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Die Glocke gab das Zeichen zum Schulschluß. So hell und jubelnd klang sie nur vor den Ferien, ganz besonders vor den großen Sommerferien.
Hurra – frei für fünf lange Wochen! Die Schulbücher flogen in die Mappen. Die Quarta stürmte zur Tür hinaus, denn ein Teil von ihnen benutzte mit den Eltern schon die am Nachmittag abgehenden Sonderzüge. Da hieß es im Galopp heim.
Im Gegensatz zu den Davonstürmenden pendelten vier Quartanerinnen gemächlich vor dem Gymnasium hin und her. So schnell konnten sie sich noch nicht voneinander trennen. Fünf Wochen lang sollten sich die Mitglieder des Kränzchens »Glücksklee« nicht sehen, in verschiedene Richtungen verstreut werden. Ein bitterer Tropfen in all dem Ferienglück.
»Ich freue mich mächtig auf die Nordsee, besonders nachdem ich mich jetzt freigeschwommen habe«, frohlockte Eva.
»In der Nordsee kannst du gar nicht schwimmen. Da ist viel zu starker Wellenschlag«, dämpfte Lore die Freude ihrer »Besten«.
»Wir fahren nach Dievenow an die Ostsee, morgen schon – einfach knorke!« Trotzdem Suse bereits zwölf Jahre alt war, vollführte sie mitten auf der Straße einen kleinen Luftsprung.
»›Dievenow ist doof‹, hat mein Bruder neulich gesagt.« Das war wieder die Lore, die Einschränkungen machte. »Hain im Riesengebirge ist viel interessanter und abwechslungsreicher. Da können wir Wanderungen auf die Schneekoppe und zu den verschiedenen Bauden unternehmen. Und ins Böhmische gehen wir hinüber, wo die Elbe entspringt. Vater hat es uns versprochen. Und . . .«
»Und was wird aus dir, Anneli?« unterbrach Eva die Ferienpläne der Freundin. »Wißt ihr immer noch nicht, wohin die Reise geht?«
Anneli nickte errötend. »Doch – wir reisen in die Umgegend von Berlin. Jeden Tag woanders hin. Vater kann in diesem Jahr eine Sommerreise für uns alle nicht erschwingen. Die Zeiten sind zu schlecht. Da hat Mutti uns versprochen, daß wir die Mark Brandenburg kennenlernen sollen. Wir dürfen abwechselnd Vorschläge für die Ausflüge machen und die Touren selbst ausarbeiten. Das wird fein!« Annelis braune Augen strahlten.
Die Freundinnen schwiegen betreten. Gar nicht fort reiste die Anneli während der großen Ferien? Weder an die See noch ins Gebirge? Das erschien ihnen allen bedauernswert.
»Du Ärmste!« entfuhr es denn auch Lore. »Die Umgegend von Berlin lernen wir doch schon auf Schulausflügen genügend kennen. Das ist bloß was für Sonntags, nicht für fünf Wochen Ferien. Bist wohl mächtig enttäuscht, daß du nicht richtig mit der Eisenbahn verreisen kannst?«
»Nein, gar nicht«, versuchte Anneli möglichst tapfer zu behaupten, trotzdem ihr die Tränen verräterisch in die Augen schossen. Was ihr eben noch so schön erschienen war, hatten Lores wegwerfende Worte getrübt.
»Aber du heulst ja!«
»Ich? – Nicht die Spur!«
»Doch, die Tränen stehen dir ja in den Augen – schwindle doch nicht!« rief Lore triumphierend. – Eva, die für ihre zwölf Jahre besonders verständig war, gab Lore einen heimlichen Puff, der Anneli das Daheimbleiben nicht noch schwerer zu machen.
»Au! Warum knuffst du mich denn?« Lore puffte wieder. Verträglich war sie nun einmal nicht, die Lore Weber.
»Aber Lore, wir wollen uns doch jetzt nicht in den letzten Minuten vor der langen Trennung zanken«, lenkte Eva wiederum ein.
»Na, wenn du immer anfängst.« Tadel konnte Lore nicht gut vertragen, trotzdem sie selbst oft etwas an andern auszusetzen hatte.
»Also, wie halten wir es mit dem Schreiben?« Suse versuchte dem Gespräch eine harmlosere Wendung zu geben. »Ich schlage vor, in jeder Woche einander Nachricht zukommen zu lassen, und wenn es auch nur eine Ansichtskarte ist.«
»Angenommen!« stimmten Eva und Anneli bei.
»Aber meine Geburtstagsbriefe muß ich besonders erhalten, die rechnen nicht mit«, verlangte Lore. »Vergeßt nur den 25. Juli nicht! Vielleicht feiere ich meinen Geburtstag diesmal hoch oben auf der Schneekoppe.«
»Was wünschst du dir von uns, Lore?« erkundigte sich Eva, die Intima. »Wir schenken dir zusammen etwas.«
»Ich wünsche mir nur ein Buch von der Weise, von meiner Lieblingsschriftstellerin. Aber das bekomme ich wahrscheinlich schon von meinen Eltern. Und meinen größten Wunsch, den kann mir doch keiner erfüllen.«
»Warum nicht?«
»Vielleicht ist es gar nicht so teuer . . .«
»Also beichte!« bestürmten sie die Freundinnen.
