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Friedrich Forst eilte nun, noch vor Abschluß seines Urlaubes in der Kaserne anzulangen. Es stürmte und war eine finstere Nacht. Als er an der Thür der Kaserne angelangt war und seine Urlaubskarte hervorbrachte, merkte er, daß er auch die seines Freundes bei sich führte. Sie hatten sich nicht trennen wollen, und somit hatte der Eine beide Karten zu sich gesteckt. Wie sollte aber nun Tony in die Kaserne gelangen? Die Karte mußte bei dem wachhabenden Unteroffizier vorgezeigt und abgegeben werden. Bei dem Belagerungszustand, der über Berlin bestand, ward jede Verordnung doppelt streng eingehalten. Es war nur zu gewiß, Tony war da gewesen, da er aber keine Karte hatte vorzeigen können, war er zurückgeblieben und wartete, in der Nähe vielleicht, die Ankunft Friedrich's ab. Friedrich, ehe er eintrat, blieb [46] stehen und sah sich um. Die Lichter der Nachbarschaft waren schon erloschen; es war zehn Uhr. Länger konnte er selbst nicht zaudern. Er gab seine Karte ab und verfügte sich auf sein Zimmer, das zum Glück das Fenster der Straße zugekehrt hatte. Er konnte Tony kommen sehen und ihm die Karte zuwerfen. Er blieb also, obgleich er todtmüde war, am Fenster sitzen und spähete in die regnigte, pechrabenschwarze Nacht hinaus. Es kam kein Tony. Die Uhr schlug eilf – es kam kein Tony. Dem armen Friedrich fielen die Augen zu, er hielt sie mit Gewalt offen. – Jetzt regte sich etwas im Dunkeln vor der Pappelallee bei der Kaserne, der Posten am Gewehr rief dieses Etwas, das sich regte, an; Friedrich hielt schon die Karte bereit, da war es aber der Hund des benachbarten Fleischers. Tony kam nicht. Es wurde zwölf Uhr – kein Tony ließ sich sehen. Nun fühlte Friedrich keinen Schlaf mehr. Die Gefahr, in der der Freund schwebte, durch dieses Dienstvergehen herbei beschworen, raubte ihm jede Ruhe. Und wo konnte er sein? Anfangs hatte Friedrich sich die Lage des Kameraden so angenehm gedacht; in dunkler Nacht, in der Droschke, er und die schöne Unbekannte auf dem Rücksitze, eng beisammen, wie himmlisch konnte das sein! Wie tobte Friedrich, wenn er dachte, ihm hätte [47] dieses Glück blühen können! Aber die Droschke mußte doch irgendwo halten! Wo hatte sie gehalten? Und welchen Dienst hatte man dann von dem gefälligen Begleiter verlangt? Da lag es! Jetzt wurde Friedrich unruhig. Tony war in dem ganzen Bataillon der ordentlichste, pünktlichste Soldat, was den Dienst anbelangte; er hatte nie einen Verweis erhalten, nie eine Strafe. Bis auf die Hälfte einer Secunde konnte man auf ihn rechnen; eine solche Pünktlichkeit im Halten seines Wortes war noch gar nicht dagewesen. Die Obern führten ihn jederzeit als Beispiel und Muster auf. Und nun – blieb er zwei ganze Stunden über den Urlaub. Friedrich wurde es ganz kalt und wieder siedendheiß, wenn er sich diesen Umstand recht deutlich dachte. Jetzt fühlte er erst, wie er seinen Freund liebte. Selbst vor Friedericia, als sie sich beide, den Abend vor dem beabsichtigten Angriff, in der kleinen Schenke am See, ewige Brüderschaft, selbst im Tode, zutranken, hatte er so nicht für Tony gezittert, als er jetzt zitterte. Er wußte, wie gehässig die Stimmung eines Theils der Bewohner der belagerten Stadt gegen die Soldaten war, er wußte, daß man Pläne schmiedete, einzelne Wachtposten anzugreifen und meuchlings zu tödten; konnte nicht Tony dies Loos getroffen haben? [48] Die schöne Dame – der Himmel weiß, welch einem Abenteuer sie nachging, und was sie mit ihrem Begleiter vor hatte. Weshalb, wenn ihre Wege offenkundige, gute Wege waren, weshalb hatte sie sich ausdrücklich die Begleitung des Zweiten verbeten? Gewiß, weil sie glauben konnte, daß ihre Helfershelfer mit Einem schneller fertig werden würden.
