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Die Begegnung mit der kleinen Ingeborg hatte tiefen Eindruck auf Lilli Steffen gemacht und wollte ihr nicht aus dem Sinn. Gleich am folgenden Tage hatte sie ihr in der Mittagspause den versprochenen Fliederstrauß gebracht. Das glückliche Aufleuchten der altklugen Kinderaugen zeigte Lilli mehr als alle Dankesworte, welche große Freude sie dem abseits von Licht und Blumen aufwachsenden Kinde damit bereitet hatte. Und als Lilli sagte: »So, kleine Ingeborg, nun mußt du mir aber auch eine Freude machen und brav sein,« da hatte das kleine Mädchen eifrig genickt.
Doch schon am nächsten Tage, als Lilli nach Büroschluß wieder ihren Weg am Krögel vorbeinahm, um ihrem hungrigen Schützling ein aufgespartes Frühstücksbrot zu bringen, mußte sie erkennen, daß das Bravsein für die Kleine gar nicht so einfach war.
»Lumpenprinzessin hat Flieder jeklaut,
Darum hat Jroßmutter sie tüchtig verhaut,«
klang ihr beim Eintritt in die schmutzige Gasse ein schriller Kinderchor entgegen. Zuerst gewahrte Lilli nur einen Kreis Kinder, hüpfende Beine und fliegende Zöpfe. Aber beim Näherkommen entdeckte sie zu ihrem Schreck als Mittelpunkt des sie umtanzenden Kreises die kleine Ingeborg, die mit geballten Fäusten vergeblich einen Weg aus der Kette der sie umspringenden Kinder suchte.
»Lumpenprinzessin hat Flieder jeklaut,
Darum hat Jroßmutter sie tüchtig verhaut,«
johlte die Schar aufs neue. Allen voran die Lilli bereits bekannte Alma.
Empört packte das junge Mädchen sie am Schürzenzipfel. »Schämst du dich denn gar nicht, die arme Ingeborg so zu ärgern und auch die anderen Kinder dazu anzustiften? Den Flieder hat die Ingeborg von mir geschenkt bekommen und –«
Lilli verstummte plötzlich mit verdutztem Gesicht. Sie sprach nur noch zu Ingeborg. Der ganze Kinderkreis war zerstoben, in alle Haustüren und Kellerlöcher hinein verschwunden.
»Hast du wirklich für den Flieder, den ich dir gestern schenkte, Prügel bekommen, Ingeborg?« erkundigte sich Lilli nun teilnehmend bei ihrer kleinen Freundin.
Diese nickte mit fest zusammengepreßten Lippen. »Sie hat ma's ja nich jlauben wollen, daß 'n Mensch so jut sein kann und mir dumme Jöre Flieder schenken. Jemaust hätte ick ihn, sagt se, und injestehen sollt' ich's. Und als ich dis nich tat, da hat se mir mit'n Lumpenhaken verwichst, und den Flieder hat se vakauft. Da – – –« Das Kind streifte den Ärmel seines zerlöcherten Kleides hoch und zeigte die blutunterlaufenen Spuren.
»Entsetzlich!« Lilli wandte sich erschüttert ab.
Dann aber erwachte die von ihrer Mutter ererbte Energie in ihr.
»Wo ist die Großmutter? Ich will selbst mit ihr sprechen und ihr sagen, daß du die Prügel zu Unrecht bekommen hast.« Sie wandte sich dem Lumpenkeller zu.
Ingeborg hielt sie ängstlich zurück.
»Jehen Se nich 'runter, Fräulein, lassen Se's bleiben; se wird jrob, sag' ick Ihn'n. Un Sie sollen nich auch noch anjeraunzt wer'n, wo Se doch so nett zu mich sind.«
Aber dieser Einwand bestärkte Lilli nur in ihrem Entschluß. Er zeigte ihr, daß noch gute Keime in der vernachlässigten Kinderseele schlummerten, daß es nur einer verständigen Hand bedurfte, damit sie nicht verkümmerten.
