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Den folgenden Tag fühlte sich Aratow verhältnismäßig ruhig. Er konnte sogar seinen gewohnten Beschäftigungen nachgehen. Dabei dachte er aber unausgesetzt an Klara und an alles, was Kupfer ihm gestern gesagt hatte. Seine Gedanken waren allerdings recht friedlicher Natur. Es schien ihm, daß jenes seltsame Mädchen ihn nur vom psychologischen Standpunkt aus interessiere, wie eine Art Rätsel, dessen Lösung wohl einiges Kopfzerbrechen wert sei.
Sie ist mit einer ausgehaltenen Schauspielerin durchgebrannt, dachte er sich, hat sich in den Schutz der Fürstin begeben, bei der sie wohl auch wohnte – und soll keine Liebesaffären gehabt haben? Das klingt zu unwahrscheinlich! Kupfer sagt zwar, sie sei zu stolz gewesen. Erstens wissen wir aber (Aratow meinte: Wir haben es in Büchern gelesen) . . . wir wissen, daß Stolz sich wohl mit Leichtsinn vereinbaren läßt; zweitens, wie brachte sie es bei ihrem Stolz fertig, einen Menschen zum Stelldichein einzuladen, der sie mit Verachtung behandeln könnte? . . . Und sie auch tatsächlich so behandelt hat, und das auf einem öffentlichen Boulevard! Aratow fiel wieder die Szene auf dem Boulevard ein, und er fragte sich, ob er sie tatsächlich mit Verachtung behandelt hätte. Nein! sagte er sich zuletzt. Es war ein anderes Gefühl. Ein Nichtverstehen . . . vielleicht auch Mißtrauen!
Unselige Klara! klang es ihm wieder im Kopfe. Ja, sie ist wohl unselig, das ist der richtige Ausdruck. – Und wenn dem so ist, so war ich ungerecht. Sie hatte recht, als sie sagte, ich hätte sie nicht verstanden. Schade! Ein vielleicht ganz außerordentliches Geschöpf ging so nahe an mir vorbei, und ich machte keinen Gebrauch davon und stieß sie zurück . . . Nun, das macht doch nichts! Das ganze Leben liegt noch vor mir. Vielleicht stehen mir noch ganz andere Begegnungen bevor!
Warum hat sie aber gerade mich erwählt? Er warf einen Blick auf den Spiegel, an dem er eben vorbeiging. Was ist denn an mir Besonderes? Bin ich denn besonders hübsch? Ein Gesicht wie jedes andere . . . Übrigens war auch sie keine Schönheit.
Keine Schönheit, aber welch ein ausdrucksvolles Gesicht! Unbeweglich, und doch so ausdrucksvoll! So ein Gesicht habe ich doch noch nie gesehen. Sie hat auch Talent – sie hatte es vielmehr. Ein wildes, unentwickeltes, sogar rohes, aber doch ein zweifelloses Talent . . . Auch darin war ich ungerecht gegen sie. Aratow dachte an jenen literarisch-musikalischen Nachmittag zurück und merkte, daß er sich eines jeden von ihr gesprochenen oder gesungenen Wortes, jeder Tonänderung mit außerordentlicher Schärfe erinnerte . . . Das wäre doch unmöglich, wenn sie gar kein Talent gehabt hätte.
Und jetzt ruht das alles im Grabe, in das sie sich selbst gestürzt hat. Ich bin dabei unbeteiligt. Mich trifft keine Schuld! Es wäre sogar lächerlich zu glauben, daß ich daran irgendwie schuldig sei. Aratow ging wieder der Gedanke durch den Kopf, daß sein Benehmen beim Stelldichein unbedingt habe enttäuschen müssen. Darum hatte sie ja auch beim Abschiednehmen so grausam aufgelacht. Wo sind auch die Beweise dafür, daß sie sich aus Liebesgram vergiftet hat? Diese Zeitungskorrespondenten schreiben ja jeden Selbstmord unglücklicher Liebe zu! Solchen Naturen wie Klara erscheint das Leben oft unerträglich und langweilig. Ja, langweilig. Kupfer hat recht: Das Leben machte ihr einfach keine Freude mehr.
Trotz der Erfolge und Ovationen? Aratow wurde nachdenklich. Die psychologische Analyse, der er sich jetzt hingab, machte ihm sogar Vergnügen. Er ahnte selbst nicht, welche Bedeutung für ihn, der bisher noch niemals mit Frauen in Berührung gekommen war, diese gespannte Untersuchung einer weiblichen Seele hatte.
Folglich fuhr er in seinen Betrachtungen fort, folglich gab ihr die Kunst keine Befriedigung und vermochte die Leere ihres Lebens nicht zu füllen. Die echten Künstler leben ja nur für die Kunst und für das Theater. Alles übrige erblaßt vor dem, was sie für ihren Beruf halten . . . Sie war eben Dilettantin!
Aratow wurde wieder nachdenklich. Nein, das Wort »Dilettantin« paßte so wenig zu ihrem Gesicht, zum Ausdruck ihrer Augen.
Vor ihm schwebte wieder das Bild Klaras mit den auf ihn gerichteten tränenerfüllten Augen und den zusammengepreßten, an die Lippen gedrückten Händen.
»Ach, nicht doch, nicht doch!« flüsterte er: »Wozu?«
So verging der ganze Tag. Beim Mittagessen unterhielt er sich viel mit Tante Platoscha und fragte sie nach den alten Zeiten aus, an die sie sich übrigens schlecht erinnerte und von denen sie kaum etwas sagen konnte, da sie überhaupt wenig redegewandt war und in ihrem ganzen Leben außer ihrem Jascha kaum etwas bemerkt hatte. Sie freute sich nur darüber, daß er sich plötzlich so freundlich und liebenswürdig zeigte. Gegen Abend war Aratow schon so ruhig, daß er mit der Tante sogar einige Partien Karten spielte.
So verging der Tag. Aber die Nacht . . .