»Ein Bild – eine Photographie von ihr, der Himmlischen. Ich wäre der glücklichste Mensch, wenn ich ihr Bild auf mein Arbeitspult stellen und immer vor mir haben könnte.«
»Du bist ja vollständig übergeschnappt mit deiner Schwärmerei für die Weise!« – »Du, ihre Bücher sind wirklich gut . . .« – »Na ja, aber deshalb wünsche ich mir doch etwas anderes als ihr Bild zum Geburtstag.« So schwirrte es lebhaft hin und her.
»Ich bekomme es ja auch nicht.« Lores von Natur lustiges Gesicht sah betrübt drein.
»Schreibe ihr doch einfach und bitte sie darum!« schlug Suse vor.
»Menschenskind, du scheinst Tinte getrunken zu haben. Selbst wenn ich es wagen würde, an sie zu schreiben, das Höchste, was ich von ihr erbitten könnte, wäre allenfalls ein Auto–, ein Auto– . . .«
»Was? – Ein Auto willst du von ihr erbitten?« fragte Suse. »Bescheiden bist du gerade nicht.«
»Ach, Unsinn! Ich meine doch ein Auto–, na, wie heißt denn das Ding, wenn man von einer berühmten Persönlichkeit eine eigenhändige Namensunterschrift erhält?«
»Autogramm«, half Eva als Retterin aus der Not. »Weißt du denn überhaupt, wo sie wohnt?«
»Natürlich, mein Bruder Kurt hat im Adreßbuch nachgeschlagen. Berlin-Westend, Insterburger Allee 9.«
»Warum schreibst du ihr denn nicht und bittest sie um so'n Autoding?«
»Keine Traute, Menschenskind.«
»Die Lore traut sich nicht!« – »Die Lore hat auch mal Angst vor etwas!« – »Aber Lore, du hast doch sonst den Mund auf dem rechten Fleck«, riefen die Freundinnen lachend durcheinander.
»Ja, aber meiner geliebten Weise gegenüber, das ist etwas anderes. Ich glaube, wenn ich jemals das Glück haben sollte, sie persönlich zu sehen, kein armseliges Wörtchen würde ich herausbringen«, behauptete Lore.
»Vollständig übergeschnappt!« Suse tippte gegen die Stirn.
Der große Zeiger der Schuluhr hatte inzwischen fast einen halben Kreis zurückgelegt. Die ursprünglich von Schülerinnen bevölkerte Straße hatte sich geleert. Und immer noch pendelte das Kränzchen »Glücksklee« vor dem roten Ziegelsteingebäude auf und nieder. Da holte die Uhr zum Schlage aus, und wie eine Schar aufgescheuchter Spatzen flatterten die vier auseinander.
Noch einen letzten Kuß. – »Vergnügte Ferien!« – »Gute Reise!« – »Vergeßt nicht zu schreiben!« – Lore raste als erste davon.
Die drei andern gingen noch ein Stück des Weges zusammen.
»Ich habe einen Gedanken«, sagte Eva sinnend.
»Schieß los!« Die beiden andern platzten fast vor Neugier.
»Wir schenken der Lore einen schönen Rahmen für das Bild von der Weise zum Geburtstag.«
»Was soll sie denn mit einem Rahmen ohne Bild?«
»Hahaha! – Erst die Nase, dann die Brille.« Suse und Anneli schienen durchaus nicht einverstanden.
»Das Bild, das sich die Lore so brennend wünscht, muß sie natürlich auch bekommen. Wir Kränzchenschwestern müssen dafür sorgen. Das ist Freundespflicht. Halt – ich hab's! Anneli, du machst die besten Aufsätze in der Schule. Du mußt im Namen unseres Kränzchens ›Glücksklee‹ einen Brief an Frau Else Weise verfassen, ihr schreiben, daß sie die Lieblingsschriftstellerin von uns allen, besonders aber von der Lore Weber sei, und daß es Lores größter Wunsch zum Geburtstag sei, ein Bild von Frau Weise zu besitzen. Wenn sie so nett ist, wie ihre Bücher sind, schickt sie der Lore zum 25. Juli ihre Photographie.«
»Guter Gedanke!« stimmte Suse begeistert zu.
»Schreib du ihr doch! Ich muß zu Hause bleiben und soll noch die Arbeit dazu haben«, wehrte sich Anneli.
»Also meinetwegen. Insterburger Allee 9 – war's nicht so? Schön, ich übernehme es.« Nun trennten sich auch die andern Glückskleeblättchen.
Auf Eva war Verlaß. Was sie versprach, hielt sie. Zwei Tage später brachte der Briefträger in die Insterburger Allee 9 ein zartrosa Briefchen mit einem vierblättrigen Kleeblatt verschlossen.
Die Schriftstellerin Frau Else Weise, die gerade damit beschäftigt war, ihre Koffer für die Sommerreise zu packen, hielt damit inne und studierte lächelnd den Inhalt des Glückskleebriefleins. Sie bekam oft solche Kinder- und Jungmädchenschreiben und freute sich stets darüber, wenn ihre jungen Leserinnen ihrer Begeisterung über die gelesenen Bücher durch Zeilen des Dankes Ausdruck gaben.
Aber dieses Briefchen machte ihr besonderen Spaß. Es lautete:
»Sehr verehrte Schriftstellerin!
