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Fünftes Kapitel

Auf der Wohnungssuche

Lilli fuhr heute nicht wie sonst unmittelbar nach Büroschluß heim. Ilse Gerhard, die zweimal in der Woche Nachmittagsdienst im Röntgenlaboratorium hatte, wollte sie aus dem Büro abholen, um endlich die Wohnungsfrage zu erledigen. Die Zeit drängte, und Herr Vorbrodt, der sich alle Wochen mindestens einmal davon überzeugte, daß »seine« Villa am Wannsee auch noch auf demselben Platz stand, ja, Herr Vorbrodt drängte noch viel mehr. Der hätte lieber heute als morgen seinen Einzug dort gehalten. Er jammerte über das schöne, warme Maienwetter, das sie noch nicht draußen ausnutzen konnten, und über den diesjährigen reichen Spargelertrag des Gartens, dessen sie verlustig gingen. Ja, er betrachtete es als einen Eingriff in seine Rechte, daß die Gerhardsche Köchin die unreifen Stachelbeeren einkochte und auf jede Erdbeerblüte, die frühzeitig angesetzt hatte, blickte er mißbilligend. Bis Hildegardchen, Robertchen, Ellichen und Cäsarchen ihre Streifzüge in die Erdbeergefilde unternehmen konnten, waren sie gewiß längst abgeerntet. Ganz im Ernst hatte er den Gerhardschen Damen den Vorschlag gemacht, des schönen Wetters wegen schon im Mai mit seiner Familie zu übersiedeln. Er wollte ihnen sogar für die sechs Wochen, trotzdem er das bei der Höhe der Kaufsumme doch eigentlich gar nicht nötig hatte, eine Mietsentschädigung zahlen. Als er dann merkte, daß die Damen diesem Plan durchaus ablehnend gegenüberstanden, schlug er freundschaftlichst vor, die Villa bis zum ersten Juli gemeinsam zu bewohnen. Man würde sich schon vertragen, sie waren ja umgängliche Leute. Es würde sich alles sehr gut machen lassen. Und außerdem hätte Frau Gerhard an den lieben Kinderchen noch etwas Zerstreuung.

Doch Frau Gerhard verzichtete auf die ihr freundlichst zugedachte Zerstreuung und zog es vor, die paar Wochen, die ihr noch in ihrem schönen Heim vergönnt waren, in gewohnter Stille allein mit ihrer Tochter zu verbringen. Herr Vorbrodt war nicht nachtragend. Trotz der Abweisung kam er regelmäßig heraus, um sich, wie er sagte, mal wieder einen Strauß von »seinem« Flieder zu schneiden. Denn eigener Flieder röche doch ganz anders wie der gekaufte.

Ilse hatte bei seinem Erscheinen jedesmal dasselbe beklemmende Gefühl wie in ihren Kindertagen, wenn sie sich vor dem schwarzen Mann gefürchtet hatte. Schien die Sonne noch so golden, blühte und duftete es im Garten noch so lenzfreudig, sobald Herrn Vorbrodts feistes Bäuchlein in der weißen Piquetweste, auf der die schwergoldene Uhrkette bei jedem seiner Schritte gewichtig hin und her baumelte, zwischen den Rot- und Schlehdornbüschen auftauchte, erschien Ilse alles plötzlich düster, häßlich und grau. Die Sorge, wohin die Mutter und sie ihre Schritte lenken sollten, wenn Herr Vorbrodt endgültig hier seinen Einzug halten würde, stand dann wieder plötzlich riesengroß vor ihr.

Denn es war schwer, eine passende Wohnung zu bekommen. Lillis Luftschlösser von inniger Nachbarschaft waren in nichts zerflossen. Weder in Schlachtensee noch in dem benachbarten Zehlendorf war eine in Frage kommende Wohnung ausfindig zu machen. Die Bautätigkeit, die in den westlichen Vororten Berlins besonders lebhaft gewesen war, hatte während der Kriegsjahre vollständig geruht. Daher begann sich allenthalben Wohnungsmangel bemerkbar zu machen. Mit der vergrößerten Nachfrage stiegen natürlich die Mietspreise. Die Summe, welche Gerhards künftig als Wohnungsmiete aussetzen durften, erreichte nicht die Höhe des augenblicklichen Durchschnittspreises für eine bessere Vierzimmerwohnung. Denn unkomfortabel sollte es doch die Mutter nicht haben; Warmwasserversorgung, Zentralheizung und elektrisches Licht sollte sie nicht entbehren müssen. Und ein Balkon oder ein hübsches Gärtchen erschien Ilse ebenso notwendig. Ihr hatte eine freundliche Etage in einem kleinen Landhaus vorgeschwebt; nach dieser suchte sie in Friedenau, in Steglitz, in Lichterfelde und in Schmargendorf. Umsonst, es wollte sich nichts Passendes finden, trotzdem Lilli der Freundin getreulich beim Aufstöbern vermietbarer Wohnungen half. Ludwig, der bei weitem praktischere von den Zwillingen, hatte vorgeschlagen, eine Annonce in die Zeitung zu setzen. Wirklich waren verschiedene Angebote daraufhin eingelaufen. Heute nachmittag nun wollte Lilli nach Büroschluß mit Ilse Gerhard die angebotenen Wohnungen in Augenschein nehmen.