Sie betrat die halsbrecherisch morsche Kellertreppe. Ein ekelerregender Geruch von verdorbenen Küchenabfällen, vermischt mit der moderigen Kellerluft, legte sich ihr atembeklemmend auf die Brust. Aber tapfer überwand das junge Mädchen den Widerwillen. Die altersschwache Türschelle ließ ein ächzendes Gewinsel hören. Lautes Hundegebell antwortete.
»Still, Moppel, kusch dich!« rief Ingeborg der ihre Beschützerin feindselig anknurrenden Bulldogge entgegen.
Aus einem Berg von schmutzigem Papier, Stroh und Lumpen tauchte ein zotteliger, grauer Frauenkopf auf. Rotunterlaufene Augen hefteten sich auf die Eintretenden.
Der sonst so beherzten Lilli wurde doch etwas beklommen zumute. Was ihre Märchenphantasie von bösen Hexen aufgestapelt hatte, ward hier lebendig.
»Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich der Ingeborg gestern den Flieder aus unserem Garten mitgebracht habe. Darum tut es mir doppelt leid, daß sie deshalb Schläge bekam; sie hat die Wahrheit gesprochen.«
Lilli hatte mit ihrer guten Absicht bei der Alten wenig Glück. Die hatte ein so böses Mundwerk, daß wohl kaum irgend jemand dagegen aufkommen konnte. Sie wies Ingeborg sogar zum Schluß die Tür. So stand denn Lilli Steffen wenige Minuten später, noch ganz benommen von dem üblen Erlebnis, mit dem weinenden Kinde wieder in der engen Gasse. Niemals in ihrem neunzehnjährigen Leben war ihr eine derartige Behandlung zuteil geworden, nie war ihr die Roheit so unverhüllt entgegengetreten. Sie fühlte sich angewidert von dem Häßlichen, in tiefster Seele verletzt. Und daneben stieg ein Gedanke auf, immer größer werdend, immer mächtiger und bedrückender: Was soll jetzt mit dem Kinde geschehen?
In den Lumpenkeller zu der halb wahnsinnigen Alten zurückkehren durfte Ingeborg nie und nimmer. Das stand fest. Aber wohin mit ihr? »Nach Haus, ich nehme sie mit nach Haus.« Lilli war sofort mit der Antwort bereit. Dann aber kamen die Bedenken. Was hatte Muttchen gesagt, als sie daheim von der Begegnung mit der kleinen »Lumpenprinzessin«, noch ganz unter dem traurigen Eindruck stehend, den das arme elternlose Kind auf sie ausgeübt, berichtete?
»Brav, Lilli, daß du tatkräftig eingeschritten bist und dem hungrigen Kind ein warmes Essen hast zukommen lassen. Aber nun denke daran, daß du dem Kinde ferner nicht etwa Ungelegenheiten machst. Gib ihm keine Veranlassung, etwas von der Großmutter verheimlichen zu müssen. Du meinst es gut, das weiß ich, und möchtest mit deinem jungen, warmen Herzen gern helfen. Aber solche Hilfe ist nicht immer angebracht, in den seltensten Fällen erwünscht. Du könntest leicht Undank ernten.« Ja, so hatte die Mutter sich geäußert, und Lilli fand es sogar heimlich hartherzig, daß sie ihr von dem Liebeswerk abriet. Sie wagte gar nicht mehr zu erzählen, daß sie die Kleine aufgefordert hatte, sie mal in Schlachtensee zu besuchen. Nur ihrem Bruder Ludwig hatte sie es anvertraut, und der war nicht gerade begeistert von der Eröffnung.