Bitte halten Sie uns nicht für unbescheiden, wenn wir an Sie schreiben. Wir tun es unserer Freundin Lore Weber zuliebe. Wir alle, das vierblättrige Kränzchen ›Glücksklee‹, sind von Ihren schönen Büchern begeistert und danken Ihnen vielmals dafür. Aber die Lore Weber ist ganz futsch von Ihren Büchern und von Ihnen. Sie schwärmt für Sie. Und ihr größter Wunsch zu ihrem zwölften Geburtstag ist, ein Bild von ihrer Lieblingsschriftstellerin zu besitzen. Bitte, bitte, bitte, schicken Sie doch der Lore Ihr Bild zum 25. Juli, ja? Da hat sie nämlich Geburtstag. Die schnappt bestimmt über vor Wonne. Wir Kränzchenschwestern wollen ihr dann den Rahmen zu dem Bilde schenken. Ihre Ferienadresse ist: Lore Weber, Hain im Riesengebirge. Nehmen Sie uns unsere Bitte nicht übel, aber wir möchten der Lore doch gern eine Freude machen. Es grüßt Sie in dankbarer Verehrung
das Kränzchen ›Glücksklee‹.«
Die Schriftstellerin sah lächelnd auf die noch kindlichen Schriftzüge. Dem »Glücksklee« mußte sie zu seinem Glück verhelfen. Ins Riesengebirge fuhr die Lore? Wie drollig. Dorthin wollte auch sie. Nicht weit von Hain, in Baberhäuser, besaß sie ein Häuschen, wo sie meistens ihre Ferien zubrachte. Am Ende lernte sie ihre kleine Verehrerin gar persönlich kennen. Frau Weise entnahm ihrem Schreibtisch ein Amateurbildchen von sich, steckte es zu dem rosa Briefchen, schrieb darauf »Zum 25. Juli« und schob es in ihre Schreibmappe. Evas Brief reiste mit ins Riesengebirge. –
Hain ist ein idyllisch zwischen Wäldern und grünen Matten verstreutes Bergdorf, vom silberhellen Bach durchsprudelt. Die Webersche Familie war von ihrem Sommeraufenthalt dort vollauf befriedigt. Sie hatte ein nettes Unterkommen gefunden. Auf der großen Wiese hinter dem Hause tummelten sich die Weberschen Kinder mit den Wirtskindern, mit Ziegen, Katzen und Lumpel, dem Hunde, in ungebundener Ferienfreiheit. Tonangebend war stets Lore. Sie beherrschte selbst den um zwei Jahre älteren Bruder Kurt, von der neunjährigen Gitta gar nicht zu reden. Was sie wollte, mußte gespielt werden. Hatten die Geschwister einmal andere Wünsche, so mußten sie ihr diese unbedingt unterordnen, sonst wandte sie ihnen den Rücken und spielte nicht mehr mit.
Erstaunt sahen die semmelblonden Wirtskinder, wie unverträglich das Stadtmädel war. Mariele, Fritzel und Peterle waren auch keine Engel und rauften gelegentlich miteinander, um ihre Jugendkräfte gegenseitig zu messen. Aber dann waren sie wieder ein Herz und eine Seele, und was das eine wollte, wollte auch das andere.
Dabei konnte man der Lore gar nicht lange böse sein. Es ging ihr hier in Hain mit den Dorfkindern genau so wie daheim bei den Schulfreundinnen. Trotz ihrem rechthaberischen, unverträglichen Wesen mochte man sie gern. Sie konnte, wenn sie wollte, so lieb und nett, so lustig und ausgelassen sein, daß die Spielgefährten dann wieder vergaßen, wie herrschsüchtig sie sich oft benahm.
Es war ein herrlicher Sommer in Rübezahls Reich. Die Weberschen Kinder waren so braungebrannt wie die Dorfbuben und -mädel. Sie halfen bei der Heuernte. Kurt durfte sogar die Sense beim Mähen schwingen, während die Mädchen das gemähte Gras zusammenrechen sollten. Diese Arbeit paßte Lore nicht. Was Kurt konnte, wollte sie auch machen. Ein Streit um die Sense erhob sich zwischen den Geschwistern. O weh! – Rotes Blut tropfte aus Lores Hand.
»Du hast mich geschnitten! – Au weh – au weh! – Wie das blutet, das sag' ich aber Mutti.« Heulend lief Lore davon.
»Du hast mir ja die Sense weggerissen!« Kurt eilte, sich verteidigend, erschrocken hinterher. Denn solch Ding war scharf, da konnte leicht ein Unheil geschehen.
»Zeig her! Ist's in den Finger gegangen?«
Aber Lore hörte nicht; sie hatte ihr Taschentuch um die blutende Hand gewickelt und lief laut schreiend zum Hause zurück, Gitta, vor Schreck ebenfalls weinend, und die Wirtskinder nebst Lumpel hinter den Großen drein.
Die Eltern genossen in ihren Liegestühlen im Garten die warme Höhensonne und den herrlichen Blick auf die zartblaue Bergkette.
»Ist das ein Frieden hier«, sagte Frau Weber dankbar. »Man kann sich den Großstadtlärm gar nicht mehr vorstellen.«
Da wurde der Frieden jäh unterbrochen.