»Tag, Fräulein Beamtin – pünktlich auf die Minute. Nun wollen wir mal unser Heil versuchen – ach, du, ich habe nicht viel Hoffnung.«

Ilse Gerhards Gesicht schien in den letzten Wochen schmaler geworden zu sein. Die Tätigkeit und Verantwortlichkeit als Röntgenlaborantin waren wohl recht anstrengend. Oder trug der Druck, welcher der bevorstehenden Veränderung wegen auf ihr lastete, noch mehr Schuld an Ilses blassem Aussehen?

Arm in Arm ging es nun am Spreeufer entlang nach der zunächst gelegenen Adresse. Ilse hatte in ihrem Wohnungsgesuch eine freundliche Vierzimmerwohnung möglichst im Grünen verlangt. Als die Freundinnen jetzt vor dem Hause Krausnickstraße 19 standen, schauten sie sich betreten an. Die Straße war alt, die Häuser sahen baufällig aus. Kein grüner Baum in der Nähe, kein Balkon weder vorn noch hinten zu sehen.

»Hier möchte ich am liebsten gar nicht erst hinaufgehen,« meinte Ilse enttäuscht. »Sieh nur den dunklen Aufgang, die unsaubere Treppe. Kannst du dir meine Mama in solcher Umgebung vorstellen?«

»Nein, freilich nicht.« Lilli dachte an die weiße Marmortreppe mit den roten Plüschläufern, an die zarte, meist in lichte, fließende Gewänder gekleidete, elegante Frauengestalt. »Aber Ilschen, allzuviele Angebote habt ihr nicht auf eure Annonce bekommen. Wenn wir gleich von der ersten Wohnung Abstand nehmen, ohne sie überhaupt nur gesehen zu haben, werden wir nicht viel erreichen,« gab sie als praktischer Denkende zu erwägen.

So begannen sie die schlecht gehaltene Treppe emporzusteigen. »Meldungen bei Frau Schmidthannes,« hatte in dem eingegangenen Brief, der die betreffende Wohnung als allen Wünschen entsprechend schilderte, gestanden. Keines der Porzellan- und Messingschilder wies den gesuchten Namen auf.

»Ilse, ich bin bereits auf dem Boden,« rief Lilli übermütig, die vorangeeilt war.

»Ich glaube bereits, nächstens im Himmel zu sein, aber nicht im siebenten,« gab Ilse herzklopfend zurück.

»Schade, daß wir uns nicht gleich ein Retourbillett genommen haben.« Lilli war jetzt wieder bei bester Laune. Sie traten den Rückweg an.

Im Hausflur peitschten ein paar Kinder den Kreisel.

»Kennt ihr hier im Hause eine Frau Schmidthannes?« wandten sich die jungen Damen an die Kleinen.

Das Mädel steckte blöde den Zeigefinger in den Mund. Der größere Junge aber rief dreist: »Sie halten mir woll für dämlich, daß ich Muttern nich kennen soll« – rief's und lief fort auf die Straße.

»Bengel« – wie der Wind war Lilli hinter ihm her. Aber der, in der nicht ganz falschen Meinung, es solle für seine unhöfliche Antwort etwas setzen, gab Fersengeld und jagte die Straße hinunter.

Inzwischen hatte Ilse sich mit dem blöden, kleinen Mädchen angefreundet. »Wo wohnt Frau Schmidthannes?«

Verlegenes Kauen am Zöpfchen war die Antwort.

»Führe uns mal zu deiner Mutter,« schlug Lilli vor, in der Annahme, daß der Junge und das Mädel Geschwister wären.

Das Kind stieg gehorsam die Treppe voran, die Freundinnen hinterdrein. Bis ins vierte Stockwerk ging's wieder hinauf. Ilse, die etwas bleichsüchtig war, fühlte ihr Herz bis in den Hals hinein schlagen.