»Dann wollen wir uns nur gleich Insektenpulver en gros kaufen,« hatte er sich geäußert. »Und halte nur ja dein Geldtäschchen fest, Liliputchen, daß es nicht etwa wie in deinen Märchen geheimnisvoll verschwindet.«
»Pfui, Ludwig!« Lilli war wirklich ärgerlich auf ihren Zwilling gewesen. »Wie kannst du die arme Kleine so häßlich verdächtigen!«
»Du hast uns doch selbst erzählt, daß es sich um ein verwahrlostes Kind handelt. Ich will dir mal was sagen, Liliputchen: Ohne deinem guten Herzen Abbruch zu tun, du gefällst dir in deiner Rolle als gütige Fee. Aber zu Feenwerken gehört auch ein Zauberstab, zum mindesten ein klingender in der Tasche. Und der fehlt uns. Wir müssen zusehen, daß wir selbst durchkommen in dieser schweren Zeit.« Das war sehr vernünftig und praktisch gedacht, stimmte aber durchaus nicht zu dem impulsiven Empfinden der warmherzigen Schwester. Wie schon oft hatte sie es in diesem Augenblick ganz besonders wieder bedauert, daß der Vater nicht daheim war. Der hatte sie stets verstanden, wenn das Herz bei ihr den Verstand zurückgedrängt hatte; dem gingen selbst seine Ideale über die nüchterne Wirklichkeit.
Und nun stand sie da mit dem weinenden Kinde und wußte nicht ein, nicht aus. Was würde Muttchen nur dazu sagen, daß ihr das Herz wieder mal davongelaufen war? Daß aus dem Wunsche, Gutes zu stiften, Unheil entstanden und das Kind seiner Unterkunft, so jammervoll dieselbe auch war, beraubt worden war. Hatte Muttchen nicht vorher gewarnt? Ach, und dann die Sorge für einen Esser mehr im Hause! Wußte die Mutter doch oft nicht, womit sie ihre drei jetzt satt machen sollte. Mit Essen allein war es auch nicht getan. Die Kleine mußte neu eingekleidet werden. Als »Lumpenprinzessin« konnte man sie unmöglich einherlaufen lassen. Und der Mutter durften unbedingt keine Kosten aus ihrer Unüberlegtheit erwachsen. Ob der Rest ihres nächsten Gehaltes, den sie nicht zum Haushalt beisteuerte, wohl dazu ausreichen würde? Freilich, auf den neuen Sonntagshut mußte sie dann verzichten. Ach was, es war ja jetzt modern, ohne Kopfbedeckung zu gehen. Aber der Einkochapparat, den sie der Mutter vom nächsten Gehalt zum Hochzeitstage hatte hinstellen wollen? Mußte natürlich auch unterbleiben – das half nun nichts – wer A gesagt hat, muß auch B sagen.
Und »Muttchen wird schon helfen – Muttchen wird schon Rat schaffen!« Die Zentnerlast von Lillis Seele wich bei diesem Trostgedanken. Es war ihr zumute wie früher in ihren Kindertagen, wenn sie etwas Unrechtes getan, und eine offene Beichte stets alles wieder gutgemacht hatte.
»Komm, Ingeborg, wir fahren nach Schlachtensee,« sagte sie mit möglichst zuversichtlicher Miene und zog das schmierige Händchen von den Augen der weinenden Kleinen.
»Ick ooch? Mir nehmen Se ooch mit, Fräulein?« Ein kaum faßbares Hoffen strahlte plötzlich aus dem tränenüberströmten Kindergesicht. »Wo der schöne Flieder wächst, ja?«
»Ja, Ingeborg, ich nehme dich mit nach Haus, wo es Blumen gibt und wo die Sonne so hell scheint. Da wird alles wieder gut – paß mal auf!« Und während Lilli glaubte, der Kleinen Mut zuzusprechen, war sie es doch selbst, der sie so zusprach. Denn Ingeborg bedurfte keiner Aufmunterung mehr. Die Aussicht, aus der dunklen Gasse von der bösen Großmutter fortzukommen, Neues kennen zu lernen, hatte die Kindertränen im Nu getrocknet.
»Au fein – Fräulein« – ein Luftsprung folgte – dann zu den Spielkameraden gewendet, deren Köpfe neugierig hinter Kellerluken und Haustüren sich wieder hervorwagten: »Ick mach' 'ne Landpartie nach Schlachtensee – etsch – ick fahre mit de Eisenbahn und komm' jar nich mehr wieder!« Letzteres gab Lilli einen Stich ins Herz. Hoffentlich brauchte die arme Kleine nicht wieder zurück in ihr dunkles Kellerloch, hoffentlich fand sich irgendwo ein besseres Unterkommen für sie.
