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Wenn wir für das den praxitelischen Stilcharakter so bezeichnende Stützmotiv und die dadurch ermöglichte Erweichung des Rhythmus allein ins Auge fassen, so sind unter jenen Statuen, die man schon vor der Ausgrabung des Hermes für Praxiteles in Anspruch nahm, dem Hermes selbst am innigsten verwandt der sog. Sauroktonos, der ausruhende Satyr und (in seinem vorauszusetzenden Urbild) der Apollino.

Unter diesen hat die an erster Stelle genannte am allerwenigsten der neuen Bestätigung ihres praxitelischen Ursprungs bedurft, da dieser durch die litterarische Überlieferung völlig gesichert war. In seiner Aufzählung der Erzwerke des Praxiteles hat Plinius das Motiv einer dieser Statuen genau beschrieben (wie selten sind leider in unsrer antiken litterarischen Überlieferung solche Motivbeschreibungen mit Angabe des Künstlernamens!): »Er bildete auch einen Apoll an der Grenze des Knaben- und Jünglingsalters, der einer emporschleichenden Eidechse mit dem Wurfpfeil aus der Nähe auflauert; man nennt ihn den »Sauroktonos« (Eidechsentöter);« auch durch ein ihr gewidmetes, die Schönheit des Knaben verherrlichendes Epigramm des Martial ist die stadtrömische Berühmtheit dieser Bronze für die Kaiserzeit bezeugt.

Nun findet sich in unsrem Vorrat antiker Statuen in nicht kleiner Anzahl die Darstellung eines nackten, sehr zarten und fast mädchenhaft gebildeten Jünglings, der die erhobene Linke an einen Baumstamm stützt, an dem die Eidechse emporläuft, gegen die die Rechte den Wurfpfeil zückt. Winckelmann war es, der zuerst auf Grund jener Zeugnisse in diesen Statuen Kopieen des Sauroktonos erkannt hat. Die besten dieser Kopieen befinden sich im Vatikan und im Louvre.

Die knappere und schärfere Formenbehandlung, die nirgends deutlicher wird als an der Bildung der Lider, ist natürlich durch den Bronzecharakter des Originals in erster Linie bedingt; aber auch das eigentümlich Schwungvolle und Leichte, wunderbar Freie der Komposition (wie massig und schwer erscheint dagegen selbst der Hermes!) fliesst aus dieser Quelle. Es ist dieselbe »Doppelwelle« wie im Hermes, aber viel eleganter und flüssiger.

Die Gesichtszüge sind so streng stilisiert, dass es unmöglich wäre, aus dem Kopf allein zu erschliessen, ob er dem Körper eines Mädchens oder Knaben zugehöre. Durch eine reizvolle Einzelheit der Frisur der gescheitelten und leicht gewellten Haare wird der weibliche Charakter des Kopfes noch verstärkt.

Satyr. Marmor. Rom, Museo Capitolino

Den unendlichen Wohllaut des Linienflusses dieser Figur lehren am besten spätere Umbildungen desselben Motivs schätzen, in denen z. B. durch die Kreuzung der Beine eine grelle Dissonanz geschaffen wird. Was aber die inhaltliche Deutung betrifft, so ist von vornherein allgemein zugegeben, dass weder der grosse Mythus noch die Lokalsagen einen Eidechsen tötenden Apoll kennen.

Vielmehr scheint das flinke Tierchen dem Gotte heilig gewesen zu sein; umso weniger können wir uns einen »Apollon-Eidechsenvertilger« als Gegenstück etwa zum »Mäusevertilger« des Skopas denken. Aber wir brauchen uns ja garnicht so eng an den (allerdings aus dem Altertum überlieferten) Namen der Statue zu halten; halten wir uns aber an ihre Action, so ergiebt sich, dass der Knabe nur nach der Eidechse zielt; ob er sie töten will, bleibt dahingestellt. Wir haben also einfach den Licht- und Sonnengott vor uns, der mit seinen (hier durch den Wurfpfeil symbolisierten) warmen Strahlen die Eidechse aus ihren unterirdischen Verstecken hervorlockt.

Ein verwandtes, sicher praxitelisches Motiv, das des ausruhenden Apoll, der die Linke mit dem Bogen auf den Pfeiler stützt, während die ermüdete Rechte um das Haupt gelegt ist, ist uns leider nur in einer recht späten Umbildung erhalten. Aber dank der triumphierenden unzerstörbaren Schönheit des Aperçus gehört der »Apollino« der Tribuna der Uffizien noch heute zu den populärsten Antiken. Das Original war, wie wir aus Lukian wissen, im athenischen Lykeion aufgestellt gewesen.