Das Kind riß an der Klingel.

Eine schlampige Frau mit unfrisiertem Kopf öffnete.

»Jöre, was kläterste denn schon wieder,« rief sie unwillig beim Anblick des Kindes.

Das wies eingeschüchtert auf die fremden jungen Mädchen.

»Sind Sie Frau Schmidthannes?« nahm Lilli jetzt das Wort.

»Ne – die wohnt Quergebäude, drei Treppen links,« unfreundlich warf die Frau die Glastüre wieder zu.

»Am Ende liegt die Wohnung gar im Quergebäude?«

»Komm, Ilse, jetzt statten wir Frau Schmidthannes unseren Besuch ab.« Derartigen Situationen begegnete Lilli stets mit Humor.

Ilse dagegen, die gegen alles Rohe und Unschöne besonders empfindlich war, hatte die abweisende Art der Frau verstimmt. »Es hat ja gar keinen Zweck, Lilli, wir versäumen bloß die kostbare Zeit, die Wohnung ist sicher unbrauchbar.«

»Wer weiß – in der schlechtesten Hülle versteckt sich oft das Schönste. Aschenbrödel wurde sogar Prinzessin.«

»Ach, du mit deinen Märchen, Lilli! Das Leben ist leider rauhe Wirklichkeit.« Aber Ilse folgte der Freundin doch über den engen, übelduftenden Hof zum hinteren Aufgang.

»Eine Montblancbesteigung ist Kinderspiel gegen unsere heutigen Leistungen,« scherzte Lilli, ehe sie den breiten Porzellangriff an der nun endlich gefundenen Pforte, die ein Schild »Zum Verwalter« trug, in Bewegung setzte.

Frau Schmidthannes öffnete in höchsteigener Person. Eine trotz der Kriegsernährung kugelrunde, appetitlich saubere Frau.

Ja, die Wohnung wäre frei und zu besichtigen. Oh, sie würde den jungen Damen schon gefallen – eine Prachtwohnung wär's, wie es deren nicht viele im Zentrum der Stadt gäbe. Ilses herabgestimmte Lebensgeister hoben sich bei diesen stolzen Lobeserhebungen.

Aber als Frau Schmidthannes jetzt eine gegenüberliegende Tür öffnete, trat sie einen Schritt zurück statt vor.

»Nein, das ist ein Irrtum, eine Hofwohnung suchen wir nicht – Vorderwohnung muß es schon sein!« Ach, wenn ihr Papa, dem nichts schön und fein genug für Frau und Tochter gewesen war, geahnt hätte, daß man ihnen eine Hofwohnung anbot!

»Sie haben doch annonciert, allenfalls auch Gartenwohnung – na also! Kommen Se man rein, Fräuleinchen, ansehen kost ja nischt.«

Lilli war der behäbigen Gestalt bereits durch den dunklen, kleinen Korridor in ein großes, helles Zimmer gefolgt.

»Ach, Ilse, sieh nur, wie hübsch – das Aschenbrödel verwandelt sich tatsächlich in eine Prinzessin –« Lilli wies begeistert zum Fenster hinaus. Zwischen schwarzen Schornsteinen und rußigen Dächern wurden frühlingsgrüne Bäume sichtbar, ein ziemlich ausgedehnter Garten breitete sich zu ihren Füßen.

»Na, sehen Se,« triumphierte Frau Schmidthannes. »Hab' ich's nich jesagt: Die schönste Jartenwohnung weit und breit ins janze Zentrum. Dies is der Jarten von's katholische Krankenhaus. Was die Vorderwohnungen sind, die haben ja lange nich so 'ne romantische Aussicht in de freie Natur.«

Lilli biß sich auf die Lippen.

»Ja, was meinst du zu dieser Wohnung mit der romantischen Aussicht in die freie Natur, Ilse?« Die braunen Augen lachten koboldartig und eine spaßige Bemerkung schwebte ihr auf der Zunge.

Aber Freundin Ilse war augenblicklich dem Humor wenig zugänglich. Stumm wies sie auf zerfetzt herabhängende Tapeten, auf die abgetretenen Dielen.

»Jotte doch, dafür jibt's Kleister, das wird Ihn' allens propper jemacht,« redete die Verwalterin zu.

»Ausgeschlossen, Lilli – eine Hofwohnung! Und sieh nur die Löcher in der Scheuerleiste. Hier gibt's bestimmt Mäuse,« flüsterte Ilse und versuchte die Freundin vom Fenster zur Tür zurückzuziehen.