»Mutti – Mu–utti!« Sobald Lore der Eltern ansichtig wurde, schrie sie noch lauter als zuvor. »Mutti, der Kurt hat mir mit der Sense meine Hand . . .«
»Um's Himmels willen!« riefen die Eltern. »Was ist's mit der Hand? Zeig her, Kind!«
»Es ist sicher nicht so arg«, wagte Kurt zu beruhigen.
»Der Finger ist bestimmt ab«, rief Lore heulend und versuchte vergeblich, das an der Wunde festklebende Taschentuch zu entfernen.
»Barmherziger!« Frau Weber erbleichte, während Gitta, Mariele, Fritzel und Peterle mit Lore um die Wette heulten. Inzwischen hatte Herr Weber gereinigten Alkohol und Wundwatte, die er auf Reisen stets mit sich führte, herbeigeholt. Behutsam löste er das Taschentuch von der immer noch blutenden Wunde. Lore schrie wie am Spieß.
»Es ist nicht so schlimm«, wandte sich Herr Weber aufatmend zu seiner verängstigten Frau. »Nur ein Fleischschnitt, nicht einmal arg tief. Eine Sehne kann nicht getroffen sein. Kinder, hört auf mit dem ohrenzerreißenden Gebrüll! Alle fünf Finger sind noch dran an der Hand.«
»Hab' ich mir ja gleich gedacht«, frohlockte Kurt sichtlich erleichtert.
»Du bist schuld, nur du – warum hast du mir die Sense nicht gegeben?« Nachdem festgestellt war, daß der Finger wirklich noch an der Hand war, wandelte sich Lores Schmerz in Empörung gegen den Bruder.
»Na, nu hör aber auf! Du hast mir ja die Sense weggerissen. – Sensen sind überhaupt nur was für Männer«, begehrte jetzt auch Kurt auf. Ein Lamm war er auch nicht.
»Kinder, müßt ihr euch denn schon wieder zanken! Kurt, ärgere die Lore nicht, sie hat doch Schmerzen an der Hand«, begütigte die Mutter, innerlich froh, daß es nicht schlimmer abgelaufen war. »Komm, mein Kind, ich mache dir einen Verband!«
»Natürlich, das Goldkind bekommt wieder recht. Tut immer so, als ob es kein Wässerlein trüben könnte, und ist dabei stets der Zankdeibel.«
»Was? – Wo du mir meine Hand zerschnitten hast?« Lore schien nicht übel Lust zu haben, mit der unverwundeten Linken einen Boxkampf gegen den Bruder zu eröffnen. Zum Glück hielt die den Verband wickelnde Mutter sie fest.
Die Dorfkinder hatten mit aufgerissenen Augen den Streit zwischen den Stadtkindern mit angehört. »Wenn du asu brüllen tust, dann holt dich halt der Herr Rübezahl«, sagte Fritzel mahnend. Peterle guckte ängstlich hinter den blühenden Jasminbusch.
Da stand kein Rübezahl am Wege, wohl aber eine Dame, die im Vorübergehen Zeugin der aufregenden Begebenheit geworden war. Sie hatte ein liebes, junges Gesicht und sah mitleidig auf die kleine Verwundete. Jetzt grüßte sie, zog aus einer Tasche eine Tafel Schokolade und reichte sie Lore über den Zaun hinüber.
»Hier hast du ein Pflaster auf die Wunde, Kind. Diese Friedensschokolade verzehrst du mit dem Bruder gemeinsam zur Versöhnung, nicht wahr? Und den übrigen Kindern gibst du auch etwas davon!« Ehe Lore noch errötend ihren Dankesknicks gemacht hatte, grüßte die Dame die Eltern und schritt den Bergpfad weiter hinauf zur »Goldenen Aussicht«.
»Ist das liebenswürdig von einer Fremden!« meinte Frau Weber.
»Sie muß wohl erst angekommen sein oder nur einen Spaziergang hierher unternommen haben. Ich habe die Dame noch nicht hier in Hain gesehen«, bemerkte der Vater.
Kurt gab Lore, die ihre Tränen getrocknet hatte und mit ungewöhnlicher Nachdenklichkeit auf die Tafel Schokolade starrte, einen kleinen Puff mit dem Ellbogen. »Du – die sollen wir zur Versöhnung zusammen essen, hat die Dame gesagt«, erinnerte er.
»Meinetwegen kannst du sie allein essen, mir liegt nichts dran«, sagte Lore wegwerfend. Sie schämte sich, daß die Fremde den Streit mit dem Bruder beobachtet hatte. Ob sie auch das häßliche Wort »Zankdeibel« gehört hatte?
»Au knorke!« rief Kurt begeistert. Und da hatte er der Schwester auch schon die Schokolade entrissen und eilte damit die Bergmatte aufwärts, sämtliche Kinder, selbst die verwundete Lore, rufend und schreiend hinterdrein.
»Du darfst sie nicht allein essen!« – »Wir sollen halt auch was davon haben!« – »Gelt, du gibst uns was, Kurtel?«
»Mir gehört sie, ich soll sie verteilen«, begehrte Lore auf, der ihr großmütiger Verzicht schon wieder leid war.
»Was geschenkt ist, bleibt geschenkt.« Kurt hielt die Schokolade in unerreichbarer Höhe. Die Kinder sprangen danach mit Lumpel um die Wette, bis Kurt die Schokolade großmütig verteilte und sich selbst nicht vergaß. –
Lores Wunde heilte rasch zu, aber der geschwisterliche Frieden bekam inzwischen wieder manchen Riß.
