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Es war einer von den Abenden, wo die Pförtnerin unmöglich – und wenn man ihr eine »Million« geboten hätte, allein in ihrer rechts von der Treppe angebrachten, geräumigen und selbst eleganten Loge hätte bleiben wollen. Es stürmte wieder »so sonderbar.« Es war dies kein gewöhnlicher Sturm, wie er hundertmal im Jahre kommt und wieder geht, ohne daß man sich irgendwie zu bekümmern braucht, wo er herkommt und wo er hingeht. Bei gewissen Stürmen, in gewissen Nächten, wie die Pförtnerin behauptete, war es etwas anderes. Seitdem es in Berlin eine Revolution gegeben hatte, seitdem gab es auch eine gewisse Gattung Stürme, und nächtliche Regengüsse, die in ihrem Gefolge Klagelaute mit sich führten, welche man in bisherigen ruhigen Zeiten nie vernommen zu haben sich besinnen [63] konnte. Diese Stürme kamen von der Seite des Friedrichshain her, und was sie auffingen, während sie über Gott weiß was für Gräber und Hügel hinstrichen, das erzählten sie nun der Stadt wieder, und waren, wie plauderhafte alte Männer, unerschöpflich in ihren Mittheilungen.
Es war der Pförtnerin daher unbeschreiblich lieb, als um neun Uhr der Finger der Krankenfrau Nro. 9. an die Thür der Loge pochte.
Sie zündete geschwind noch eine Kerze an, und brachte einige Reste des Abendbrotes in eine gefällige Ordnung, indem sie zugleich nach einer Liqueurflasche, die ihren Weg auf eine unbegreifliche Weise aus dem Vorrathsschranke, mit der Aufschrift »für augenblickliche Bedürfnisse der Kranken« hieher gefunden hatte.
Der Wind hatte eben eine so pfeifende, melancholische Tonart angenommen, er war sichtlich so erpicht, auf diese Weise zu beharren, daß die beiden Frauen die Köpfe schüttelten und während sie sich ansahen, ausrufen mußten: » Das ist der Wind!«
»Ja, das ist der Wind!« wiederholte die Pförtnerin. »Belzig, ich kenne ihn! er fährt mit lauter abgeschälten Gerippen und mit lauter hängenden Grabtüchern über unser Dach. Er bringt eine Menge kleiner Kinder mit, die durch die Wolken wimmern, [64] und sich an die goldenen Knöpfe unserer Thurmspitzen festsetzen, fest überzeugt, es seien die Brüste ihrer Mütter. Ich kenne das! Wenn dieser Wind pfeift, so ist dieses Haus der verwünschteste Aufenthalt, den eine christliche Seele sich denken kann.«
»So ist's,« sagte Nro. 9.
»Draußen in der Stadt,« hub die Pförtnerin an, »ist's jetzt vor lauter Behaglichkeit fast nicht auszuhalten. Alles sitzt ganz nah beisammen, und wenn man Jemanden aufsuchen will, so findet man ihn, wenn man über die Straße geht. Aber hier! – Wo ist hier die nächste Straße?« –
»Meilenweit entfernt!«
»Ja, meilenweit!« Beide Frauen seufzten. Die Liqueurflasche erschien auf dem Tische, gerade mitten unter den Butterschnitten mit Käse belegt, und den Kuchenresten. Das Erscheinen der Flasche unter dieser Umgebung machte unleugbar einen sehr günstigen Eindruck.