»Aber man janz kleene, niedliche Mäuseken,« mischte sich die Verwalterin, die das letzte gehört, wieder hinein. »Beileibe keine Ratzen, wie se immer behaupten. Davor is es eben 'n altes Haus!«

»Barmherziger – Ratten!« Ilse warf einen entsetzten Blick in alle vier Ecken und, ohne die Unterredung abzuschließen, jagte sie an der verwunderten Frau Schmidthannes vorüber, die Treppe spornstreichs herunter. Was sollte Lilli anders tun, als ihr folgen? Trotzdem sie weniger ängstlicher Natur war als die zartbesaitete Ilse. Sie stieß noch ein entschuldigendes »Die Wohnung ist doch nicht recht geeignet« gegen die Verwalterin hervor und jagte dann hinterdrein.

»Dieses war der erste Streich und der zweite folgt sogleich – Ilse, was werden wir heute noch alles erleben!«

»Ach, Lilli, ich vermag nicht darüber zu lachen. Mir tut's so weh, wie heruntergekommen wir sind, daß überhaupt so ein Hinterhausloch für uns in Betracht kommen kann.«

»Prinzeßchen!« neckte Lilli. »Machst deinem einstigen Kränzchennamen noch alle Ehre. Ich betrachte die neue Wohnung überhaupt nur als vorübergehenden Zustand. Sobald dein Papa heimkommt, und das kann jeden Tag sein, und wieder seinen Bankdirektorposten antritt, kauft ihr euch wieder eine feine Villa.« Lilli hatte stets das rechte Wort zum Trösten bereit.

Die grauen Augen blickten denn auch heller. »Ach ja – wenn Papa erst wieder da ist! Eine Villa braucht es gar nicht zu sein, Lilli. Nur ein bescheidenes Häuschen im Grünen, wie ihr es bewohnt. Aber inzwischen muß ich dafür sorgen, daß Mama den Wechsel nicht allzu hart empfindet. In solch ein altes Gemäuer mit Mäusen oder gar Ratten sperre ich sie keinesfalls. Das würde ihr zarter Organismus, ihr Schönheitsgefühl nicht ertragen.«

»Es ist wohl das richtigste, wir geben das Suchen hier im Innern der Stadt überhaupt auf,« überlegte die Blonde, den Adressenzettel durchgehend. »Hier sind die Häuser doch fast durchweg alt und ohne Behaglichkeit. Wir wollen mal in die Schöneberger Gegend, wo Lena Ritter wohnt. Vielleicht blüht uns dort das Glück.«

Eine Straßenbahn brachte die jungen Damen in das westliche Viertel der Stadt. Freilich, hier waren die Bauten neu und vornehm – »aber die Mieten werden ebenfalls vornehm sein,« seufzte Ilse.

Der Zettel wies drei Adressen auf.

Die eine Wohnung war zu teuer, die zweite zu eng, die dritte, zwar an sich ganz nett und passend, aber hoch oben im vierten Stock gelegen und ohne Fahrstuhl.

»Mama soll möglichst wenig Treppen steigen, es schadet ihrem Herzen, hat der Arzt gesagt. Was nun?«

»Wir suchen eben weiter.« So schnell verlor Lilli den Mut nicht.

Aber Ilse war weniger widerstandsfähig. Das ergebnislose Herumlaufen machte sie müde und abgespannt. »Wir wollen uns erst ein bißchen ausruhen und stärken. Lilli, komm, dort ist eine nette Konditorei.«

»Ach ja, Mohrenkopf mit Schlagsahne habe ich seit Jahren nicht mehr gesehen,« scherzte Lilli.

»Den werde ich dir heute leider auch noch nicht vorsetzen lassen können. Aber eine Tasse Kaffee, wenn's auch nur Kaffeeersatz ist, hebt immerhin die Lebensgeister. Komm!« Gerade in dem Augenblick, als Ilse die Tür zur Konditorei öffnen wollte, legte sich eine Hand auf ihren Arm.

»Na, ihr seid ja nett, anstatt eure liebe Freundin Lena zu besuchen, wenn ihr mal in dieser Gegend seid, wollt ihr hier heimlich schlemmen – pfui, schämt euch!« Ein großes, blondes Mädel mit lieben Gesichtszügen stand vor den sich Umwendenden.