Eines Tages hatten die Eltern Freunde in Schreiberhau aufgesucht. Da die Fahrt dorthin mit den drei Kindern zu teuer war, hatten sie die Erlaubnis erhalten, am Nachmittag einen Spaziergang nach Hainbergshöh zu unternehmen. Kurt, als Ältestem, war eine Mark für drei Windbeutel eingehändigt worden, die dort besonders gut waren. Einträchtig machten sich Webers drei auf den Weg. Doch kaum hatte man die Häuser von Hain hinter sich, da behauptete Lore, daß es näher sei, über Baberhäuser zu gehen, während Kurt dafür stimmte, den Weg durch das Bächletal zu nehmen.
»Aber Lore, das kannst du dir doch an allen fünf Fingern abzählen, daß es über Baberhäuser ein Umweg ist. Der Bächletalweg schneidet als Diagonale das Dreieck, das du umgehen willst«, rief der Obertertianer eifrig.
»Quatsch mit deiner dummen Geometrie! Ich werde dir beweisen, daß es näher über Baberhäuser ist. Wir gehen jetzt zu gleicher Zeit los, du durchs Bächletal, ich über Baberhäuser. Dann werden wir ja sehen, wer eher da ist.« Wenn Lore etwas behauptete, ließ sie keine andere Meinung gelten.
»Gut, wetten wir! Um – na, um was denn gleich? Halt – um einen Windbeutel. Wer später anlangt, bekommt keinen Windbeutel, sondern der Sieger erhält ihn als Preis. Einverstanden?« Kurt hielt der Schwester die Hand hin.
Nur einen kleinen Augenblick zauderte die Lore. Wenn sie nun die Wette verlor – die Windbeutel waren so gut in Hainbergshöh – ach was, sie mußte eben gewinnen. Sie würde schon vor Kurt dort eintreffen.
»Einverstanden!« sagte sie und besiegelte die Wette mit einem Handschlag.
»Und Gitta? Mit wem hältst du's, Gitta?« fragte Kurt die Kleine.
»Mit dir.« Das Schwesterchen hängte sich an den Arm des Bruders. »Du hast ja auch das Geld für die Windbeutel.«
»Schlaukopf!« rief Kurt lachend, während Lore sich ärgerte, daß Gitta dem Bruder den Vorzug vor ihr gab.
»Also, ich zähle bis drei. Dann geht's los. Aber nicht schneller gehen als so« – Kurt machte ein paar Probeschritte – »mogeln ist nicht!«
»Ehrensache!« pflichtete Lore bei.
»Eins – zwei – drei« – da schoß das Webersche Trio davon. Solange man noch in Sehweite war, winkten sie sich zu. Als Lärchenbäume den Ausblick sperrten, kam bald von hüben, bald von drüben ein lautes »Juhu«, bis es immer leiser und leiser wurde.
Der Weg nach Baberhäuser führte durch schattigen Wald. Er war gut bezeichnet, auch hatte ihn Lore schon mit den Eltern gemeinsam gemacht. Aber als sie jetzt ganz allein unter den hohen Bergföhren, Tannen und Lärchen dahinlief – ja, lief, denn den Windbeutelpreis mußte sie erringen –, da war ihr doch etwas beklommen zumute. Sonst hatte man doch immer Sommergäste und Touristen hier getroffen. Heute schien der Weg wie ausgestorben. Irgendwo hörte man die Axt von Holzfällern. Lore beschleunigte ihren Schritt noch mehr. Es war ihr ungemütlich, so allein in dem großen Wald. Sie hätten doch lieber alle drei beisammenbleiben sollen. Warum mußte Kurt auch die dumme Wette vorschlagen! Wieder gab Lore einem andern die Schuld, während sie selbst doch behauptet hatte, ihr Weg sei der nähere, und es dem Bruder beweisen wollte.
Es roch nach Pilzen. Sicher gab es hier zwischen den großen Felsblöcken Steinpilze. Vater aß sie so gern. Wie schön, wenn sie die Eltern mit einem Gericht hätte abends überraschen können. Kurt kannte die guten und die Giftpilze ganz genau. Ach, wären sie doch beieinandergeblieben! Dann hätten sie Pilze sammeln können, und sie brauchte nicht wie gejagt den Weg durch den dichten Wald entlang zu hetzen.
Knacks – es knackte im Unterholz –, etwas Graubraunes sprang vor Lore mit eiligen Sätzen über den Weg – ein harmloses Häslein. Das zweibeinige Häschen schrie vor Schreck laut auf und sprang noch schneller als das vierbeinige davon.