»Das von den Kindern!« hub Nro. 9. an, seufzend und die Augen verdrehend, »hätten Sie doch nicht sagen sollen, liebste Plümecke. Wie sie an den goldenen Knöpfen am Giebel saugen! Es ist ein zu angreifender Gedanke! Wenn ich mir vorstellen thu', daß meine lieben Kleinen« –
[65] »I, Belzig, wer hat denn von Ihren lieben Engelchen gesprochen! Thun Sie mir so einen grausamen Schmerz nicht an, daß Sie nur eine solche Indelikatesse zumuthen.«
»Ich wäre nicht hierher gekommen,« sagte Nro. 9., »wäre mein lieber Mann nicht mit meinen lieben fünf Engelchen in den Himmel gegangen. So bleib' ich allein zurück, eine einsame Wittwe.«
»Und was bin denn ich?« seufzte die Pförtnerin, »bin ich etwa etwas anderes als eine Wittwe?«
Wieder stürmte es so melancholisch und pfiff dabei so höhnisch, und die Liqueurflasche machte den Sprung von einem Glase zum andern.
»Es kommt heute Niemand!« hub Nro. 9. an, die ihre Erinnerungen gewaltsam bekämpfte.
»Wer weiß,« entgegnete ihre Freundin. »Seitdem die Charité sich anmaßt ihre Kranken uns aufbürden zu wollen, seitdem hat unsere Oberin noch oft spät in der Nacht Besuch.«
»Die Charité sollte sich schämen. So ein alltägliches, gewöhnliches Krankenhaus ohne Mechanismus und perfekte Maschinengeschwindigkeit; das will mit uns rivalisiren!«
»Ich will Ihnen sagen, Belzig, das mit unsern Maschinen geht auch nicht mit rechten Dingen zu.«
[66] »I, Plümecke! Es sind ja ganz ordentliche, christliche Maschinen.«
»Nun, es wird einmal an's Tageslicht kommen, was sie sind,« erwiederte die Pförtnerin.
»Gott steh' mir bei,« seufzte Nro. 9.
»Ich will Ihnen sagen, Belzig, wenn ich so manches Mal Nachts – spät, spät –noch wach bin, und die Oberin mir befohlen hat, auf irgend etwas Acht zu geben, und wenn dann das ganze Haus schläft bis auf die recht schweren Kranken, die nie schlafen, so höre ich, wie die Maschinen mit einander verkehren. Da geht's im ganzen Hause, von oben bis unten, und oben im Dachgiebel spricht's, und unten im Keller antwortet es. Was sie reden, versteh' ich nicht, aber es ist etwas über uns, über dieses Haus, über die Kranken und ihre Wärter und Wärterinnen. Daß es nichts Gutes ist, darauf will ich meinen armen Kopf verwetten. Schon als der erste Dampfwagen entstand, sagte meine selige Mutter zu mir: gieb Acht, Trude, die Canaille mit der pruhstenden Schnauze fällt noch einmal über uns her und frißt uns auf. Das war nur beispielsweise geredet, aber etwas Wahres ist daran. Warum werden denn die Kranken bei uns nie gesund? Die Maschinen wollen's nicht. Warum müssen wir Tag [67] und Nacht beten? Weil die Maschinen eben so viel Teufel sind, die uns zu Leibe gehen würden, wenn wir nicht jede Secunde am Tage auf unsrer Hut wären. Ich sage Ihnen, Belzig, es geht nicht mit rechten Dingen zu, daß ein Kübel mit schmutziger Wäsche sich im Nu selbst wäscht, selbst trocknet, selbst aufhängt, und dann sich selbst in die gehörigen Falten legt! Das ist noch nie dagewesen. Sie sagen freilich immer, das ist der ungeheure Fortschritt, die nicht auszusprechende Wissenschaft, – nun ich habe in stillen Nächten so meine Gedanken für mich.«
»Gott, Plümecke, es sind doch nicht die Gedanken mit den unschuldigen Kinderkens, die an den Goldpappeln saugen? Nur das nicht, Plümecke, nur das nicht!« –
»Nein, das ist's nicht,« entgegnete die Pförtnerin tröstend.