»Lena!« riefen die beiden erfreut. »Komm, du mußt mithalten.«

»Nee, Kinder, ich muß nach Hause, eine pädagogische Abhandlung über Pestalozzische Grundsätze verfassen und die Gemüsesuppe zum Abend aufsetzen. Ich habe keine Zeit zum baronisieren wie gewisse andere Leute. Kommt mit mir, so gut ist unser Gerstenkaffee auch noch wie der hier in der Konditorei. Und meine Marmeladenstullen teile ich mit euch kränzchenschwesterlich.« Es war merkwürdig, trotzdem Ritters, die sich stets hatten einschränken müssen, nichts übrig hatten, gaben sie es doch nicht ganz auf, Gastfreundschaft zu pflegen.

»Ein andermal, Lena. Heute bist du unser Gast. Wir müssen gleich wieder weiter; wir sind auf der Wohnungssuche. Zehn Minuten wirst du doch für deine alten Freundinnen, die du seit Wochen nicht gesehen hast, übrig haben.« Lena wurde mit Gewalt mitgezogen.

Und nun saßen die Drei um den kleinen, runden Marmortisch, jede eine Tasse schwarzen Kaffee-Ersatz mit Saccharin gesüßt, vor sich. Der zähe Kuchen mit »Schlaggafüllung« anstatt der einstigen Schlagsahne mundete den Freundinnen, wenn Lilli auch meinte, als Klebstoff würde sich die Füllung eigentlich noch besser eignen.

Seitdem Ilse und Lilli ihren neuen Lebensweg betreten, waren ihre Sonnabendkränzchen eingeschlafen. »Aber nun wollen wir wieder regelmäßig zusammenkommen, Kinder, ja?« schlug Lilli vor. »Und geht's nicht in der Woche, so machen wir am Sonntag gemeinsame Wanderungen. Man verliert ja sonst ganz die Fühlung miteinander.«

»Ihr fehlt mir gewiß, Lilli. Aber die ganze Woche über habe ich fürs Seminar und beim Unterrichten zu tun. Da gehört der Sonntag wenigstens der Familie. Mutter hat Sonntagvormittag besonders viel Betrieb im Blumengeschäft. Wir helfen ihr oft. Ruth, Walter und die Kleinen wollen auch mit mir einen Tag wenigstens zusammen sein; sie freuen sich die ganze Woche auf das gemeinsame Hinauswandern ins Grüne. Ich möchte mich nicht gern davon ausschließen.«

»So bringe sie doch alle mit,« entschied Ilse.

»Das wäre zu kostspielig. Wir pflegen über Dahlem in den Grunewald per pedes zu wandern und nicht einzukehren. Auch käme keiner zu seinem Recht bei einem solchen Massenauflauf. Vielleicht verabreden wir einmal im Monat einen Sonntag, das kann ich eher möglich machen.« Lena Ritter, die schon als Kind ein überaus pflichtgetreues, verständiges Mädchen gewesen war, zeigte diese Eigenschaften jetzt noch in verstärktem Maße. Sie war nicht so hübsch wie die beiden anderen Freundinnen, aber ihr Gesicht hatte etwas ungemein Sympathisches und Gewinnendes.

»Abgemacht, Lena, aber Walter und Ruth müssen sich beteiligen, die gehörten doch zu unserem ›Wandervogel‹ seligen Angedenkens. Und Tante Gretchen benachrichtige ich auch. Einen Sonntag wird sie sich schon aus ihren jungen Ehestandsfesseln frei machen können,« rief Lilli eifrig.

»Natürlich – Tante Gretchen! Immer noch deine Schwärmerei, Lilli? Ich habe gehofft, daß Tante Gretchen endlich mal bei dir von einem schnurrbärtigen Wesen abgelöst würde.«

»Jawohl, von Herrn Mählich in unserem Büro, das ist ein würdiger Gegenstand für meine Schwärmerei. Seine Glatze könnte mich wirklich begeistern.«

»Kinder, redet doch keinen Unsinn und verschwatzt die kostbare Zeit nicht, du mußt an deine Pestalozzigemüsesuppe, Lena, und wir weiter auf die Wohnungssuche. Viele Adressen sind es freilich nicht mehr.« Ilse wurde wieder kleinlaut.