Der Wald lichtete sich. Der Weg führte jetzt über eine sonnige Halde. Blumen standen allenthalben, zarte Waldanemonen, goldener Löwenzahn, blaue Glockenblumen und brennendroter Mohn. Lore begann zu pflücken. Sie brachte ihrer Mutti so gern einen hübschen Strauß für den Tisch mit heim. Aber plötzlich hielt sie erschrocken inne. Der Windbeutel! Sie mußte weiter, es blieb ihr ja keine Zeit, Freude an dem Spaziergang zu haben. Jenseits der Halde führte der Weg schon wieder in den Wald hinein. So weit war er Lore damals mit den Eltern nicht erschienen. Da waren sie doch viel schneller in Baberhäuser gewesen. Hatte sie sich etwa verlaufen und einen falschen Weg eingeschlagen? Phantastische Gedanken kamen der Lore. Die Wirtskinder hatten allerlei Schabernack vom Berggeist erzählt. Daß er sich in Felsblöcke oder Wurzeln verwandele, um den Wanderer zum Straucheln zu bringen; daß er die Wege nach Belieben abkürze oder verlängere und so manchen in die Irre geführt habe. Sie war ja schon viel zu groß, um noch an Rübezahlmärchen zu glauben; aber dennoch, wenn man im Riesengebirge so allein durch einen dunklen Wald geht, dann kann es einem, wenn man auch schon bald zwölf Jahre alt ist, passieren, daß man vor einem harmlosen Förster entsetzt Reißaus nimmt. Als Förster verkleidet sich Rübezahl besonders gern, und einen langen weißen Bart hatte er auch, wie ihn sonst kein Mensch mehr trug.
Aber als Lore im Dauerlauf jetzt den Waldsaum erreichte und vor sich in dem sonnigen Wiesengrunde die wie Spielzeug verstreuten Häuslein von Baberhäuser erblickte, schämte sie sich ihrer kindischen Furcht. Gut, daß Kurt und Gitta ihre Flucht nicht mit angesehen hatten. Das hätte sonst endlose Neckereien gegeben.
Ganz erschöpft war die Lore. Am liebsten hätte sie sich am Waldrain unter einer schattigen Bergföhre angesichts der Schneekoppe niedergelassen und sich erholt. Die Sonne brannte heiß. Und der Weg durch Baberhäuser, der noch vor ihr lag, bot keinen Schatten. Landleute waren auf der Wiese bei der Heuernte. Unwillkürlich fühlte Lore beim Anblick der im Sonnenlicht blitzenden Sense wieder einen Schmerz in ihrer verheilten Wunde. Im Zusammenhang damit dachte sie an die Dame, die ihr das Schokoladenpflaster geschenkt hatte. Sie hatte sie nie wieder getroffen.
»Wie weit ist's noch bis Hainbergshöh?« rief sie zu den Schnittern hinüber.
Die dengelten ihre Sense und hörten nicht. Aus einem braunen Holzhäuschen mit lustigbunten Blumen vor den Fenstern und leuchtendblauen Fensterläden trat eine Dame. »Noch eine gute halbe Stunde«, antwortete sie an Stelle der Landleute. »Aber man kann den Abkürzungsweg hier am Waldrand entlang wählen, doch der ist leicht zu . . . « Da stutzte die Sprecherin plötzlich. »Ei, bist du nicht die kleine Verwundete von neulich aus Hain?« fragte sie.
Lore nickte und wurde noch röter, als sie ohnedies schon war. Sie hatte die Dame mit dem lieben Gesichtsausdruck gleich wiedererkannt. Wie peinlich, daß sie die Fremde, die mit angehört haben mußte, daß Kurt sie einen Zankdeibel genannt hatte, hier wieder traf. Durch den Vorgarten, in dem bunte Bauernblumen üppig wucherten, trat die Dame zu Lore hinaus.
»Du bist ja ganz erschöpft, Kind«, sagte sie liebreich. »Komm herein, trinke ein Glas kühle Milch und erfrische dich bei mir!«
Wie gern hätte Lore die freundliche Aufforderung angenommen! Aber der Windbeutel! Sicher kam sie schon zu spät.
»Danke; aber ich muß weiter, man erwartet mich in Hainbergshöh.« Ein eiliger Knicks, und sie schoß davon.
»Halt, Kind, du bist auf dem falschen Weg! Da kommst du ja nach Brückenberg. Warte, ich gehe mit dir und zeige dir den Abkürzungsweg! Ich wollte sowieso heute in Hainbergshöh Kaffee trinken.«
»Das geht nicht – das geht wirklich nicht«, stotterte Lore verlegen, als die Dame nun in gemächlichem Schritt sie auf einen andern Weg geleitete. »Ich habe nämlich schreckliche Eile.«
»Was hast du denn in Hainbergshöh zu versäumen?« fragte die Fremde lächelnd.
»Die Windbeutel«, stieß Lore verzweifelt hervor. »Ich komme sicher schon zu spät.«
»Nun, dann gibt's ja auch noch andern Kuchen dort, wenn die Windbeutel schon vergriffen sind. Also solch ein Naschmäulchen bist du?«
»Wir haben doch gewettet, mein Bruder Kurt und ich, wer eher in Hainbergshöh ist. Ich bin über Baberhäuser gegangen und der Kurt durchs Bächletal. Wer die Wette gewinnt, bekommt den Windbeutel von dem andern.« Lore begann in ihrer Aufregung wieder zu traben, ohne Rücksicht auf die Begleiterin.
Die Dame lachte belustigt. »Nicht so eilig, Kind! Ohne mich schlägst du bestimmt den falschen Weg ein und kommst trotz deinem Rennen später an, als wenn wir miteinander den Abkürzungsweg gehen. Aber ich fürchte, dein Bruder ist bereits am Ziel. Durch das Bächletal ist es entschieden näher.«
»Ausgeschlossen. Neulich mit den Eltern sind wir über Baberhäuser so schnell hingekommen. Ich muß mich heute verlaufen haben.« Lore gab wieder einmal nicht zu, daß sie unrecht hatte.
