Mark Twain
Meine Reise um die Welt. Erste Abteilung
Mark Twain

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Fünfundzwanzigstes Kapitel.

Es gibt Menschen, die imstande sind, die edelsten Taten zu vollbringen; nur eines ist ihnen unmöglich, sie können es nicht unterlassen, Unglücklichen von ihrem Glück zu erzählen.

    Querkopf Wilsons Kalender.

Nachdem wir noch Maryborough und einige andere australische Städte besucht hatten, schifften wir uns nach Neuseeland ein. Wenn es nicht den Anschein hätte, als wollte ich mich mit meiner Weisheit brüsten, so würde ich dem Leser sagen, wo Neuseeland liegt. Aber es geht ihm gewiß, wie es mir erging: er glaubt, daß er es schon weiß. Im allgemeinen ist man nämlich der Ansicht, daß Neuseeland irgendwo dicht bei Australien oder Asien liegt und man auf einer Brücke hinübergehen kann – aber das verhält sich nicht so. Neuseeland liegt nirgends dicht am Lande, sondern ganz für sich. Am nächsten ist es noch an Australien, aber doch durchaus nicht nahe, sondern zwölf bis dreizehnhundert Meilen entfernt, und eine Brücke gibt es nicht. Ich weiß das alles von einem Professor der Yale-Universität, den ich kurz vor meiner Reise nach dem Stillen Ozean auf einem Eriedampfer traf. Um mit ihm ins Gespräch zu kommen, brachte ich die Rede auf Neuseeland, in der Meinung, er werde nach einigen allgemeinen Bemerkungen dies Thema fallen lassen und von andern, ihm geläufigeren Dingen sprechen. War nur erst einmal das Eis gebrochen, so konnten wir Bekanntschaft machen und uns angenehm unterhalten. Zu meiner Ueberraschung setzte ihn jedoch meine Frage keineswegs in Verlegenheit, er schien sie vielmehr mit Freuden zu begrüßen. Fließend, ohne Anstoß, frei und zuversichtlich sprach er über den Gegenstand, während ich ihm mit Staunen und stets wachsender Bewunderung zuhörte, denn ich sah, daß er nicht nur wußte, wo Neuseeland lag, sondern auch dessen Geschichte, Politik, Religionen und Handelsverkehr bis ins einzelne kannte, und in der Flora, Fauna und Geologie, den Erzeugnissen und klimatischen Verhältnissen der Insel genau bewandert war. Als er geendet hatte, starrte ich ihn wie verzaubert an und sagte mir: der Mann weiß alles; im Reiche menschlicher Erkenntnis herrscht er als König.

Da ich begierig war, ihn noch mehr Wunder verrichten zu sehen, stellte ich ihm nun andere verfängliche Fragen, aber da erging er sich in Gemeinplätzen und kam nicht vom Fleck. Sobald man Neuseeland nicht aufs Tapet brachte, glich er dem seines Haupthaars beraubten Simson und war schwach, wie andere Menschen auch. Dies Rätsel ging mir so sehr im Kopf herum, daß ich alle Scheu überwand und ihn geradezu bat, es mir zu erklären.

Zuerst machte er Ausflüchte, dann meinte er lachend, es verlohne sich nicht der Mühe, die Sache in Dunkel zu hüllen, er wolle mir das Geheimnis anvertrauen, und erzählte folgende Geschichte:

»Letzten Herbst saß ich eines Morgens daheim bei der Arbeit, als eine Visitenkarte mit einem mir fremden Namen hereingebracht wurde; darunter stand eine Zeile, welche besagte, daß der unbekannte Besucher ein Professor der Theologie an der Wellington-Universität in Neuseeland war. Das setzte mich in große Verlegenheit, wegen der Kürze der Frist. Denn nach der Satzung unserer Hochschule mußte er von einem Mitglied der Fakultät zu Tische gebeten werden und zwar noch für den nämlichen Tag; die Einladung auf einen der folgenden zu verschieben wäre ein Verstoß gegen die herrschende Sitte gewesen. Diese verlangt außerdem, daß wenn ein fremder Gast zugegen ist, das Tischgespräch mit einem schmeichelhaften Hinweis auf sein Land, dessen große Männer, gelehrte Anstalten, Verdienste um den Kulturfortschritt und dergleichen eingeleitet wird. Dafür ist natürlich der Wirt verantwortlich; er muß entweder jene Bemerkungen selber machen oder Sorge tragen, daß ein anderer es tut. Meine Not war groß; je mehr ich mein Gedächtnis befragte, um so ängstlicher war mir zu Mute. Denn ich wußte ja gar nichts von Neuseeland, außer allenfalls wo es lag, nämlich irgendwo dicht bei Australien oder Asien, so daß man auf einer Brücke hinübergehen kann. Aber vielleicht war selbst das nicht richtig und jedenfalls genügte es nicht für das Tischgespräch. Es mußte ja der ganzen Fakultät zur Schande gereichen, wenn ich, ein Professor der ersten Universität Amerikas, eine so grobe Unwissenheit verriet; natürlich würde der Gast es weiter erzählen und sich über mich lustig machen.