Unter den schmähenden Rufen: »Haach – die Lumpenprinzessin schwindelt ja!« nahm Ingeborg Abschied von der düsteren Gasse ihrer Kindheit.
Eitel war Lilli Steffen ja eigentlich nicht, jedenfalls gewiß nicht eitler, als es ein hübsches Mädchen von neunzehn Jahren sein darf. Und doch – sie schielte in der elektrischen Bahn, die sie zum Wannseebahnhof beförderte, links und rechts, was wohl die Mitfahrenden zu ihrer verwahrlost aussehenden kleinen Begleiterin für ein Gesicht machten. Aber die schienen gar keine Notiz von ihnen zu nehmen.
Als die Bahn die rußigen Häuser Berlins hinter sich ließ und hinauseilte zu grünen Wiesen, freundlichen Villenkolonien und blühenden Gärten, klatschte die kleine Ingeborg begeistert in die Hände und rief: »Fräulein, ach, Fräulein, sehen Se doch bloß mal, 'n janz weißer Baum, der sieht aus wie beschneet!«
Da kam auch Lilli wieder ein richtiges Glücksgefühl. Freilich dauerte es nicht lange, denn nun nahte das Schwerste: Der Weg vom Bahnhof bis zur Kirschallee, in der ihr Heim lag! Hier draußen kannte fast ein jeder das hübsche Trio der Oberlehrerfamilie. In den Lauben und vor den Türen pflegten die Bewohner, wenn Lilli gegen Abend heimkam, ihre Feierstunde zu halten. Dann gab's stets ein freundliches Grüßen hinüber und herüber.
Heute wandte Lilli, die sonst jedem so frei und frank in die Augen blickte, den Kopf zur Seite, um möglichst nicht gesehen zu werden. Und doch half ihr dies wenig. Erstaunte Blicke folgten ihr, die Hälse reckten sich über die Balkonbrüstung und über das Gartengitter. Wen hatte denn Steffens Älteste da aufgelesen?
Je näher Lilli dem elterlichen Hause kam, desto langsamer wurde ihr Schritt. Es war doch nicht so einfach, der Mutter mit dem fremden, kleinen Gast ins Haus zu fallen.
Margot und Schnauzel hielten wie gewöhnlich nach ihr Ausschau von dem weißen Gartenstaket aus. Wie der Sturmwind kamen sie ihr entgegengebraust. Aber plötzlich machte das Schwesterchen betreten halt, während der Teckel mißtrauisch zu bellen begann. Sie hatten die fremde kleine Begleiterin erspäht.
»Hier, Margot, bringe ich dir eine kleine Spielgefährtin mit,« vermittelte Lilli die Bekanntschaft. »Das ist die kleine Ingeborg aus dem Krögel, von der ich euch erzählt habe.«
»Die Lumpenprinzessin?«
Lilli selbst hatte sie so genannt, und nun war sie ärgerlich auf die kleine Schwester, daß sie das arme Kind gleich mit ihrem Spottnamen in der neuen Heimat begrüßte.
»Gib der Ingeborg die Hand, Margot, und halte gute Freundschaft mit ihr,« mahnte sie.
»Erst muß sie sich die Hände waschen.« Margot legte die ihrigen auf den Rücken.
Lillis feines Empfinden litt unter der geraden Kindesehrlichkeit des Schwesterchens. Aber das fremde kleine Mädchen schien durchaus nicht dadurch verletzt. Mit glänzenden Augen blickte es in den Garten, zu dem Lilli jetzt die Tür öffnete, in dem Kastanien und Rotdorn, Flieder und Obstbäume ein wahres Wettblühen veranstaltet hatten.
»Hier wohnen Se, Fräulein – haach – is dis scheen hier – beinah' wie in'n Himmel.«
Die Mutter war noch nicht zu Hause. Lilli empfand es als Erleichterung. Am Mittwoch pflegte Mutter stets später heimzukehren. Sie hatte ehrenamtlichen Dienst im vaterländischen Frauenverein. Nur Ludwig saß auf dem Gartenplatz und zeichnete Maschinenkonstruktionen. »Nanu?« sagte er und nichts weiter. Aber seine Augenbrauen zogen sich nicht gerade sehr erbaut in die Höhe.