»Du kannst dich schon darauf verlassen, Kind. Ich habe hier mein Häuschen und kenne ringsum Weg und Steg«, erklärte die Dame.
Lore ärgerte sich. Das hörte sich ja beinah wie ein Verweis an. Und nun würde ihre Begleiterin auch noch von ihrer Niederlage dem Bruder gegenüber Zeugin werden. So ein Pech! Das junge Mädchen verstummte vor Ärger und Abspannung.
Die fremde Dame beobachtete ihre stumme kleine Wandergenossin mit verständnisvollen Blicken. Sie verstand sich auf Kinderseelen. Gar nicht merken, ruhig gewähren lassen. Das war das beste. Auch sie schwieg. Jetzt war es Lore, die heimlich Seitenblicke zu ihrer Führerin hinwarf. Sie sah eigentlich riesig nett aus, trotzdem Lore sie wirklich nicht recht leiden konnte.
Da tauchte schon das Gasthaus Hainbergshöh vor ihnen auf. Die Fremde unterbrach das Schweigen. »Nun muß mir meine junge Freundin aber noch sagen, wie sie heißt.«
»Lore Weber«, stieß die Lore heraus und rannte davon zur Aussichtsterrasse. Sie sah nicht das überraschte Lächeln, das bei Nennung des Namens über das Gesicht der Dame gehuscht war. Ihr ganzes Denken gipfelte nur darin: waren die Geschwister schon da? Hatten sie ihren Windbeutel etwa schon mit aufgegessen?
Ja, da saßen die beiden an einem der vollbesetzten Tische. Kurt kam ihr entgegen. »Gut, daß du da bist, Lore. Wir sind bereits seit einer halben Stunde hier. Ich habe mir schon Sorge gemacht, weil ich dich habe allein gehen lassen.«
»Quatsch«, sagte Lore, »ich bin doch schon groß.« Daß sie sich unterwegs gefürchtet hatte, hätte sie niemals zugegeben. »Wo ist mein Windbeutel?«
»Hier«, sagte Kurt verschmitzt, sich den Magen reibend. »Ich bin doch der Sieger. Gitta hat die Hälfte davon abbekommen.«
»Das – das ist eine Gemeinheit!« rief Lore unbeherrscht, gerade in dem Augenblick, als die Dame aus Baberhäuser ihren Tisch erreicht hatte und freundlich fragte: »Es ist doch erlaubt, hier Platz zu nehmen?«
»Bitte sehr.« Kurt schlug kavaliermäßig die Hacken zusammen und machte seine Verbeugung. Gitta knickste. Lore aber brach vor Erschöpfung und Enttäuschung in Tränen aus. »Meinen Windbeutel will ich haben«, schluchzte sie. »Ihr hattet kein Recht, ihn mir wegzufuttern.« An Lores Tränen war der Ärger über die verlorene Wette mehr schuld als der Windbeutel.
»Aber Kind, deshalb brauchst du doch nicht zu weinen«, beruhigte die Dame das erregte Mädchen und winkte einer Kellnerin. Sie bestellte einen Kaffee mit Windbeutel.
»Siehst du, das kommt davon, weil du so rechthaberisch bist«, zog Kurt die weinende Schwester auf.
»Nein, das kommt davon, weil ihr so neidisch seid.« Der Streit war wieder einmal in vollem Gange.
Da kam die Kellnerin mit dem Bestellten. Die Dame nahm die Tasse Kaffee und schob der weinenden Lore den Windbeutel zu.
»So, Lore, nun trockne deine Tränen, hier ist Ersatz!« sagte sie. »Laß es dir schmecken, Kind!«
Lore schüttelte den Kopf. Sie schämte sich, sich so kindisch benommen zu haben, daß eine Fremde ihr einen Windbeutel geben ließ.
Inzwischen hatten sich Kurt und Gitta geheimnisvoll zugeblinzelt. Die kleine Schwester nahm ihren weißen Strohhut vom Tisch. Darunter verborgen stand – ein zweiter Windbeutel, dick mit Zucker bestreut.
»Nanu?« sagte Lore, verdutzt von einem Windbeutel zum andern sehend. »Was bedeutet das?«
»Das bedeutet, daß wir dich bloß ein bißchen haben zappeln lassen wollen, weil du immer recht behalten willst«, erklärte Kurt.
»Wir haben deinen Windbeutel ja gar nicht aufgegessen«, bemerkte Gitta.
Auch die fremde Dame stimmte in das Lachen ein. »Nun, da bekommt die Lore noch obendrein zur Belohnung zwei Windbeutel.«
Ringsum an den Nebentischen war man aufmerksam geworden. Alles lachte. Das war zuviel für Lore. Ausgelacht werden – nein, das ließ sie sich nicht gefallen. Da hätte sie es den Geschwistern noch weniger übelgenommen, wenn sie den Windbeutel wirklich verzehrt hätten. Lore sprang so ungestüm von ihrem Stuhl auf, daß der Kaffee der an ihrem Tisch sitzenden Dame aus der Tasse schwappte.