Während dieses Gesprächs unten in der Portierloge, ging oben im prächtigen Betsaal, mit den Fenstern von farbigen Glasgemälden die Oberin langsam und ebenfalls den Einflüssen der Einsamkeit und Langeweile ausgesetzt, auf und ab. Sie hatte ihre hohe, schlanke Gestalt in einen kleinen Pelz gehüllt, der in Art eines fürstlichen Hermelinmantels zugeschnitten war, und um ihre Hüften mit [68] einer gewissen vornehmen Eleganz paßte. Alles an dieser Dame, die ihr dreißigstes Jahr noch nicht erreicht hatte, war Vornehmheit, Würde und jene graziöse Demuth und Frömmigkeit, die einer schönen Frau so wohl kleidet.
Auch sie hörte auf das eigenthümliche Tönen des Sturmwindes, wie er das einsame, ungeheure Gebäude umbrauste.
Auch sie dachte an vergangene Zeiten und Menschen – aber sie hatte nicht viel Erinnerungen, und unter diesen wenigen befanden sich nur ein paar angenehme, die andern waren alle gleichgültig – o, wie gleichgültig!
Die einsame Dame blieb vor einem Spiegel stehen und ordnete die Falten des Hermelins.
Dann setzte sie ihren einförmigen Gang fort über das Getäfel des kostbaren Parkets.
Sie hörte einen frommen Gesang aus der Tiefe der untern Gemächer tönen, allein der fromme Choral beschäftigte sie nicht im mindesten. Starb vielleicht in diesem Augenblick Einer der Vielen, die sich unter ihrem Schutze befanden? Es war möglich; alsdann erwartete sie mit Ruhe die Meldung der dienstthuenden Diaconissin. Der Fall kam so oft vor, weshalb sollte sie ihm auch nur einen flüchtigen [69] Gedanken, auch nur das kleinste Theilchen eines Gedankens, eines Traumes opfern? Was ging der Sterbende sie an? Es hatte wieder eine Uhr ausgeschlagen in diesem Hause, wo schon – obgleich es erst so kurze Zeit stand – so viele »letzte Minuten« gezählt worden waren. Was war es weiter?
Sie aber war zu ewiger Einsamkeit verurtheilt. Das war noch viel schlimmer wie der Tod.
Sie stand einen Augenblick still und horchte, ob nicht an der Klingel des Hauses gezogen würde. Allein es war nur eine wunderliche musikalische Laune des Windes, der in diesem Augenblicke den schrillenden Ton der Hausglocke nachahmte, wie er in dem nächsten Augenblicke das Lachen eines Kindes, den Seufzer einer frohen Braut, das Röcheln des Sterbenden nachahmte.
Aber jetzt!?
Eine Unzahl von Klingeln wurde plötzlich im Hause geschäftig. Eine Verwirrung von Klingelstimmen, gleichsam ein Babel aus lauter kleinen Eisenkehlen. Die Klingel der Pförtnerin, die Klingel der obersten Diaconissin, die Klingel des Aufsehers, die private und intime Klingel der Kammerfrau der Oberin, die da anzeigte, daß die Klingel der Pförtnerin ihr pflichtschuldigst gerufen habe. In dieser [70] tiefen Einsamkeit die vielen geschwätzigen Metallzungen, – es hatte etwas die Phantasie Anregendes und Beschäftigendes!
»Man kommt! Diesmal ist es nicht der Wind,« sagte die Oberin, und nochmals blieb sie vor dem Spiegel stehen und ordnete den Hermelinmantel. Wie sie so dastand und ihr Bild im Spiegel betrachtete, dieses schöne, prachtvolle, graziöse Bild, erschien sie sich selbst als eine jener gottseligen und schönen Fürstinnen des Mittelalters, die frommen Stiftungen vorstehen und den Dank »glücklicher Armen« huldvoll in Empfang nehmen. In diesem Augenblicke empfand sie keine Langeweile.