Und nun kommen wir zu einem Werke des Praxiteles, das schon im Altertum hohen Ruhm genoss und in zahlreicheren Kopieen auf uns gekommen ist, als irgend eine andere antike Statue.

Ein jugendlicher Satyr, die Rechte derb und voll aufgelehnt (vergl. dagegen den Eidechsentöter!), die Linke lässig in die Hüfte gestützt, das Pantherfell zwanglos quer über die Brust geschlungen, erscheint vor uns: ein Bild vollendeten Behagens, das sich gehen lässt. Merkwürdig, voll Charakteristik ist der Kopf. Nicht bloss die tierischen spitzen Ohren bewahren das satyreske Element, sondern auch die dichtwachsende regellose Fülle der Haare, die sich wie eine dicke Kapuze um das breite Gesicht legen, und vor allem die leicht schräggestellten Augachsen, die dem Antlitz einen bubenhaft frechen Ausdruck geben. Belustigt neigt der Bursche den Kopf ein wenig zur Seite; er beobachtet augenscheinlich etwas, das ihm grossen Spass macht. Dazu stimmt die ganze Haltung und dies spricht alles so stark, dass man sich unwillkürlich umwendet, um doch auch zu sehen, was den Satyr so freut.

Ohne Zweifel war dieser Satyr Bestandteil einer Gruppe. Nun ist uns aber überliefert, dass gerade jener Satyr des Praxiteles, der schon im Altertum der »Berühmte« hiess, mit den Darstellungen des bärtigen Dionysos und der Methe (Trunkenheit) zu einer Gruppe vereinigt war, sämtliche Figuren aus Bronze. Die »Methe« werden wir uns im Typus der trunkenen tanzenden Mänade, den Dionysos ruhig zuschauend denken müssen.

Das Glück will es, dass uns dieser ruhig zuschauende, bärtige Dionysos, wie ich glaube, in der würdevollen Gestalt des sog. »Sardanapal« (im Vatikan) erhalten ist, dessen Zuweisung an Praxiteles heute wohl kaum noch einem Widerspruch begegnet. Geradezu verblüffend ist ja z. B. die Ähnlichkeit der Kopf- und Gesichtsbildung bis zur Höhe des Bartansatzes mit den Formen des Kopfes der Aphrodite von Knidos. Hochaufgerichtet steht der Gott da, in ruhigem Stand mit seitwärts gesetztem rechten Spielbein, die Linke unter dem Mantel wie beim Satyr in die Hüfte gestützt, mit der erhobenen Rechten ein gewaltiges Skeptron fassend. Reichlich fliessen die langen Haar- und Bartlocken auf die Brust, ein leises Lächeln sah schon Visconti die göttlichen Lippen umspielen. Originell ist das Motiv der imponierenden Verbreiterung der Gestalt durch das Einstützen des linken Armes unter dem Himation; es ist in höchstem Grade des Praxiteles würdig.

Die »Methe« nun vermute ich in der »tanzenden Mänade« des Berliner Museums, auf die sich vor wenig Jahren, infolge des Interesses, das Se. Majestät Kaiser Wilhelm II. ihr zuwandte, die allgemeine Aufmerksamkeit richtete. Im Standmotiv, im Rhythmus der Bewegung ihres Körpers, in der Wendung des (fehlenden) Kopfes deckt sie sich geradezu mit dem Satyr selbst, von dem wir gerade sprechen. In der malerisch virtuosen Gewandbehandlung ist nichts, was nicht auf Praxiteles zurückgeführt werden dürfte, ja sogar Einzelmotive wie die kleine Faltengabel am Himation des Dionysos finden sich hier wieder. Das wichtigste Moment scheint mir aber in dem ganz eigentümlich praxitelischen Verlauf der Mittellinie dieses wundervoll bewegten Körpers zu liegen, den ich oben die »Doppelwelle« genannt habe.

