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Tom Canty benutzte den Weggang des Prinzen, um sich ausgiebig vor dem großen Spiegel zu bewundern. Er nahm die vornehme Haltung des Kronprinzen an, spazierte hin und her und betrachtete sich verstohlen im Spiegel. Dann zog er den prächtigen Degen, küsste die Klinge und salutierte, wie er es vor einigen Wochen einem Offizier abgeguckt hatte. Auch mit dem juwelenbesetzten Dolch spielte er, der in seinem Gürtel stak. Weiterhin beschaute er sich die kostbaren, ausgesuchten Zieraten des Gemaches. Er setzte sich auf jeden der prunkvollen Stühle und stellte sich vor, wie stolz er wäre, wenn der ganze Unrathof hereinsehen und ihn in seiner Pracht erblicken könnte. Er wunderte sich, ob man ihm glauben werde, wenn er ihnen von all dieser Herrlichkeit erzählen würde, die er jetzt, wenn auch nur für einen Augenblick, genießen durfte. Wahrscheinlich aber würden sie die Köpfe schütteln und glauben, er sei übergeschnappt.
So verging eine halbe Stunde. Da fiel ihm auf einmal ein, daß der Prinz doch eigentlich etwas lange ausbleibe. Ein Gefühl der Verlassenheit überkam ihn allgemach. Er fing an zu lauschen, und eine sonderbare Bangigkeit beschlich ihn. Alle die schönen Sachen um ihn herum verloren von ihrem Interesse; er wurde unruhig, aufgeregt und bekümmert. Wenn jemand käme und ihn in den Kleidern des Prinzen fände! Vielleicht würden sie ihn hängen, bevor der Prinz zurückkäme und das Rätsel löste. Hatte er doch gehört, daß die Großen in solchen Sachen gewöhnlich kurzen Prozeß machten. Immer ängstlicher wurde ihm zu Mute. Sachte und zitternd öffnete er die Türe zum Vorzimmer mit dem Entschlusse, zu fliehen und nach dem Prinzen zu forschen, um bei ihm Schutz und Rettung zu suchen. Sechs prächtige Diener und zwei junge Edelknaben, wie Schmetterlinge gekleidet, sprangen auf und verbeugten sich tief vor ihm. Da trat er rasch wieder zurück und schloß die Tür.
»Sie spotten meiner«, sagte er sich; »sie werden hingehen und erzählen, was sie gesehen haben. O warum kam ich hierher, um mein Leben so leichtsinnig aufs Spiel zu setzen!«
Er ging im Zimmer auf und nieder, von namenloser Furcht erfüllt, horchte angestrengt und fuhr beim geringsten Tone zusammen. Plötzlich flog die Tür auf und ein Edelknabe, in Seide gehüllt, meldete: »Fräulein Johanna Grey!«
Die Tür schloß sich wieder hinter einem lieben jungen Mädchen in reicher Kleidung, welches auf Tom zutrat. Bei seinem Anblicke aber blieb sie plötzlich stehen und sprach in betrübtem Tone: »O was fehlt dir, mein Lord?«
Tom ging beinahe der Atem aus; aber er faßte sich noch und stammelte: »Ach, sei gnädig. Ich bin ja kein Lord, sondern nur der arme Tom Canty vom Unrathof in der Altstadt. Bitte, führe mich zum Prinzen, damit er mir meine Lumpen zurückgibt und mich in Gnaden entlässt. O sei barmherzig und rette mich!«
Der Knabe war auf seine Kniee niedergefallen und schaute mit bittenden Augen und aufgehobenen Händen zu dem schönen Mädchen empor. Sie aber schien vor Schrecken versteinert. Endlich rief sie: »Wie, mein Lord, Ihr kniet? ... und gar noch vor mir?«
Rasch wandte sie sich um und eilte hinweg. Tom aber sank, von Verzweiflung erfaßt, in sich zusammen und murmelte: »Keine Hoffnung, keine. Nun werden sie kommen und mich abführen.«
Während er so, vor Schrecken gelähmt, dalag, verbreitete sich eine Hiobspost mit Windeseile durch den Palast. Das Geflüster ging von Mund zu Mund, die langen Korridore entlang, von Stockwerk zu Stockwerk, von Saal zu Saal: »Der Prinz ist irrsinnig geworden!«
Bald standen in jedem Gange, in jeder Halle Gruppen von glänzenden Herren und Damen und wisperten mit ängstlichen, verstörten Mienen. Jetzt trat ein hoher Beamter an diese Gruppen heran und verkündete mit feierlicher Stimme:
Das Geflüster hörte ebenso plötzlich auf, wie es begonnen hatte.