»Ludwig, das ist die kleine Ingeborg – du weißt schon. Die Großmutter hat ihr die Tür gewiesen, sie will sie nicht länger behalten, und da – da hab' ich sie natürlich mit zu uns gebracht.« Aber so natürlich erschien Lilli ihre Handlungsweise jetzt doch nicht.
»Hm – na, guten Tag, Kleine – gib dem Wurm was zu essen, Lilli, sieht ja aus wie's liebe Leiden. Und Wasser und Seife können ihr auch nichts schaden. Bis Mutter kommt, kannst du sie noch einigermaßen menschlich machen,« riet der praktische Bruder. »Und im übrigen, Liliputchen« – er zog die Schwester taktvoll zur Seite – »hast du 'ne kapitale Dämlichkeit begangen, uns den fremden, kleinen Dreckmops aufzuhalsen.«
»Ja, wo sollte ich das arme Ding denn lassen?« verteidigte sich Lilli flüsternd.
»Wo es gewesen ist – na, nu ist die Suppe eingebrockt, nun müssen wir sie auslöffeln. Guten Appetit, Liliputchen!« Aber als er das halb betrübte, halb beklommene Gesicht der Schwester gewahrte, klopfte er ihr aufmunternd auf die Schulter.
»Wird sich schon Rat und Unterkommen schaffen lassen. Mutter ist ja in so vielen Vereinen. Und bis dahin geben wir dem Wurm jeder was von unserer Ration ab; da wird es schon satt werden.«
Lilli drückte ihrem Bruder dankbar die Hand. Ach, es war doch tröstlich, daß man liebe Menschen hatte, die einem halfen, eine Dummheit wieder gutzumachen.
»Komm, Ingeborg, du sollst dich erst waschen und dann gebe ich dir was zu essen,« wandte sie sich wieder zu ihrem Schützling.
»Waschen is nich, Seife is jetzt teuer. Aber Hunger hab' ich mächtig.«
Margot lachte hellauf über die Ausdrucksweise der kleinen Fremden. Auch Ludwig machte ein belustigtes Gesicht. Lilli aber ward es weniger heiter zumute. Denn zwischen den Rosenbäumchen des Vorgartens schimmerte ein braunes Kleid. Mutter kam nach Haus.
»Guten Abend, Kinder,« rief sie mir ihrer hellen Stimme schon von weitem. »Ist das ein wundervoller Abend heute! Ich denke, wir essen bald, und gehen dann noch ein bißchen an den See hinunter. Das wird dir gut tun, Liliputchen; ganz blaß siehst du heute wieder aus.« Frau Doktor Steffen war inzwischen herangekommen und streichelte besorgt die vor Erregung bleich gewordenen Wangen ihrer Ältesten. Die versuchte fürs erste, ihren kleinen Schützling mit der eigenen Person zu verdecken. Aber da sie selbst klein und zierlich war, gelang ihr das nicht recht. Mutters harmloses »ei, wer ist denn das?« gab den Auftakt zu der gefürchteten Beichte.
»Das ist Ingeborg, Muttchen, die – Kleine aus dem Krögel.« Lilli warf sich wie ein mutiger Schwimmer kopfüber in die Flut der zu erwartenden mütterlichen Vorhaltungen. »Das Kind ist von der Großmutter arg mißhandelt worden, und als ich für sie bat, erreichte ich nur damit, daß die wütende Alte das Kind aus dem Hause wies. Da habe ich sie mit zu uns genommen – ich konnte doch das arme Ding nicht obdachlos auf der Straße lassen.« Das letzte kam nach dem mutigen Anlauf kleinlaut entschuldigend heraus.
Die gefürchteten Vorhaltungen blieben aus. Frau Mieze sagte kein Wort. Sie warf nur einen prüfenden Blick auf den kleinen verwahrlosten Gast und streckte ihm dann freundlich die Hand hin.