Der Pommer zitterte vor Wuth. Man mordete seinen liebsten Bruder, sein anderes Herz, und er saß da und konnte nichts für ihn thun.
Da klang durch die Nacht eine leise Stimme: »Friedrich!«
»Um Gotteswillen, Tony!«
»Ich bin's. Still, daß der Posten uns nicht hört. Die Karte!«
Aber der Posten hatte es schon gehört, und ehe Friedrich die Karte hinabwerfen konnte, so sicher und mit einem Stück Papier umwickelt, daß sie in der Dunkelheit leuchtete, war Tony schon verschwunden und in der Finsterniß keine Maus mehr zu sehen. Der Nachtwind flüsterte in den Pappeln, der Regen schlug an die Scheiben des Fensters.
»Gott sei Dank, er lebt!« rief der Pommer. Es fuhr ein Gedanke wie ein Blitz ihm durch den Sinn. Der Gedanke lautete: Tony darf keine Strafe [49] leiden. Er ist Neuschateller, er ist ehrgeizig! Es würde sein Tod sein!
Er drehte die Karte in seinen Händen.
Es war halb ein Uhr. – Der Unteroffizier pflegt öfters einzunicken – sagte Friedrich. Er bog sich weit aus dem Fenster. Der Schein aus der Wachtstube unten warf nur einen matten Glanz auf die Pfähle, an denen die Schützen ihre Büchsen aufstellen. Das Licht brennt trübe, sagte Friedrich – er nickt – sicherlich, er nickt. Er liest in dem Dienstreglement, und das Dienstreglement – das ist eine Lektüre, bei der selbst der Teufel sich nicht wach zu erhalten versteht.
Es geht! – es muß gehen!
Und damit schleicht Friedrich die Treppe hinab, die Karte Tony's in der Hand. Er öffnet leise die Thür mit dem kleinen Glasschiebfenster, nachdem er erst durch dasselbe zu lauschen versucht, aber den kleinen Vorhang vorgezogen gefunden hat.
Friedrich ist seelenvergnügt. Der Unteroffizier nickt wirklich. Vor ihm auf dem Tische liegen die abgelieferten Karten. Friedrich erkennt schon von weitem die seinige. Er schleicht heran an den Tisch, er schleicht an dem Tische vorbei, er schleicht um den Tisch herum – alles scheinbar ohne Zweck, aber als [50] er fortgeht, liegt statt seiner, Tony's Karte auf dem Tische. Keine menschliche Seele hat etwas gemerkt. In fünf Sätzen ist Friedrich die Treppe wieder hinauf und in dem Zimmer.
Das Werk ist vollbracht, Tony's Ehre gerettet!
Am frühen Morgen, als die Kaserne wach wird, ist er der erste, der heimlich herausschlüpft. Er findet Tony, der ihn trübselig grüßt. Aber Friedrich ist die Lustigkeit selbst. Wie er wieder in die Kaserne geht, giebt er seine Karte ab. Der Unteroffizier hat sich jetzt an seiner Lektüre erholt und ist vollkommen munter. »Wie ist mir,« sagt er, »hab ich nicht Ihre Karte gestern Abend in der Hand gehabt.«
»Unmöglich, Herr Unteroffizier.«
»Freilich, unmöglich! da Sie sie mir jetzt erst bringen. Also die ganze Nacht fortgewesen! Sakrament! und wir leben im Belagerungszustande! Daß Dich!« –
Friedrich neigte das Haupt und nahm eine bußfertige Miene an.
Auf dem Appell verkündete der Unteroffizier die Strafen. »Zehn Tage strengen Arrest's für Friedrich Forst!« lautete es. Tony hörte von alledem nichts, er hatte sich krank gemeldet, und lag mit heftigem Kopfweh fast bewußtlos auf dem Bette. Als [51] zwei Schützen vortraten, und Friedrich, der seine Waffen hatte abgeben müssen, in ihre Mitte nahmen, um ihn zum Arrestlokal abzuführen, wo lange, schlimme Wachen bei Wasser und Brot, und in einem dunklen, kleinen Gelaß seiner warteten, empfand er nichts von dem Opfer, das der Freund ihm brachte. Friedrich warf aber einen Blick hinauf und sagte zu sich selbst: Der Neuschateller kann ruhig schlafen.