Bald aber lief wieder ein allgemeines Gesumme durch die Korridore: »Der Prinz! Seht, der Prinz kommt!«
Langsam schritt der arme Tom an den Gruppen vorüber, deren tiefe Verbeugungen er zu erwidern versuchte, und schaute mit irren, ängstlichen Augen auf die fremde Umgebung. Ihm zu beiden Seiten gingen Edelleute von hohem Stande, die ihm den Arm zur Stütze boten. Hinter ihm aber folgten die Hofärzte und einige Diener.
Mit einem Male sah sich Tom in einem herrlichen Saale und hörte, wie die Tür sich hinter ihm schloß. Um ihn herum standen die, mit denen er gekommen war. Nur wenige Schritte vor ihm aber ruhte ein sehr großer und sehr starker Mann mit breitem, fleischigem Gesicht und ernster Miene.
Sein mächtiger Kopf war schon ganz grau, wie auch sein Backenbart, der wie ein Rahmen sein Gesicht umgab. Sein Gewand war von reichem Stoffe, aber an einigen Stellen leicht abgenutzt. Einer seiner Füße war geschwollen und lag, fest eingewickelt, auf einem Kissen. Tiefe Stille herrschte, und ehrerbietig senkten sich die Häupter aller vor diesem Manne. Der ernstblickende Kranke war der gefürchtete König Heinrich der Achte. Seine Züge verloren ihre Härte, als er zu sprechen begann: »Was ist dir, mein Lord Eduard, mein Prinz? Willst du mich, den guten König, deinen Vater, mit leidigem Scherz betrüben, der dich so lieb hat und so gut zu dir ist?«
Der arme Tom mühte sich, soweit seine Verwirrung es zuließ, die mit sanftem Vorwurf gesprochene Rede zu erfassen. Als aber die Worte »mich, den guten König« sein Ohr berührten, da erblaßte er und fiel, wie vom Blitz getroffen, auf die Kniee. Dann hob er die Hände empor und rief: »Du der König? Dann ist es mit mir zu Ende!«
Der König schien wie betäubt von diesen Worten. Ziellos wanderten seine Blicke von Gesicht zu Gesicht, dann blieben sie verwirrt auf dem Knaben vor ihm haften. Endlich sprach er in einem Tone tiefer Enttäuschung: »Ach, ich hatte geglaubt, das Gerücht übertreibe den wirklichen Sachverhalt; ich fürchte, ich habe mich geirrt.«
Er atmete schwer und sagte sodann mit sanfter Stimme: »Komm zu deinem Vater, Kind, du bist nicht wohl.«
Man richtete Tom auf, und er trat zitternd und demütig näher. Der König nahm das angstvoll blickende Gesicht des Knaben zwischen die Hände und betrachtete ihn mit liebevollem Ernst, als suche er nach einem Zeichen der wiederkehrenden Vernunft. Dann preßte er den Lockenkopf an seine Brust und streichelte ihn zärtlich. Plötzlich sagte er: »Kennst du deinen Vater nicht, Kind? Brich nicht mein altes Herz; sage, daß du mich kennst. Du erkennst mich, nicht wahr?«
»Du bist mein gefürchteter Herr, der König, den Gott erhalte!«
»Schön, ganz recht, das ist gut; tröste dich und zittere nicht so. Hier ist niemand, der dir ein Leides tun möchte, niemand, der dich nicht liebt. Du bist jetzt besser; dein böser Traum verfliegt, ist es nicht so? Und dich selbst kennst du auch wieder, nicht wahr? Du willst dich nicht wieder für einen andern ausgeben, oder?«
»Ich bitte dich bei deiner Gnade, glaube mir. Ich sprach nur die Wahrheit, erlauchter Lord. Ich bin der geringste deiner Untertanen, in armseligen Verhältnissen geboren und nur durch einen leidigen Tausch und Zufall bin ich hier; mich selbst aber trifft kein Vorwurf. Ich bin noch zu jung zum Sterben, und du kannst mich retten mit einem einzigen kleinen Wort. O sprich es aus, Herr!«
»Sterben? Sprich doch nicht so, mein lieber Prinz. Still, still, beruhige dein verwirrtes Herz, du sollst nicht sterben!«
