Emdering, der sich bei einem Sturz einen doppelten Beinbruch zugezogen hatte. Nun befand er sich auf dem Wege der Genesung. Unweit des Liegestuhles spielten die Knaben. Plötzlich hörten sie die Stimme Tante Waltrauts:
»Wollen wir es einmal versuchen?«
Karl unterbrach sein Spiel und wandte sich zum Bruder: »Was hat der Onkel Walter zu Tante Agnes gesagt, ehe sie Mann und Frau wurden?«
»Wollen wir es miteinander versuchen? – Es wird schon gehen. Und sie hat dann gesagt: Natürlich wird es gehen.«
»Ich denke, es wird gehen«, sagte eben der Kranke zu Schwester Waltraut, die ihn beim Aufrichten stützte.
»Wir wollen es versuchen.«
»Jetzt sind sie Mann und Frau«, flüsterte Peter, »genau so hat der Onkel Walter gesagt. Gleich wird er ihr auch einen Kuß geben.«
Die Knaben warteten, aber sie sahen nur, wie der junge Förster ganz behutsam von seinem Krankenstuhl aufzustehen versuchte.
»Legen Sie Ihren Arm um meinen Hals«, sagte Schwester Waltraut und neigte sich zu dem Kranken nieder.
Die Kinder schlichen noch näher und kauerten erwartungsvoll hinter dem Busch. Peter bog die Zweige auseinander, um besser sehen zu können.
»O ja, es wird schon gehen«, sagte der Kranke, dann stand er wirklich. Mit der einen Hand stützte er sich auf den Stock, der andere Arm lag um Schwester Waltrauts Schulter.
»Nur mutig einen Versuch machen!«
Da fing Peter an laut zu lachen; er stürmte vor. »Tante Waltraut, nun hast du auch einen Mann, genau so wie Tante Agnes! – Das ist fein!«
»Seid ihr schon wieder hier?« sagte Waltraut ruhig. »Was wollt ihr eigentlich?«
»Du hast eben gesagt, du willst es versuchen, es wird schon gehen. Tante Agnes will es auch versuchen, sie ist jetzt eine Frau. Du bist nun auch eine Frau, und das da ist dein Mann!«
Waltraut lachte. »Ihr seid ein recht dummes Volk! Macht, daß ihr fortkommt!«
Unglücklicherweise kam in diesem Augenblick Fräulein Melchert durch den Garten.
»Tante Waltraut hat jetzt auch einen Mann«, schrie ihr Peter entgegen. Als Fräulein Melchert mit geöffnetem Munde zu dem Kranken und seiner Pflegerin hinüberschaute, liefen die Kinder fort.
Schwester Waltraut hatte keine Zeit, auf die Knaben weiter zu achten. Es wollte bei ihrem Patienten noch nicht recht vorwärtsgehen. So mußte sie den jungen Mann wieder zurück zum Krankenstuhl bringen. Inzwischen überbrachten die Kinder der Mutter die Nachricht, daß nun auch Tante Waltraut einen Mann gefunden hätte.
Pucki war darüber sehr verwundert. Sie wußte wohl, daß Förster Emdering in der Klinik lag und von Waltraut gepflegt wurde, daß sich aber zwischen beiden zärtliche Fäden gesponnen hatten, war ihr unbekannt.
Schon in der nächsten halben Stunde wußte es in der Klinik jeder, daß Schwester Waltraut verlobt sei. Dafür hatte Fräulein Melchert gesorgt. Die einzige, die nichts davon ahnte, war Schwester Waltraut selbst. Sie hatte dem Kindergeschwätz gar keine Bedeutung beigemessen und war höchst erstaunt, als ihr Schwester Lotte gratulierte.
Noch in derselben Stunde wurde das Mißverständnis zwar aufgeklärt, trotzdem war der Vorfall für Waltraut und Förster Emdering peinlich, denn das Getuschel wollte so rasch nicht wieder zum Schweigen kommen.
Die drei Knaben erhielten einen strengen Verweis vom Vater. Er drohte sogar, ihnen den Besuch des Klinikgartens zu verbieten.
»Vati, dann mußt du uns aber die Wiese mit dem Bach und den Fröschen kaufen.«