Sie setzte sich auf einen Stuhl mit hoher, mittelalterlicher Lehne und wartete, daß man eintrete. Es dauerte auch nicht lange, so erschien die Pförtnerin, gefolgt von der diensthabenden Diaconissin. Beide blieben an der Thüre und machten Verbeugungen, die die Oberin, ohne sich von ihrem Sitze zu erheben, mit einem leichten Kopfnicken erwiederte. Die Diaconissin ging nun eilig vor, um der Pförtnerin das Wort abzuschneiden; allein so wie die Pförtnerin diese Absicht der Diaconissin merkte, schoß sie wie ein Pfeil auf den Stuhl der Oberin zu, indem sie rief: »Wieder mal ein Streich von der [71] Charité, Gnädige; was hab' ich gesagt, sie wird es auf's Aeußerste treiben, die Charité; aber wir wollen alle verloren sein, wenn wir ein Haarbreit weichen.«
Die Diaconissin hatte jetzt den Vorsprung gewonnen, und stürzte sich geradezu, um jeden ferneren Wettlauf unmöglich zu machen, auf das Ohr der Oberin.
Die Oberin befahl der Pförtnerin, an ihren Posten zurückzukehren.
Jetzt erschienen noch zwei Aufseherinnen.
Die Oberin hatte die Meldung der Diaconissin in Empfang genommen. Ein kleines, halb verachtendes, halb bemitleidendes Zucken der Oberlippe zeigte, wie unangenehm sie gerade ein solcher Fall berührte. »Ist die Person sehr leidend?« fragte sie.
»O, nicht so sehr, daß man sie nicht anderswo hinschaffen könnte.«
»So weisen Sie sie ab. Unsere Zimmer sind besetzt. Ich kann nicht sagen, wie widerwärtig mir gerade diese Geschöpfe sind, die das Magdalenenstift, um sich in gutem Ansehen bei hohen Personen zu erhalten, nur seit einiger Zeit in großer Anzahl zusendet.«
Die Diaconissin stimmte bei, denn sie lebte mit [72] dem Magdalenenstift ebenso auf gespanntem Fuße, wie die Pförtnerin mit der Charité. Als sie kaum den Saal verlassen hatte, erschien sie wieder und meldete, mit einer lebhaften Zornesröthe auf den runden Wangen, daß die Kranke bereits in das erste Empfangszimmer gebracht sei.
»Wie! ohne meinen Befehl abzuwarten?« rief die Oberin, und erhob sich aus dem Stuhl und stützte die Rechte auf die Lehne desselben. Die Stellung war imponirend und graziös zugleich. Eine ehrfurchtsvolle Pause unter den Zuschauern dieser Scene entstand, dann hörte man sechs keifende Stimmen auf einmal ertönen auf der Treppe. Die Thür sprang auf und die Pförtnerin fuhr wie eine Tigerkatze herein und nun gleich mit einem grenzenlosen Muthe auf das Ohr der Oberin zu, an welchem Posten sich die Diaconissin wie eine unbestechliche Wache aufgestellt hatte.
»Ich weiß – ich weiß!« rief die Oberin abwehrend. »Die Kranke soll sogleich wieder fort.«
»Es ist himmelschreiend!« rief die Pförtnerin. »Welche Frechheit von der Charité!«
»Welch' eine Unverschämtheit von dem Magdalenenstifte!« rief die Diaconissin.