»Laß sehen, Ilse,« Lena griff nach dem Zettel. »Ja, hier sind doch noch verschiedene Adressen in Charlottenburg. So sehr ich mich freuen würde, wenn du in meine Nähe zögst, ich glaube nicht, daß du hier was Passendes findest. Wir hätten unsere Mansardenwohnung längst schon mit einer anderen vertauscht, wenn etwas Erschwingbares frei wäre. Die Wohnungen sind hier knapp und teuer. Und Charlottenburg wäre doch eigentlich viel bequemer für dich, da du doch deine Röntgentätigkeit dort hast.«

»Freilich – daran habe ich natürlich zuerst gedacht. Aber es war auch nicht das richtige darunter. Eine Gartenwohnung käme vielleicht in Betracht. Da fehlen wieder Zentralheizung und Warmwasserversorgung.«

»Ja, Ilse, alles Gute ist selten beisammen. Vater pflegt immer zu sagen, von seinen Wünschen soll man immer gleich die Hälfte streichen, dann erspart man dem Leben eine Arbeit und sich selbst Enttäuschungen. Also auf nach Charlottenburg! Dort fassen wir die Glücksgöttin ganz sicher beim Schopf.« Lillis Zuversicht war durch Kaffee und Kuchen neu gestärkt wie sie selbst.

Nach edlem Wettstreit, wer die Zeche begleichen durfte, in dem Ilse und Lilli Sieger blieben, trennten sich die drei Freundinnen. Die Untergrundbahn führte sie in kurzer Zeit nach Charlottenburg.

»Zuerst die nette Gartenwohnung! Wenn sie weiter keinen Fehler hat, als daß ihr Zentralheizung und Warmwasserversorgung fehlt, würde ich mich nicht lange besinnen,« riet Lilli.

»Ja, aber Mama ist gewohnt, täglich ihr Bad zu nehmen, und Alwine ist alt und hat bei uns niemals Öfen zu heizen brauchen,« wandte die Freundin ein.

»Ilschen, ihr werdet alle umlernen müssen. Der Schritt von der Eleganz zur Einfachheit vollzieht sich nicht, ohne daß man es merkt. Ist dies Nummer sieben? Ach, ist das entzückend! Wie ein verwunschenes Häuschen steht es hier zwischen den hohen Mietskasernen mit seinem blühenden Rotdorn vor den Fenstern. Ilse, und da läßt du uns Hofwohnungen erklimmen, wo Mäuse und Ratten hausen, wenn dir hier etwas so Herrliches winkt!« Lilli war durch das einstöckige, von einem sauber gehaltenen Gärtchen umgebene Haus in der Schloßstraße, das sich neben seinen hohen modernen Nachbarn wie ein Überbleibsel aus der guten alten Zeit ausnahm, ganz begeistert.

»Gärtchen und Straße sind nett,« pflichtete die ruhigere Ilse bei, »man merkt das Getriebe der Großstadt nicht so arg. Und wenn Mama hier unter den Lindenbäumen und Fliederbosketts das Endchen bis zum Charlottenburger Schloß geht, ist sie in dem wundervollen Schloßgarten, da wird sie unseren Park am See nicht allzu sehr vermissen. Aber die Hauptsache bleibt doch die Wohnung. Ob wir da unsere Möbel alle hineinbekommen, ist mir schleierhaft. Die Zimmer scheinen nicht groß zu sein.«

»Ansehen kostet ja nichts,« hat Frau Schmidthannes vorhin gesagt, und »'ne romantische Aussicht in de freie Natur« ist auch vorhanden. Durch die schmalen, mit Buchsbaum säuberlich umhegten Gartenwege schritten sie dem Eingang zu. Lilli zog die Glocke. »Du, mich soll es jetzt nicht wundern, wenn eine verwunschene Sibylle hier herausschaut.«

Sie hatte noch nicht ausgesprochen, da öffnete sich ein Fensterflügel im oberen Stockwerk und ein altes runzliges Frauengesicht unter einem altmodischen Spitzenaufsatz wurde sichtbar. Lilli kniff Ilse vor Vergnügen in den Arm über die stilgerechte Bewohnerin des verwunschenen Hauses.

»Himmlisch, Ilse – das ist ja ein lebendiges Märchen; hier möchte ich sofort einziehen,« flüsterte sie, während Ilse ihren Wunsch, die Wohnung besichtigen zu dürfen, bescheiden äußerte.

Das Fenster schloß sich, und es dauerte geraume Weile, bis die alte Bewohnerin wieder sichtbar wurde. Die jungen Mädchen hatten inzwischen Zeit, das dicht von Efeu umsponnene Häuschen mit seiner kleinen, durch ausgetretene Steinstufen in den Garten hinabführenden Veranda, mit den verwitterten Steinputten, die als Wächter den Hauseingang bewachten, zu betrachten.

