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aus: Die Freundschaft 1920, Nr. 43 (30. Oktober bis 5. November) S. 1–2
Der Urning und sein Recht
Der hochgelehrte, ehemals hannoversche Amtsassessor Karl Heinrich Ulrichs (1825 bis 1895) hat von 1864 bis 1879 zwölf Verteidigungschriften der mannmännlichen Geschlechtsliebe unter den auffälligen Titeln Vindex, Inclusa, Vindicta, Formatrix, Ara spei, Gladius furens, Memnon, Incubus, Argonauticus, Prometheus, Araxes und Kritische Pfeile, die fünf ersten unter dem Decknamen Numa Numantius, wie bekannt, erscheinen lassen. Alle diese noch heute hochaktuellen, aber äußerst selten gewordenen Schriften des charakterfesten und geistvollen Urnings wurden durch Dr. med. Magnus Hirschfeld unter dem Gesamttitel »Forschungen über das Rätsel der mannmännlichen Liebe«, 1898 bei Spohr in Leipzig, neu herausgegeben, leider mit vielen, nach Ansicht anderer rein willkürlichen und unangemessenen Veränderungen und Auslassungen. Neu dürfte sein, daß Ulrichs sich noch mit weiteren Plänen trug. Zeugnis dafür ist ein im Besitze eines Abonnenten unseres Blattes befindlicher erster Druckbogen seiner Schrift »Der Urning und sein Recht«, mit dem bezeichnenden Motto: »Rechtlos schuf die Natur Rechtlos schuf die Natur ...: Zitat aus Ulrichs Gedicht Der Weibling aus seinem Buch Auf Bienchens Flügeln. Ein Flug um den Erdball in Epigrammen und poetischen Bildern (1875) S. 121 f. nicht das geringste Geschöpf«. In diesem Aushängebogen, anscheinend dem einzigen, welcher die Presse verlassen hat, kündigt Ulrichs Seite 3 und 8 ein »nächstes besondres (historisches) Heft«, also das 14. seiner homoerotischen Schriften, an. Vermutlich verging nach dem Druck des ersten Bogens seiner 13. Schrift dem Verbitterten und von Nahrungssorgen Gequälten jäh alle Lust, der Menschheit weiter zu dienen. Gewiß aber würde er mit der druckvollendeten Schrift »Der Urning und sein Recht« uns die ausgereifteste und abgeklärteste Arbeit seines Lebens beschert haben. Jeder Satz dieses Bogens atmet echt Ulrichsschen Geist und die Lektüre erweckt den Eindruck, daß das Ganze fertig und aus einem Gusse war.
Der wahrscheinlich von 1879 oder Anfang 1880 stammende Torso enthält 19 Paragraphen der Abteilung I »Der Urning als Naturerscheinung«. Wir können uns nicht versagen, einige Sätze daraus hier wiederzugeben.
Aus § 2: In Wien und Berlin mit einer Bevölkerung von je 800 000 bis 1 000 000 Seelen leben je etwa 1200–1500 erwachsene Urninge. Meine früheren Angaben über die Verhältnisziffer der Urninge haben sich als zu gering erwiesen.
Aus § 4: Urningsliebe ist Natur ... Sie ist eine ursprüngliche Form des Naturtriebes, eine Form desselben, die bis in die Wurzel hinein echt und gesund ist. Eben darum beruht U(rnin)gsliebe auch nicht auf »Verkommenheit«, »verabscheuungswürdiger Sinnesart« oder »Verworfenheit des Charakters«, wovon die Schriften der Professoren über U(rnin)gsliebe wahrhaft wimmeln. Nämlich in unserem Jahrhundert. Im vorigen war es teilweise anders ... Eben darum beruht sie auch nicht auf geflissentlicher Abweichung von der Natur oder auf Auflehnung gegen ihre Gesetze. Der mannliebend geborne folgt gerade einem Gesetz der Natur, nämlich einem Naturgesetz, welchem sein Liebestrieb unterworfen ist. Einem Naturgesetz folgt er genau ebenso wie der weibliebend geborne. Eben darum beruht sie auch nicht auf Geistesstörung. – Auch fürchte niemand, sie sei ansteckend!
Aus § 7: Der Urning kann Weiber nicht lieben; das ist unabänderliches Naturgesetz. Das hat die schaffende Natur nun einmal so eingerichtet. (Es ist wirklich zu beklagen, daß nicht du die Welt erschaffen hast, lieber dionischer Leser. Nicht wahr? Du würdest das ohne Zweifel besser eingerichtet haben.) Der U(rnin)g ist nun einmal nicht für das weibliche Geschlecht geboren. Unter der Einwirkung des Liebestriebes steht er aber in gleicher Weise wie der weibliebend geborne. Dieser Einwirkung kann er sich auch eben so wenig entziehn wie dieser.
Aus § 12: Der Liebestrieb ist bekanntlich einer der heftigsten Naturtriebe, welche den lebenden Wesen überhaupt eingepflanzt sind. Nächst dem Triebe zu leben ist er vermutlich der heftigste von allen Trieben. Bei jedem gesunden Menschen, der zur vollen Geschlechtsreife gelangt ist, fordert die Gesundheit und das Wohlbefinden des Leibes und der Seele eine periodisch wiederholte Triebes-Befriedigung. Dies ist nichts mehr und nichts weniger als eine necessitas vitae (Lebensnotwendigkeit) ... Längere Nichtbefriedigung kann bedenkliche Folgen nach sich ziehn, führt jedenfalls die qualvollsten Seelenzustände herbei. Bei den gegenwärtigen Anschauungen über Geschlechtsliebe überhaupt und über U(rnin)gsliebe insbesondere kann dies gar nicht genug wiederholt und nicht stark genug betont werden. Gesundheit und Wohlbefinden fordern nicht maßlose Ausschweifungen. Davon reden wir nicht. Sie fordern aber einen Liebesgenuß, welcher wirkliche Befriedigung gewährt.
Aus § 19: Leider hat man bisher es verschmäht, über diese Punkte der Anthropologie Beobachtungen anzustellen. Aegyptische Hieroglyphen und persische Keilschrift haben sie entziffert und die kleinste versteinerte Muschel der Urwelt können sie klassifizieren und das Spektrum von Sirius und Vindemiatrix haben sie ergründet. Das Gebiet der menschlichen Geschlechtsnatur aber ist ihnen ein Land voll böhmischer Dörfer.
Ein Naturgesetz, von dessen Existenz man bisher keine Ahnung hatte, lautet:
Es besteht ein allmäliger Uebergang zwischen männlichem und weiblichem Liebestrieb.
Den Professoren unsres Jahrhunderts war es nicht wohl möglich, dies Naturgesetz zu entdecken. Wenn sie an dies Kapitel kamen, pflegten sie es so zu machen, wie im Mittelalter die juristischen Professoren zu Bologna, wenn sie im Corpus juris an eine griechische Konstitution stießen: »Graeca est, non legitur« sagten sie und damit wurden die griechischen Hieroglyphen überschlagen. Unsere Professoren sagten: »Es ist unlohnend und schauderhaft, die entarteten Triebe der menschlichen Natur kennen zu lernen« (Roßhirt). Die Mediziner sprachen meist ebenso wie dieser Jurist. –
»Der Urning und sein Recht«, das leider verlorene Geistesprodukt eines der wenigen Vorkämpfer unserer Bewegung und noch dazu eines Juristen, würde uns nach diesen Proben sicherlich vortreffliche geistige Waffen zu unserem bevorstehenden Kampfe dargeboten haben.