Mit einem freudigen Ausruf fiel Tom wieder auf die Kniee: »Gott danke dir deine Gnade, o mein König und erhalte dich noch lange zum Segen deines Landes!« Dann sprang er auf, wandte sich an die beiden Lords, die ihn hergeführt hatten, und rief: »Ihr hört es! Ich soll nicht sterben. Der König hat es gesagt!«
Stumm verbeugten sich die Angesprochenen; aber keiner ergriff das Wort. Verwirrt zögerte Tom einen Augenblick, blickte furchtsam nach dem König und sprach: »Darf ich jetzt gehen?«
»Gehen? Gewiß, wenn du wünschest. Aber magst du nicht einen Augenblick länger verweilen? Wohin willst du gehen?«
Tom senkte die Blicke und erwiderte unterwürfig: »Vielleicht habe ich falsch verstanden. Ich dachte, ich wäre nun frei und wollte wieder zurück in die Dachkammer, wo ich geboren und im Elend erzogen wurde. Da meine Mutter und Schwestern dort wohnen, gehöre ich auch dahin. Dieser Pomp und Glanz aber, an den ich nicht gewöhnt bin ... o bitte, Herr, laß mich gehen!«
Der König schwieg und dachte einen Augenblick nach, während sein Gesicht wachsende Sorge und Unruhe ausdrückte. Dann aber sagte er, und ein wenig Hoffnung lag in seiner Stimme: »Vielleicht erstreckt sich sein Irrsinn nur auf diese eine fixe Idee und hat seine übrige Geisteskraft unberührt gelassen. Gebe, daß dem so sei! Wir werden es gleich sehen.«
Darauf stellte er an Tom eine Frage in lateinischer Sprache und Tom antwortete, wenn auch zögernd, in derselben Sprache. Der König war entzückt und seine Miene heiterte sich auf. Auch die Lords und Ärzte zeigten ihre Befriedigung. Der König wandte sich zu den Herren und sprach: »Das zeigt doch wohl, daß sein Geist nur krank, nicht gänzlich zerstört ist. Was sagen Sie dazu, meine Herren?«
Die Ärzte verbeugten sich tief, und einer erwiderte: »Das ist auch unsere Überzeugung, Majestät.«
Der König freute sich über diese Bestätigung, die von einer einwandfreien Autorität herrührte, und fuhr fort: »Nun geben Sie alle acht. Wir wollen ihn weiter prüfen.«
Darauf fragte er Tom etwas in französischer Sprache. Tom schwieg eine Weile verlegen, da er alle Augen auf sich gerichtet sah, und erwiderte dann leise: »Ich kenne diese Sprache nicht, mein König.«
Der Fürst fiel in seine Kissen zurück. Die Umstehenden eilten zu seinem Beistande herbei. Der König aber wies sie zurück und sagte: »Laßt mich, es ist nur ein leichter Schwächeanfall. Hebt mich empor. So, das genügt. Komm hierher, Kind; lehne deinen armen, verwirrten Kopf an deines Vaters Herz und ruhe aus. Du wirst bald wieder wohl sein; es ist nur vorübergehend. Fürchte dich nicht.«
Dann wandte er sich zu der Versammlung; seine bis jetzt milden Züge härteten sich und fahle Blitze zuckten aus seinen Augen. Er sprach: »Höret ihr alle! Dieser mein Sohn ist irrsinnig; aber er ist es nicht dauernd. Die geistige Überanstrengung hat es bewirkt und eine zu große Abgeschlossenheit. Weg für jetzt mit Büchern und Lehrern! Man sorge dafür! Vergnügt ihn mit Spielen, gebt ihm gesunde Unterhaltung, auf daß sein Geist wiederkehre!«
Dann erhob er sich noch höher und fuhr in strengem Tone fort: »Er ist irrsinnig; aber er ist mein Sohn und Englands Erbe und gesund oder irrsinnig, regieren soll er doch! Und höret ferner und verkündet es weiter: wer immer von dieser seiner Krankheit spricht, vergeht sich gegen den Frieden und die Ordnung dieses Reiches und soll gehängt werden! ... Gebt mir zu trinken ... ich brenne ... Diese Sorge reibt meine Kraft auf ... hier, nehmt den Becher wieder weg ... stützt mich! ... so, das ist gut. Also irrsinnig ist er. Wäre er aber auch tausendmal irrsinniger, er ist doch der Kronprinz, und ich, der König, will es bekräftigen. Schon am nächsten Morgen soll er in gehöriger, althergebrachter Form zum Thronerben erklärt werden! Trefft sogleich die nötigen Anordnungen, mein Lord Hertford.«