Trippelnde Schritte nahten sich. Der Schlüssel in der Haustür drehte sich knarrend. Dann wurde die Tür von den zierlichen Händen der alten Dame geöffnet, die viel zu schwach für diese Anstrengung erschienen. Es war ein kleines, verhutzeltes Persönchen, in einem starren, schwarzseidenen Kleide von vorsintflutlichem Schnitt; der Rücken gebeugt von der Last der Jahre oder des Lebens. Ihre hellen scharfen Augen, die merkwürdig jugendlich aus dem alten Gesicht leuchteten, unterzogen die jungen Damen nun einer eingehenden Musterung.

»Also meine Wohnung wollen Sie ansehen? Na schön!« unterbrach sie schließlich das stumme Anstarren. »Aber das sage ich Ihnen gleich, ich kann nur ruhige Mieter gebrauchen. Leute mit Kindern nehme ich nicht auf; Kindergeschrei ist mir gräßlich. Und Pfeife darf hier weder im Hause noch im Garten geraucht werden.«

Ilse war von diesem merkwürdigen Empfang etwas betroffen und eingeschüchtert, Lilli aber rief mit ihrem silbernen Lachen: »Keine Sorge, meine Freundin hier ist das einzige Kind, das macht keinen Lärm mehr. Und Pfeife rauchen die beiden Damen auch nicht.«

Jetzt mußte auch Ilse in das von Herzen kommende Lachen einstimmen. Die schmalen Lippen der alten Dame aber preßten sich noch fester zusammen, als wollten sie ja nicht in Versuchung kommen, sich zu einem Lächeln zu verziehen.

»Na jachen,« sagte sie schließlich, »dann kommen Sie nur hinein.«

Ein dämmeriger Hausflur nahm die beiden auf. Man unterschied eine schmale, zum ersten Stockwerk führende Treppe. Mehrere weißgestrichene Türen leuchteten aus dem durch ein kleines Fenster vom Garten hereinfallenden grünlichen Dämmerlicht.

»Hoffentlich werden wir hier nicht verzaubert,« dachte Lilli, deren Märchenphantasie sich lebhaft zu regen begann.

Die alte Bewohnerin öffnete eine der weißen Türen. Ilse trat einen Schritt vor, fuhr aber gleichzeitig mit einem unterdrückten Schrei wieder zurück. Unter ihrem Fuß war ein jämmerliches »Miau« erklungen.

»Ach, mein süßes Tierchen, haben sie dir weh getan, die bösen Leute?« Die alten Frauenhände zogen eine weißschwarzgefleckte Katze vom Boden und drückten sie zärtlich gegen die eingesunkene Brust. Ein strafender Blick traf dabei die Urheberin des Katzenschmerzes.

Ilse hätte am liebsten gleich wieder kehrt gemacht.

»Hier miete ich bestimmt nicht!« das stand bombenfest für sie. Ebenso wie gegen Mäuse und Ratten hatte sie gegen Katzen eine heftige Abneigung. Himmel, wenn sie da mal im Dunklen nach Hause käme! Und diese vorsintflutliche Atmosphäre, die Lilli himmlisch fand, legte sich ihr beklemmend aufs Herz.

Aber die Zimmer, in welche die alte Wirtin sie jetzt eintreten ließ, waren nett und gemütlich. Nicht allzu groß, aber sauber und mit solider Vornehmheit ausgestattet. Besonders das Wohnzimmer mit der kleinen lauschigen Veranda, die einem versteckten, grünen Nest glich, und von der man gleich in den Garten hinab gelangte, war anheimelnd. Hier konnte sich Ilse ihre Mama vorstellen, hier mochte sie sich wohl einleben. Das einfenstrige Zimmer, das für sie selbst in Betracht kam, war allerdings ziemlich klein. Ihren großen, schönen Flügel konnte sie darin nicht unterbringen. Sie sprach ihre Bedenken aus.

»Hm – na jachen, dafür ließe sich Rat schaffen. Ich bewohne das obere Stockwerk und habe dort ein leeres Zimmer übrig. Wenn Sie nicht klimpern, sondern ernste Musik machen, können Sie den Flügel dort unterbringen. Oder auch eines meiner Klaviere benutzen. Aber Operettengeklimper, Couplets und derartiges Zeug dulde ich nicht, das ist mir ein Greuel. Ich stamme aus einer Musikerfamilie.«

Das kleine Persönchen reckte sich und schien noch zu wachsen.

Wieder fühlte Ilse sich äußerst bedrückt. Sie war eine gute Klavierspielerin und pflegte besonders die alten Meisterwerke. Aber wenn kritische Ohren ihrem Spiel lauschten, verlor sie sicher jede Freude daran.

»Du, Ilse, die Wohnung ist reizend und preiswert – ich würde sofort Kontrakt machen, daß sie dir niemand fortschnappt.« Lilli stieß die Freundin heimlich an.