In diesem Augenblicke trat Tony Wickye mit [73] seiner jungen Begleiterin ein. Hierdurch wurde die Scene bedeutend verändert. Die Oberin verließ ihre imposante Stellung und eilte auf die Eintretende zu. »Theure Gräfin!« rief sie. »Welch' ein erfreulicher Besuch! Welchem Umstand Hab' ich's zu danken, Sie noch so spät bei mir zu sehen! –
»Ich bin es, die Ihnen die Kranke zuführt.«
»Sie?« – Auf einen Wink der Oberin verließen die erstaunten Gehülfinnen den Saal; aber sie blieben alle dicht hinter der Thüre stehen, um den Ausgang dieser Unterredung abzuwarten. »Das ist etwas anderes. Ich hatte den Befehl gegeben, die Kranke abzuweisen. Allein es versteht sich von selbst, daß sie jetzt bleibt.« Sie zog an der Klingel, und die kaum Fortgeschickten traten jetzt eilig wieder in den Saal. Die Oberin gab den Befehl, die neuangekommene Kranke solle sogleich mit der größten Vorsicht in die dazu bestimmten Räume gebracht und dem Oberarzte des Hauses eine sofortige Meldung gemacht werden. Mit einer Miene holdseliger Gefälligkeit, die dem sonst so stolzen und harten Gesichte sehr gut kleidete, wandte sie sich wieder zu der Gräfin und sagte: »Hab' ich's recht gemacht? Aber darf ich fragen, wer die Kranke ist, die das Glück hat, daß Sie sich für sie interessiren?«
[74] Die beiden Frauen wechselten einen Blick, und sogleich glitt das Auge der Oberin auf Wickye, der in der Nähe der Thüre stehen geblieben.
»Ich vermuthe,« hub die Gräfin auf Französisch an, »daß die Arme ein Opfer grausamer Frivolität geworden. Meine Nachforschungen sind gerade so weit gediehen, um mir die nöthige Gewißheit verschafft zu haben, daß die Unglückliche von ihrer Seite nicht schuldig ist.«
»Das genügt,« entgegnete die Oberin. »Ist sie ein Opfer, und zwar ein schuldloses, so ist sie unseres ganzen Mitleids werth. Aber Sie wissen selbst, Gräfin, die Welt ist so schlimm, und die rettende und helfende Hand wird oft mit der empörendsten Kälte zurückgestoßen. Man wird müde zu helfen, wenn man nach keiner Seite hin einen Lohn voraussieht. Wie ist der Name der Unglücklichen?«
»Lotte Werner.«
Die Oberin ging zu einem Täfelchen und schrieb den Namen auf; sie setzte ihn gleichgültig unter so viele andere Namen, die in dem Augenblicke, wo der Griffel bei Seite gelegt wurde, auch ihrem Gedächtnisse schon wieder entschlüpft waren. In dem Buche des Lebens und des Todes, in dem Buche [75] der ewigen Allmacht standen aber mit Flammenzügen auch diese Namen.
Die Diaconissin erschien nochmals und meldete, daß der Begleiter der Kranken sich durchaus weigere, das vorschriftsmäßige Gebet zu thun, und daß dieser Umstand bereits einen kleinen Auflauf von Neugierigen veranlaßt habe.
»Es ist bei uns Sitte,« erklärte die Oberin zur Gräfin gewendet, »daß die Angehörigen der Kranken, wenn sie diese überbringen, an dem Lager eine Fürbitte thun, und die Darniederliegenden der Allmacht und Vorsorge Gottes empfehlen.« –
»Ich werde hinabgehen und hören, warum dies nicht geschieht!« entgegnete die Gräfin. Tony Wickye näherte sich bei diesen Worten wieder. Seine Mienen drückten eine größere Ehrfurcht aus, aber, wer dieses offene und schöne Gesicht in diesem Augenblicke beobachtet hätte, wäre überrascht worden, daß die Innigkeit und die jugendliche Glut, die noch vor wenig Minuten aus den dunkeln Augen des jungen Schweizers geleuchtet hatte, jetzt daraus verschwunden war. Er hatte, da er natürlich vortrefflich Französisch verstand, den wahren Stand der Dame vernommen, und es hatte ihn gekränkt, daß sie daraus ein Geheimniß hatte machen wollen. [76] Sein Stolz fühlte sich beleidigt. Vielleicht war er nicht würdig befunden worden, der Begleiter einer Dame von Stande zu sein.
Aber die Art und Weise, wie jetzt die Gräfin ihren Arm in den seinigen legte, indem sie sich die Treppe hinunterführen ließ, überzeugte ihn, daß von ihrer Seite nicht die mindeste Aenderung in ihrem Betragen stattgefunden.