Einer von den Edlen kniete vor dem Lager des Königs nieder und sagte: »Majestät wird sich erinnern, daß der Erbmarschall von England gefesselt im Turm liegt. Es wäre nicht geziemend, daß ein Gefangener ...«
»Still! Beleidiget nicht mein Ohr mit seinem verhaßten Namen! Muß denn dieser Mann ewig leben? Wird mein Wille nicht mehr geachtet? Soll der Prinz warten, weil zu seiner feierlichen Einsetzung England keinen Marschall hat, der frei ist vom Verbrechen des Hochverrats? Nein, bei Gottes Herrlichkeit! Mein Parlament möge Norfolks Thomas Howard, Graf Surrey, Herzog von Norfolk (1474 bis 1554), ein eifriger Katholik, wurde trotz seiner hohen Verdienste um das Reich unmittelbar nach seiner Rückkehr von einem glücklichen Feldzug gegen Schottland mit seinem ältesten Sohn am 12. Dezember 1546 in den Turm geworfen. Sein Sohn wurde hingerichtet, und er selbst entging demselben Schicksal nur dadurch, daß Heinrich VIII., wie in der Erzählung geschildert, am Tage vor seiner stattzufindenden Hinrichtung starb. Jedoch erhielt er erst mit der Thronbesteigung Marias der Katholischen oder der »Blutigen« Freiheit, Güter, Würden und den alten Einfluß zurück. Verurteilung beschließen, ehe die Sonne sich wieder erhebt, sonst wird es meine schwere Hand spüren!«
Lord Hertford erwiderte: »Des Königs Wille ist Gesetz.« Dann stand er auf und trat an seinen früheren Platz zurück.
Die vom Zorn entstellten Züge des alten Königs glätteten sich, und er sprach: »Küsse mich, mein Prinz. Was! du fürchtest dich? Bin ich nicht dein liebevoller Vater?«
»Du bist zu gütig gegen mich Unwürdigen, o mächtiger und gnädiger Herr. Aber es ... es schmerzt mich, wenn ich an ihn denke, der sterben soll, und ...«
»Ah, das gleicht dir, das sieht dir ähnlich. Dein Herz ist also unverändert geblieben, wenn auch dein Geist gelitten hat, denn du warst immer ein gutes Kind. Aber dieser Herzog steht zwischen dir und deiner Standeserhöhung. Ich will einen andern an seiner Stelle haben, der makellos dasteht. Tröste dich, mein Prinz, verwirre deinen armen Kopf nicht noch mehr durch solche Gedanken.«
»Aber ich bin es doch, der seinen Tod wider Willen beschleunigt, mein König. Wie lange dürfte er sonst noch leben?«
»Denke nicht an ihn, mein Prinz; er ist es nicht wert. Küsse mich noch einmal und dann gehe und erheitere dich durch Spiele. Ich bin müde und möchte ruhen. Gehe mit deinem Onkel Hertford und deinen Leuten, und komme wieder, wenn mein Körper erfrischt ist.«
Schweren Herzens mußte sich Tom hinwegführen lassen. Vernichteten doch diese letzten Worte die Hoffnung freizukommen, die er immer noch gehegt hatte. Wieder hörte er in den Gängen leise Stimmen flüstern: »Der Prinz, der Prinz kommt!«
Er wurde immer mutloser, wie er so zwischen den Reihen sich verbeugender Höflinge hindurchschritt. Es kam ihm zum Bewußtsein, daß er jetzt ein Gefangener sei und vielleicht für immer in diesem vergoldeten Käfig verweilen müsse, ein verlorener, freundloser Prinz. O möchte doch der Himmel sich seiner erbarmen und ihn freilassen!
Dazu sah er, wohin er seine Blicke auch wenden mochte, immer den abgeschnittenen Kopf des Herzogs von Norfolk, wie er mit vorwurfsvollen Augen ihn anblickte.
Wie schön waren seine alten Träume gewesen, und wie traurig machte ihn jetzt die Erfüllung derselben!