Dionysos. Marmor. Rom, Vatikan

Die »Methe« tanzt und bläst die Doppelflöte wie der Marsyas auf dem Relief aus Mantinea, Dionysos schaut zu wie dort Apoll, zu ihnen tritt der Satyr, gelassen-gemütlich wie dort der Skythe. Dass bei dieser Zusammenstellung und Deutung der Gruppenzusammenhang der drei Figuren inniger noch ist als er für jene Zeit eigentlich vorausgesetzt zu werden brauchte, weiss jeder Kundige. Damals begnügte man sich mit einfachen Nebeneinanderstellungen, die »Gruppe« im modernen Sinn ist viel späteren Ursprungs. Jene praxitelische Gruppe bestand aus Bronzeoriginalen; Satyr wie Mänade gewinnen wesentlich, wenn wir die dem antiken Marmorkopisten dieser Originale unentbehrlichen Stützen entfernen. Wo die Gruppe im Altertum gestanden hat, wissen wir nicht. Die Identifizierung unseres sich auflehnenden Satyrs mit dem »Berühmten« der alten Welt ist nicht neu, schon Visconti hat sie vorgenommen, immer wieder aber wurde sie mit dem Einwand zurückgestellt, dieser Satyr könne in keiner Gruppe gestanden haben. Diesen Einwand hoffe ich im Vorhergehenden widerlegt zu haben. Mit der Annahme meiner Erklärung muss man natürlich auch auf all die Lyrik verzichten, mit der man diesen prächtigen athenischen Gassenjungen dicht zu umgeben liebte.

Spätere, gleichfalls sehr beliebt gewordene Umbildungen drücken den Satyr etwas ins kindliche Alter hinab, lassen ihn die Beine kreuzen und gestalten die Situation momentaner: der Junge setzt die Flöte, auf der er gerade blies, von den Lippen ab, um etwas zu beobachten, das plötzlich in seinem Gesichtskreis aufgetaucht ist.

Kaum noch als Satyr erkennbar ist der berühmte »Einschenkende« des Dresdener Museums. Nur mehr das Haar, das von der Binde nicht gebändigt wird, und die Bildung der Ohren verraten seinen halbtierischen Ursprung. Im übrigen ist ein eleganter attischer Ephebe aus ihm geworden, der beim Symposion ein Kunststück vormacht; es gilt, aus hocherhobener Kanne mit dem Weinstrahl die enge Mündung des Trinkhornes zu treffen. (Eine flache Trinkschale in der vorgestreckten Linken, wie man sie neuerdings vorgeschlagen, würde den Sinn der Darstellung zerstören.) Will man an dieser Statue den spezifisch praxitelischen Rhythmus belauschen, so muss man sie, im Gegensatz zu den eben besprochenen Gestalten, in die Profilansicht stellen. Im übrigen enthält sie reichlich peloponnesische Formenelemente, wie Furtwängler erkannt hat, der sie deswegen in die wahrscheinlich von der Kunst des grossen Polyklet beeinflusste Jugend des Künstlers setzt. Auch hier ist ein Bronzeoriginal vorauszusetzen, und vergleichen wir jetzt seine harte und knappe Formenbildung mit dem ungleich reicheren (Stirnbildung, Backenknochen, Falten von der Nase aus u. s. w.) und weicheren Detail des »berühmten« Satyrs, so werden wir uns unbedenklich entschliessen dürfen, diesen in eine spätere Epoche von Praxiteles' Schaffen zu setzen.

Jenen einschenkenden Satyr, ein Werk, das die ganze Anmut praxitelischer Kunst, nur noch ein wenig gebunden und gehalten, zeigt, scheint der junge Praxiteles besonders geliebt zu haben. Ihm gilt ja wahrscheinlich die hübsche Geschichte, die Pausanias bei Erwähnung dieses Satyrs erzählt. Phryne, des Praxiteles Geliebte, bat ihn einst um das schönste seiner Werke. Er wollte ihr geben »was sich für einen Liebhaber schicke«, wollte aber nicht recht damit heraus, welches er für das schönste seiner Werke halte. Da greift Phryne zu einer List. Als der Künstler wieder einmal bei ihr weilt, läuft einer ihrer Sklaven herein und erzählt atemlos, Feuer sei ins Haus des Bildhauers gefallen, das Meiste seiner Arbeiten sei verloren, aber noch nicht alles. Da stürzt Praxiteles hinaus und ruft voll Verzweiflung: Alles ist verloren, wenn die Flammen auch den Satyr und den Eros ergriffen haben. Lächelnd heisst ihn Phryne bleiben und guten Mutes sein: Nichts sei geschehen, sie habe nur erlisten wollen, was er nicht freiwillig gesagt.

Wenn wir, mit anderen Gelehrten, an jener Stelle des Pausanias eine Lücke und eine kleine Ungenauigkeit in der Beschreibung des Motivs jenes Satyrs annehmen, so gewinnen wir die Kunde, dass dieses Werk in einem Tempel der Tripodenstrasse neben dem Dionysos und dem Eros eines andern Künstlers aufgestellt war.

Eros (Torso). Marmor. Rom, Vatikan

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