»So sei uns vorläufig willkommen, kleine Ingeborg. Vielleicht gelingt es mir, die Großmutter zu versöhnen, daß du bald wieder in deine gewohnte Umgebung zurückkehren kannst.«
»Ne, is nich.« Die kleine Lumpenprinzessin schüttelte energisch den Kopf. »In den dustern Keller bei die schimpfende Olle jeh' ick nich wieder. Ick bleib' hier.«
Lilli errötete beschämt für ihren Schützling, während Margot, die gewohnt war, ihre Großmama mit den zärtlichsten Kosenamen zu belegen, entsetzte Augen machte.
»Das wird sich alles finden, Kind,« schnitt Frau Doktor Steffen die Einwendungen ab. »Lilli, stecke den Gasbadeofen an, daß Ingeborg noch vor dem Essen ein Bad bekommt. Und gib ihr Wäsche und das blauweißgestreifte Matrosenkleid von Margot.« In ihrer bestimmten freundlichen Art erteilte Frau Mieze diese Anweisungen. Kein Zug ihres durch die Kriegskost und die Sorge um ihren Mann schmaler gewordenen Gesichtes zeigte, wie wenig begeistert sie im Grunde genommen von dem kleinen Eindringling war.
Lilli drückte der Mutter dankbar die Hand. Ja, wenn Muttchen kam, wurde alles wieder gut. Ihr war so leicht und froh jetzt wieder ums Herz, daß sie am liebsten die ganze Welt umarmt hätte. Aus diesem Gefühl heraus schlang sie den Arm um die dürftige Gestalt der Kleinen und zog sie mit sich fort.
»Komm, Ingeborg, nun wollen wir dich menschlich machen,« sagte sie lachend.
»Vorsicht, Liliputchen! Ich würde bis nach dem Baden mit Umarmungen warten,« hörte sie den bösen Ludwig noch im Vorbeigehen hinter sich her flüstern.
Es war gar nicht so einfach, die kleine Lumpenprinzessin »menschlich« zu machen. Nachdem Lilli saubere Sachen vom Schwesterchen zurechtgelegt und das Bad eingelassen hatte, stieß sie auf nicht vorhergesehenen Widerstand bei der Kleinen.
»Baden is nich. Aber die Wäsche und dies scheene Kleid wer' ick anziehen,« erklärte sie.
»Nein, Ingeborg, auf einen unsauberen Körper gehört keine reine Wäsche. Das Bad ist die Hauptsache.« So große Überwindung es der vor allem Schmutzigen zurückscheuenden Lilli auch kostete, sie überwand sich und begann mit eigener Hand, das Kind seiner Lumpen zu entkleiden.
»Ick hab' noch nie jebadet – ick hab' ma zu Hause auch bloß immer Jesicht und Hände jewaschen – ick will nich versaufen,« begann Ingeborg sich schreiend zu sträuben.
Aber Lilli war gewöhnt, sogar Schnauzel, der äußerst wasserscheu war, im Waschfaß abzuscheuern. Wurde sie mit dem Dackel fertig, so würde sie es wohl auch mit dem schreienden Nackedei werden.
Ohne viel Umstände zu machen, packte sie das brüllende Kind und setzte es in die Wanne. Himmlischer Vater, was würden Muttchen und die Geschwister bloß zu diesem Freikonzert sagen?
Inzwischen hatte Ingeborg wohl gemerkt, daß ein Bad gar nicht so ein gefährliches Ding ist. Ja, daß man sich darin sogar ganz wohl fühlen kann. Sie hielt im Schreien inne und meinte: »Is janz scheeneken; hier jeh' ick vors erste nich wieder raus!«
Aber als Lilli ihr jetzt mit Schwamm, Seife und Bürste zu Leibe rückte, gab es wieder einen erneuten Kampf.
»Ick kann ma schon janz alleene waschen, au – Se rubbeln ma ja so doll.« Die zweite Nummer des Konzertes erschallte.
Bis zur Küche klang das Geheul, wo die Mutter an Lillis Stelle sich heute selbst ums Abendessen kümmern mußte.
