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Platonida Iwanowna freute sich unsagbar über die Rückkehr ihres Neffen. Was hatte sie sich nicht schon alles gedacht! – »Mindestens nach Sibirien!« flüsterte sie, regungslos in ihrem Zimmerchen sitzend »Mindestens für ein Jahr!« Auch die Köchin machte ihr große Angst, wenn sie ihr die verbürgtesten Nachrichten über das Verschwinden bald des einen, bald des andern jungen Mannes aus der Nachbarschaft überbrachte. Die absolute Unschuld und politische Zuverlässigkeit Jaschas vermochten sie nicht zu beruhigen: Es kann ja alles vorkommen! Er beschäftigte sich mit Photographie – das genügt schon! Man verhaftet ihn!
Da kam aber Jascha heil und gesund nach Hause! Allerdings kam er ihr etwas abgemagert vor; das war auch kein Wunder: die ganze Zeit ohne ihre Aufsicht! Sie wagte aber nicht, ihn über seine Reise auszufragen. Beim Mittagessen erkundigte sie sich nur: »Ist Kasan eine hübsche Stadt?«
»Ja, eine hübsche Stadt!« antwortete Aratow.
»Leben dort lauter Tataren?«
»Nicht lauter Tataren.«
»Hast du dir keinen tatarischen Schlafrock mitgebracht?«
»Nein, ich habe keinen mitgebracht.«
Damit war das Gespräch zu Ende.
Kaum war aber Aratow allein in seinem Kabinett, als er sich sofort an allen Gliedern ergriffen fühlte, wie wenn er sich wieder in der Gewalt – ja, es war wohl eine Gewalt! – eines anderen Lebens, eines anderen Wesens befände. Er hatte zwar Anna in jenem plötzlichen Ausbruch von Wahnsinn gesagt, daß er in Klara verliebt sei; dieses Wort erschien ihm aber jetzt dumm und sinnlos. Nein, er ist nicht verliebt; wie sollte er auch in eine Tote verliebt sein, die ihm selbst bei Lebzeiten nicht gefiel, die er beinahe vergessen hatte? – Nein! Er ist aber in der Gewalt, in ihrer Gewalt. Er gehört nicht mehr sich selbst. Er ist gefangen. Er ist dermaßen gefangen, daß er nicht einmal versucht, sich auf irgendeine Weise frei zu machen – weder durch Spott über seine Dummheit noch durch die Einsicht oder wenigstens die Hoffnung, daß alles vergehen werde, daß alles von den Nerven komme, noch durch irgendwelche logische Gründe!
»Wenn ich ihn finde, so nehme ich ihn mir«, diese Worte Klaras, die er von Anna gehört hatte, kamen ihm in den Sinn. Nun hat sie ihn genommen. Sie ist aber tot? Ja, ihr Körper ist tot. Und die Seele? Ist die Seele nicht unsterblich? Braucht sie denn irdische Organe, um ihre Gewalt zu zeigen? – Die Erscheinungen des Magnetismus beweisen, daß eine lebende Menschenseele auf eine andere lebende Menschenseele einwirken kann. Warum soll diese Wirkung nicht auch nach dem Tode fortbestehen, wenn die Seele doch lebendig bleibt? Ja, doch zu welchem Zweck? Was kann dabei herauskommen? Haben wir aber überhaupt eine Ahnung davon, welchen Zweck alles hat, was um uns geschieht?
Diese Gedanken beschäftigten Aratow so sehr, daß er beim Abendtee an Platoscha ganz unvermittelt die Frage richtete, ob sie an die Unsterblichkeit der Seele glaube.
Platoscha verstand im ersten Augenblick nicht, was er wollte; dann bekreuzigte sie sich und antwortete: »Wie sollte denn die Seele nicht unsterblich sein?«
»Kann sie dann auch nach dem Tode wirken?« fragte wieder Aratow.
Die Alte antwortete, daß sie wohl für uns beten könne, das heißt nur nachdem sie in Erwartung des Jüngsten Gerichts alle Leidensstationen durchgemacht habe. Die ersten vierzig Tage umschwebe sie aber die Stätte, wo sie den Tod erlitten.
»Ja, und dann beginnen die Leidensstationen.«
Aratow wunderte sich über die Kenntnisse der Tante und ging wieder in sein Kabinett. Und wieder fühlte er die gleiche Gewalt über sich. Diese Gewalt äußerte sich darin, daß er fortwährend das Bild Klaras vor sich sah; er sah es mit solchen Einzelheiten, wie er sie bei ihren Lebzeiten wohl gar nicht bemerkt hatte; er sah . . . er sah ihre Finger, ihre Nägel, die Haarsträhnen an den Wangen unterhalb der Schläfen, ein kleines Muttermal unter dem linken Auge; er sah die Bewegungen ihrer Lippen, Nasenflügel, Augenbrauen; ihren Gang, und wie sie den Kopf ein wenig nach rechts geneigt hielt: Alles sah er! Er sah es ganz ohne Bewunderung, er mußte es aber unausgesetzt sehen und unausgesetzt daran denken.