»Mich überlief es heiß bei dem Gedanken. Ganz aufgeregt ging ich zu meiner Frau, sagte ihr alles und bat sie mir beizustehen, worauf sie vorschlug, sie wolle den Besuch einstweilen empfangen und sagen, ich sei ausgegangen, werde aber sogleich wiederkommen. Inzwischen solle ich zur Hintertür hinausschlüpfen und Professor Lawson ankündigen, daß er den Fremden zu Tische bitten müsse. Lawson wisse ja alles und könne gewiß die Ehre der Universität retten. Ich folgte ihrem Rat, ward aber schwer enttäuscht. Lawson – dies schrecklich gelehrte Haus – wußte nichts von Neuseeland, als daß es irgendwo dicht bei Australien oder Asien läge und man auf einer Brücke hinübergehen könne. Also war ihm alle seine Gelehrsamkeit nichts nütze, sie ließ ihn im Stich, wo er sie am nötigsten brauchte.

»Was war zu tun? Der Ruf der Universität stand auf dem Spiel; wir mußten die andern Mitglieder der Fakultät zu Hilfe holen. Vielleicht wußte doch einer von ihnen mehr über Neuseeland als wir. Zuerst riefen wir den Professor der Astronomie ans Telephon; er erwiderte, daß er nur wisse, Neuseeland läge irgendwo dicht bei Australien oder Asien und man ginge –

»Wir machten ›Schluß‹ und riefen den Professor der Biologie, welcher sagte, es sei dicht bei Aust – Abermals Schluß! – Nein, das ging nicht an, wir mußten einen andern Plan ausdenken. Lange überlegten wir hin und her und trafen endlich folgende Entscheidung: Das Mittagessen sollte bei Lawson stattfinden, und die Fakultät sofort per Telephon benachrichtigt werden, daß sie sich vorbereiten und fleißig studieren müsse, um nach acht und einer halben Stunde, wenn wir zu Tische kämen, so genau über Neuseeland unterrichtet zu sein, daß wir vor dem Gast nicht zu erröten brauchten. Um als gebildete Leute zu erscheinen, mußten wir über Bevölkerungszahl, Politik, Regierungsform, Handel, Steuern und Produkte des Landes Bescheid wissen, mußten seine alte und neue Geschichte kennen, nebst den verschiedenen Religionen, Gesetzen, klimatischen Verhältnissen, den Quellen, aus welchen sein Einkommen floß und dergleichen mehr; kurz wir mußten die Karten und das Konversationslexikon in- und auswendig lernen. Während wir uns so das Nötigste einpaukten, sollten die Damen der Fakultät nach einander, wie von ungefähr, zu meiner Frau herüber kommen und ihr beistehen, den Neuseeländer festzuhalten, damit er ja nicht ins Freie gelangen und uns bei unsern Studien stören könnte.

»Der Plan glückte vollkommen, aber er brachte alles zum Stillstand – die ganze Kulturarbeit der Universität geriet plötzlich ins Stocken. Die Annalen von Yale werden noch künftigen Geschlechtern von dem denkwürdigen Feiertage erzählen, an welchem die Räder des Fortschritts plötzlich gehemmt wurden und eine Sabbatstille eintrat, während die Fakultät sich gebührend vorbereitete, um mit Ehren in Gegenwart des Professors der Theologie aus Neuseeland bei Tische sitzen zu können.

»Als die Essensstunde kam, waren wir alle entsetzlich matt und müde, aber wohl unterrichtet, das muß ich sagen. Unsere Kenntnisse waren geradezu erstaunlich, und man konnte sich nicht genug wundern, wie natürlich und ungezwungen sie uns von den Lippen flossen. Neuseeland bildete ein völlig unerschöpfliches Thema der Unterhaltung.

»Auf einmal bemerkte jemand, daß unser Gast ganz verblüfft und stumm dasaß, und wir waren sogleich eifrig bemüht, ihn in die Unterhaltung zu ziehen. Da tat er den Mund auf und sprach uns in beredten Worten eine so ehrliche, aufrichtige Bewunderung aus, daß die Fakultät davor erröten mußte. Er sagte, er fühle sich unwürdig in der Gesellschaft solcher Männer zu sitzen – vor Staunen habe er geschwiegen, aber auch vor Scham über seine Unwissenheit. ›Achtzehn Jahre lebe ich schon in Neuseeland,‹ fuhr er fort, ›seit fünf Jahren bin ich Professor; ich sollte das Land und seine Einrichtungen genau kennen und weiß doch so gut wie nichts davon. Zu meiner Schande muß ich gestehen, daß ich in diesen zwei Stunden bei Tische hundertmal mehr über Neuseeland erfahren habe, als je zuvor in der ganzen langen Zeit. Darum, bitte, meine Herren, lassen Sie mich schweigend zuhören und fahren Sie mit diesem Gespräch fort, bei dem ich Ihnen wenigstens folgen kann. Wenn Sie irgend ein anderes Thema wählen, um Ihre Gelehrsamkeit zu entfalten, würde ich mir ja ganz wie verraten und verkauft vorkommen. Wer über ein so kleines, unbedeutendes Stückchen Erde wie Neuseeland so genaue und umfassende Kenntnis besitzt, was mag der erst alles von andern Dingen wissen!‹« –



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