»Na, das kann ja nett werden,« seufzte Frau Mieze recht wenig erbaut von dem neuen Familienzuwachs.
Auch in den Garten bis zu den die Gemüsebeete gießenden Geschwistern zogen die wenig harmonischen Klänge, mitten hinein in den wonnigen Abendfrieden. Ludwig schien nicht übel Lust zu haben, seiner Zwillingsschwester zu Hilfe zu eilen. Margot sprang höchst belustigt umher und rief: »Au, das große Mädel heult noch beim Baden!«
Aber als Ingeborg dann sauber gewaschen und gekämmt mit auf der Veranda bei dem Mohrrübengemüse saß, als man sah, wie es dem hungrigen kleinen Gast schmeckte, wurden die Gefühle der ganzen Familie wieder freundlicher gegen sie. Freilich Lilli, der man die überstandene Aufregung deutlich ansah, aß weniger als sonst. Sie hielt ihre Augen beständig auf die neben ihr sitzende Ingeborg gerichtet. Die schlang das Essen hinein, als ob es im nächsten Augenblick wieder von ihrem Teller verschwinden könnte.
»Iß langsam, es nimmt dir niemand etwas fort,« mahnte sie vergebens leise. Margot blickte mit erstaunten Augen auf das unmanierlich essende Kind, während die Mutter und Ludwig es geflissentlich übersahen. Aber als Ingeborg plötzlich die reine Schürze, die ihr Lilli von Margot vorgebunden, ungeniert als Taschentuch für die Nase benutzte, erhob sich doch ein allgemeines »Pfui!«
Ingeborg merkte nicht einmal, daß es ihr galt. Sie hatte es ja nie anders gekannt.
»Du brauchst den Teller nicht mit den Fingern sauber zu machen, ich gebe dir gern noch etwas Gemüse, Kleine,« unterbrach die Mutter darauf das wenig appetitliche Herumfahren des kleinen Zeigefingers auf dem Teller.
»Ach, Sie sind so jut.« Das dankbare Aufleuchten der Kinderaugen entwaffnete Frau Miezes Unmut.
Aus dem gemeinsamen Abendspaziergange an den See, auf den sich Steffens den ganzen Tag zu freuen pflegten, wurde heute nichts. Durch das Baden war es spät geworden. Jetzt galt es noch ein Bett für den kleinen Gast zu richten.
Auf ihrem Märchensofa droben im Mansardenstübchen bettete Lilli das fremde Kind. »Au Jotte doch, Fräulein, nu schlaf' ick auch mal in ein richtijes Bett wie die reichen Leute.« Zärtlich strich das Kind über das saubere Linnen. Lilli kamen die Tränen in die Augen. Das arme Kind hatte bisher nur ein Lumpenlager kennen gelernt. Das geringste Besitztum eines Armen, ein eigenes Bett, hatte es nicht einmal besessen. Mitleidig neigte sie sich zu dem Kinde herab und küßte es warmherzig auf die Stirn.
»Fräulein, ick jlaube, ick bin schon jestorben, so jut kann man nur in'n Himmel sein,« flüsterte das Kind. Es war das erste Mal, daß jemand es geküßt hatte. »So jut wär' meine Mutter jewiß auch jejen mir, wenn se noch leben täte,« kam noch einmal das leise Stimmchen.