Unten im Vorsaal stand Robert Werner, die Hände in die Taschen der Seite gesteckt, den verdrückten Hut auf dem Kopfe, die Blicke wild um sich werfend und den Kreis der erschreckten Frauen und der wenigen Männer, die sich weiter in den Hintergrund zurückhielten, musternd.
»Beten! Beten soll ich!« rief die tiefe, drohende Stimme, »und zu wem? Ich weiß, daß im Himmel Keiner ist, der uns hilft, so wie auf Erden sich bis jetzt hat Keiner finden lassen. Wir Burschen – sind auf uns selbst und unsere Fäuste angewiesen. Ich bete nicht – ei, ich wüßte nicht wozu! Die Welt ist anders geworden und wird bald noch viel anders werden. Paßt mal auf. Durch Gebet bringt man's nicht dahin, aber durch die Fäuste! Das haben uns die feingekleideten Herren gesagt, die vor [77] einem Jahr hinauskamen zu uns auf die Arbeitsplätze, und sie haben Recht. Die Welt ist anders geworden und wird bald noch viel anders werden. Gebt mir einen Schluck Branntwein! – Ihr wollt nicht? – Nu, laßt's bleiben! Wir sind Narren, daß wir Euch noch viel fragen. Die Herren, die zu uns hinausgekommen sind auf die Arbeitsplätze, haben gesagt: Wartet nur noch ein Weilchen, wir wollen sehen, ob wir auf unsere Manier durchdringen, geht's nicht, so geben wir das Zeichen, und dann nehmt offen weg, was Euch gefällt, denn Ihr seid die Stärkern. – Nun, das Zeichen wird bald gegeben werden! – Bis dahin – die Fäuste in den Taschen!« –
Niemand erwiederte auf diese Rede etwas; Niemand bezeigte Lust, sich auf einen Streit über eine Art Tagesphilosophie einzulassen, deren Thesen etwas für das Ohr des Volkes schon fast Gewohntes geworden waren. Man hatte diese Sprache seit den Märztagen gehört, den ganzen Sommer hindurch, und einen Theil des Herbstes und Winters. Sie hatte seitdem nichts von ihrer Schärfe und ihrer wilden Betonung verloren, allein sie verbreitete keinen Schrecken mehr. Die Revolution fing an sich abzunutzen. Aber gerade dadurch, daß man sich an [78] sie gewöhnte, schläferte sie die Wachsamkeit der Behörden ein und wurde gefährlich.
Der Oberarzt, begleitet von einem imposanten Gefolge von drei Hebammen und einer Windelfrau, erschien, und begab sich in das Krankenzimmer. Die Menge stob auseinander und entfernte sich schleunigst. Die Gräfin und Tony Wickye sahen sich nach Frau Wiesentrost um. Sie kam eben aus der Loge der Pförtnerin.
Der Sprecher, der sich plötzlich verlassen sah, schritt mit einer Miene roher Gleichgültigkeit an der Thür des Zimmers vorbei, aus dem Klagelaute hervortönten, und wo der Arzt eben beschäftigt war. Er rief, sich zur Thür hinbeugend: »Beten werde ich nicht, aber ich verschreibe Deine Seele dem Teufel, Mädchen! Geh' voran und mach' Quartier für Deinen Schatz und seine Freunde, die wir mit Nächstem nachsenden wollen. Es kommt die Zeit, wo wir aufräumen!«
Schaudernd schloß sich die Gräfin näher an die Seite ihres Beschützers.
Wie konnte Tony Wickye jetzt darauf antragen, daß man ihn entlasse! Er mußte die beiden Frauen nach Hause geleiten. Es war gar nicht anders denkbar.
[79] An einem Hause unter den Linden hielt die Droschke zum letzten Male. Tony Wickye hatte der Dame seinen Namen nennen müssen. Von den vielen verwirrenden Ereignissen dieser Nacht fühlte sich der Schütze, dessen Organisation nicht die stärkste war, heftig angegriffen.