Doch in der ersten Nacht nach seiner Rückkehr träumte er nicht von ihr. Er war sehr müde und schlief fest wie ein Toter. Als er aber erwachte, trat sie sofort wieder in sein Zimmer und blieb darin wie eine Hausfrau; als ob sie sich mit ihrem freiwilligen Tod das Recht erkauft hätte, ohne ihn zu fragen, bei ihm aus- und einzugehen.
Er nahm ihre Photographie vor, begann sie zu reproduzieren und zu vergrößern. Dann fiel es ihm ein, das Bild für das Stereoskop einzurichten. Das machte ihm nicht wenig Arbeit. Schließlich brachte er es doch fertig.
Er zuckte zusammen, als er durch die Linse ihre Figur sah, die den Anschein von Körperlichkeit angenommen hatte. Sie war aber grau, wie verstaubt, und die Augen – die Augen blickten zur Seite, wie wenn sie sich von ihm wegwandte. Er stand lange da, blickte lange in die Augen, als erwarte er, daß sie sich auf ihn richten. Er kniff sogar seine Augen zusammen. Die ihrigen aber blieben unbeweglich, und ihre Figur bekam etwas Puppenhaftes.
Er ließ das Bild liegen, warf sich in einen Sessel, holte das herausgerissene Tagebuchblatt mit der unterstrichenen Zeile hervor und dachte: Man sagt, daß Verliebte die Zeilen küssen, die von einer geliebten Hand herrühren, ich habe aber diesen Wunsch nicht – auch die Handschrift erscheint mir nicht schön. Doch in dieser Zeile ist mein Gerichtsurteil enthalten.
Da fiel ihm das Versprechen ein, das er Anna wegen des Artikels gegeben hatte. Er setzte sich hin und versuchte zu schreiben. Es wurde aber so verlogen, so hochtrabend, vor allem so verlogen, als ob er weder an die Worte, die er schrieb, noch an seine eigenen Gefühle glaubte. Auch Klara selbst kam ihm so unbekannt und unverständlich vor! Sie ließ sich gar nicht anfassen.
Nein! sagte er sich und legte die Feder beiseite. Entweder ist das Schreiben überhaupt nicht meine Sache, oder ich muß noch abwarten!
Er dachte wieder an seinen Besuch bei den Milowidows und an die Erzählung Annas, dieser guten, herrlichen Anna . . . Das von ihr gebrauchte Wort »unberührte« kam ihm plötzlich in den Sinn; es versengte und erleuchtete seine Seele.
»Ja«, sagte er laut. »Sie ist unberührt, auch ich bin unberührt. Das ist es, was ihr diese Gewalt über mich gibt!«
Er mußte wieder an die Unsterblichkeit der Seele, an das Leben jenseits des Grabes denken. – Heißt es denn nicht in der Bibel: »Tod, wo ist dein Stachel«? Und bei Schiller: »Auch die Toten sollen leben«? Wohl bei Mickiewicz hatte er gelesen: »Ich werde bis ans Ende der Zeiten lieben – und auch nach dem Ende der Zeiten«! Und ein englischer Dichter hat gesagt: »Die Liebe ist stärker als der Tod«!
Die Bibelstelle machte auf Aratow den größten Eindruck. Er wollte die Stelle nachschlagen. Und weil er keine eigene Bibel besaß, bat er Tante Platoscha um die ihrige. Sie war sehr erstaunt, holte aber ein uraltes Buch in verbogenem, mit Wachstropfen bedecktem Ledereinband mit Messingschließen hervor und händigte es Aratow aus.
Er ging damit zurück in sein Zimmer, konnte lange die Stelle, die er suchte, nicht finden – fand dafür aber eine andere: »Niemand hat größere Liebe, denn die, daß er sein Leben lasset für seine Freunde.« (Johannis, XV, 13.)
Er sagte sich: Es sollte anders heißen: Niemand hat größere Gewalt . . .
Und wenn sie ihr Leben gar nicht für mich gelassen hat? Wenn sie nur darum Hand an sich gelegt hat, weil das Leben ihr eine Last war? Wenn sie schließlich gar nicht einer Liebeserklärung wegen zum Stelldichein gekommen war?
In diesem Augenblick erschien vor ihm Klara, so wie er sie vor der Trennung auf dem Boulevard gesehen hatte. Er erinnerte sich ihres wehmütigen Ausdrucks, ihrer Tränen und ihrer Worte: »Ach, Sie haben ja nichts verstanden! . . .«
Nein, er durfte nicht mehr zweifeln, wofür und für wen sie ihr Leben gelassen hatte.
So verging der ganze Tag bis zum Abend.