»Ja – aber – aber es ist kein elektrisches Licht und keine Zentralheizung und Warmwasserversorgung. Und dann die Katze und der Flügel – ach Gott, Lilli, ich glaube, hier fürchte ich mich vor Gespenstern.« Aufgeregt flüsterte es Ilse zurück.

»Hasenfuß!« schalt Lilli und half der alten Dame wieder die grünen Fensterläden zuzusperren.

»Wenn Sie sich zu mir herauf bemühen wollen, können wir alles weitere dort besprechen,« ließ sich die Wirtin vernehmen. Sie schien besonders an Lilli Wohlgefallen gefunden zu haben. »Vor allem muß ich wissen, mit wem ich es zu tun habe; jeden nehme ich nicht in mein Haus. Ich habe bisher die Wohnung leer stehen gehabt, aber jetzt droht mir der Magistrat mit Einquartierung. Ehe ich vielleicht lärmende Menschen mit einem halben Dutzend Kindern in mein stilles Haus nehme, lieber vermiete ich selbst an ruhige, zuverlässige Leute.« Sie hatte die mit weißen Gardinen verhangene Glastür, die ihre Wohnung oben von der Treppe trennte, aufgeschlossen. »Karl Ludwig Gemoll« stand auf dem Porzellanschild zu lesen.

»Das war mein Vater – ein geachteter Name in der Musikwelt des neunzehnten Jahrhunderts. Ich bin Fräulein Gabriele Gemoll,« sie machte dabei einen kleinen altfränkischen Knicks und neigte den Kopf ein wenig.

Die jungen Damen fanden es jetzt angebracht, ebenfalls ihre Namen zu nennen.

»So, und nun erzählen Sie mir ein wenig von sich,« damit nötigte Fräulein Gabriele Gemoll den Besuch in ihr Wohnzimmer. Lilli wurde an Großmamas Zimmer erinnert. Die behaglichen altmodischen Möbel schienen ungefähr derselben Zeit zu entstammen. Dieselbe Akkuratesse und peinliche Ordnung hier wie dort. Nur hatte man die Empfindung, ein Musikinstrumentengeschäft zu betreten. Da gab's zwei Klaviere, mehrere Geigen, Bratsche, Cello und Gitarre.

»Alles Familienerbstücke,« stellte das Fräulein stolz vor. »Es sind wertvolle Sachen. Man hat mir schon viel Geld dafür geboten, aber ich mag mich von keinem trennen.« Dann nahm sie die schnurrende Rosaura auf den Arm, deckte deren Nachwuchs, fünf junge Kätzchen, die müde aus einem Korb herausblinzelten, sorgsam mit einem Federbettchen zu und fragte nach Ilses häuslichen Verhältnissen.

Die berichtete mit der ihr eigenen Zurückhaltung. Sie fühlte sich von Fräulein Gemoll nebst ihrer vielköpfigen Katzenfamilie angezogen und abgestoßen zugleich. Lilli dagegen plauderte munter drauf los und erzählte treuherzig, wieviel ihrer Freundin daran gelegen sei, ihrer Mutter ein gemütliches Heim als Ersatz für die verkaufte Villa am Wannsee zu schaffen.

»Hm – na jachen! Klingt ein bißchen abenteuerlich. Vater in russischer Gefangenschaft – Villa am Wannsee – na jachen! Aber sie machen mir beide einen soliden Eindruck, und daraufhin will ich's wagen. Bis morgen um diese Zeit halte ich die Wohnung für Sie frei, wenn Ihre Mutter mit mir Kontrakt machen will. Denn Sie, junges Ding, geben mir nicht genug Bürgschaft. Seid artig, Lillichen, Millichen, Tillichen, Cillichen und Willichen –« Lilli, die zuerst geglaubt hatte, sie sei mit dieser Ermahnung gemeint, sah belustigt, wie die alte Rosaura auf das höchst musikalische Gemauze aus dem Katzenkörbchen plötzlich einen Sprung vom Schoß ihrer Herrin an der aufkreischenden Ilse vorbei machte.

»Na jachen.« Das alte Fräulein erhob sich zum Zeichen, daß die Angelegenheit für heute erledigt sei.

Am nächsten Tage wurde trotz des fehlenden elektrischen Lichtes, trotz der mangelnden Warmwasserversorgung und Zentralheizung und ungeachtet der sechsköpfigen Katzenfamilie der Kontrakt mit Fräulein Gabriele Gemoll unterzeichnet.


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