Die scheuen Worte, die deutlicher als alles andere die Vereinsamung der jungen Kinderseele zeigten, gingen mit Lilli mit, als sie später, nachdem auch das Schwesterchen zur Ruhe gebracht war, Arm in Arm mit Mutter und Bruder die Gartenpfade entlangschritt. Sie halfen ihr die Vorhaltungen der Mutter wegen ihrer unüberlegten Einmischung in fremde Verhältnisse mir warmer Bitte zu begegnen: »Muttchen, du magst recht haben, es war leichtsinnig von mir, das Kind seiner einzigen Stütze und Heimat zu berauben. Aber ich bin trotzdem glücklich, es aus diesen entsetzlichen Verhältnissen befreit zu haben. Die Kleine steht ganz allein in der Welt. Bitte, bitte, laß sie bei uns bleiben, bis wir anderweit ein ordentliches Unterkommen für sie gefunden haben.«
»Das ist selbstverständlich, Lilli. Nachdem es einmal hier ist, können wir das arme Kind nicht wieder auf die Straße jagen. Aber du sollst künftig vorher überlegen, ehe du handelst. Es ist nicht gut, Kind, wenn einem das Herz stets mit dem Verstand davonläuft.«
»Ach, Muttchen, du handelst ja auch viel mehr nach deinem Herzen als nach der Einsprache erhebenden Vernunft. Hast du nicht alles, was wir nur irgendwie entbehren konnten, damals für die Flüchtlinge hergegeben? Läßt du nicht, trotzdem es bei uns weiß Gott nicht allzu reichlich ist, die arme Rieke sich alle Freitag ihren Topf Essen holen? Und die viele Zeit, die du deinem sozialen Hilfsverein opferst! Du könntest dir doch auch sagen: Unbezahlte Arbeit – die Zeit kann ich besser verwenden. Aber dein Herz fragt den Verstand gar nicht erst.« Ganz heiß hatte sich die Lilli geredet.
»Nun sieh einer das Mädel an. Doziert hier wie ein Professor. Der Unterschied zwischen uns ist nur der, mein Kind, daß ich stets vorher überlege, kannst und darfst du auch das tun. Du aber überlegst erst, wenn an der Tatsache nichts mehr zu ändern ist.«
»Stimmt – Liliputchen ist ein leichtsinniger Springinsfeld,« entschied Ludwig mit weiser Richtermiene. »Aber das gibt sich mit den Jahren. Das fremde Wurm muß vorläufig mit durchgefüttert werden. Meine Kohlrüben stelle ich jedesmal großmütig zur Verfügung.«
»Damit ist's nicht allein getan, mein Junge. Ich will in wenigen Tagen zum Vater reisen. Meint ihr, ich habe die rechte Ruhe, wenn ich das schlechterzogene Kind hier in Margots Gesellschaft weiß?« Die Mutter stieß einen hörbaren Seufzer aus.
»Wir werden die Krabbe schon inzwischen glänzend erziehen, Mutter. Vormittags schicken wir sie in die hiesige Volksschule, sie muß doch aus ihrer Berliner Schule abgemeldet werden. Von zwei bis fünf spiele ich den Zerberus und bewache sie, daß sie kein Unheil anrichtet. Kommt Lilli dann nach Hause, löst sie mich ab.« Ludwig sah höchst unternehmungslustig drein.
Aber die Mutter war trotz alledem nicht so recht beruhigt. »Laufereien haben wir noch eine ganze Menge dadurch. Ich muß unbedingt persönlich mit der alten Frau, bei der das Kind bisher gewesen, Rücksprache nehmen. Polizeiliche An- und Abmeldungen sind notwendig, Anmeldungen bei der Brotkommission und in der Schule. Mir brummt mein Kopf, wenn ich denke, was ich noch alles vor meiner Reise zu erledigen habe!«
Lilli machte ein schuldbewußtes Gesicht, daß sie der Mutter noch mehr aufgeladen, und versprach eifrig, ihr alles nur irgend mögliche abzunehmen. Wirklich, sie hatte zu vorschnell gehandelt.
Aber dann, im Mansardenstübchen, als Lilli an das Lager der sanft schlummernden Kleinen trat und in dem elenden Kindergesicht den Ausdruck lächelnden Friedens gewahrte, da kam ihr wieder das Gefühl, trotz alledem etwas Gutes getan zu haben.
Von dem alten Märchensofa, auf dem Lillis Blick haftete, lösten sich schemenhafte Gebilde. Sie umwogten das versunkene Mädchen, verdichteten sich zu greifbaren Gedanken. Bis in dem phantastischen Mädchenkopf die Geschichte der kleinen Lumpenprinzessin Form und Gestalt angenommen, bis aus dem armen, herumgestoßenen Kinde eine wirkliche kleine Prinzessin geworden war.