»Ich esse überhaupt keinen Windbeutel, ich gehe nach Hause«, sagte sie möglichst großartig, damit es die Umsitzenden, die über sie gelacht hatten, auch hörten. Sie überlegte gar nicht, daß sie sich dadurch erst recht lächerlich machte. Ohne der netten Dame für ihre Führung und für den verschmähten Windbeutel zu danken, war sie auf und davon.
Zu Hause fanden sie die Geschwister in Tränen aufgelöst.
»Ihr seid schuld, ihr habt mich vor allen Leuten lächerlich gemacht.«
Kurt tat die Schwester und der mißglückte Ausflug leid. »Warum bist du nur fortgelaufen! Hättest dir ruhig die beiden Windbeutel schmecken lassen sollen; so haben Gitta und ich es an deiner Stelle getan. Aber danken hättest du der netten Dame auf alle Fälle müssen, daß sie dir den Windbeutel geschenkt hat.«
Kurt hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Das war es, was Lore im Grunde wurmte: daß sie sich unhöflich und undankbar benommen hatte. Was mußte die Fremde von ihr denken? Hoffentlich trafen sie sich nie wieder.
Von nun an machte Lore stets einen Bogen um Baberhäuser. Aber eines Tages – Lore hatte den Windbeutelschmerz inzwischen verwunden – saß sie mit einem Buch ihrer Lieblingsschriftstellerin auf einer Bank am Waldbach. O Schreck – da kam die fremde Dame aus Baberhäuser vorüber. Schon von weitem hatte Lore sie erkannt. Ihr erster Gedanke war, fortzulaufen; ihr zweiter, sitzenzubleiben und so zu tun, als ob sie ganz vertieft in ihr Buch wäre und keinen Menschen sähe.
Herzklopfend fühlte Lore, wie die Dame näher kam. Blieb sie nicht vor ihr stehen? Verräterische Röte überzog Lores Gesicht bis zu dem braunen Haaransatz. Aber sie las – las und wußte kein Wort von dem, was sie gelesen.
»Na, Lore, ist das Buch schön?« hörte sie da die Fremde fragen.
Die versunkene Leserin sprang auf und knickste verlegen. »Ja, himmlisch. Es ist von der Weise, meiner Lieblingsschriftstellerin.«
»So – das freut mich.« Es mußte wohl etwas Merkwürdiges in dem Lächeln, das diese Worte begleiteten, liegen; denn Lore, die sich noch eben bei der Dame nachträglich für ihre Freundlichkeit neulich in Hainbergshöh bedanken wollte, starrte der Weitergehenden verdutzt nach. Was ging denn die das an, wer ihre Lieblingsschriftstellerin war!
Die Ferientage vergingen. Von den Kränzchenschwestern waren schon verschiedene Kartengrüße eingetroffen. Zum Fünfundzwanzigsten würden sie gewiß Briefe schreiben. Lore zählte schon die Tage bis zu ihrem zwölften Geburtstag.
Die Geschwister taten sehr geheimnisvoll. Sie gingen mit den Wirtskindern Heidekraut pflücken, um für das Geburtstagskind Girlanden zu winden. So kam der 25. Juli heran. Goldener Sonnenschein lachte vom Himmel, und die heute zwölfjährige Lore lachte mit der Sonne um die Wette.
Auf der Veranda brannten zwölf bunte Lichtchen um ein dickes rotes Lebenslicht. Der Tisch war mit Girlanden und Blumen geschmückt. Dazwischen lagen die Gaben von Eltern und Geschwistern.
»Das neue Buch von der Weise, – au, fein!« Das war das erste, was Lore sah. Ohne ihre andern Geschenke zu betrachten, fiel sie den Eltern voller Dankbarkeit um den Hals. Denn Lore konnte auch sehr nett sein, wenn sie wollte.
»Und das Ansichtskartenalbum ist von mir«, erinnerte Kurt.
»Und ich habe dir die Stocknägel geschenkt«, fiel Gitta stolz ein. »Du hast sie dir doch für deinen Bergstock gewünscht. Sieh nur, Lore: die Schneekoppe, der Kleine Teich, Hain, die Baberhäuser und die Kirche Wang, all die Orte, wo wir gewesen sind.«
Baberhäuser – das Wort gab Lore einen Stich ins Herz. Mußte sie auch gerade heute am Geburtstag an die dumme Begebenheit erinnert werden?
Aber die hübschen Dinge, die sich sonst noch auf dem Gabentisch vorfanden, ließ sie die peinliche Erinnerung rasch wieder vergessen.
»Nun erst die Briefe! Aus Dievenow, Berlin, Sylt; unser Kleeblatt hat pünktlich geschrieben. Aber was ist denn das für ein Brief?« Lore hielt verwundert einen länglichen Briefumschlag in der Hand.
»Zeig mal den Poststempel her!« rief Kurt neugierig.
»Kann man nicht erkennen, er ist verlöscht.« Lore hatte bereits den Umschlag geöffnet. Erwartungsvoll zog sie den Inhalt heraus. Ein Briefbogen war es, mit wenigen Worten beschrieben: »Meiner jungen Verehrerin Lore Weber die herzlichsten Geburtstagsgrüße von Else Weise.«
»Von wem?« Lore traute ihren Augen nicht. »Ein Autogramm! – Mutti – Vati – ich habe einen Glückwunsch von meiner geliebten Weise zum Geburtstag bekommen –; ach, ich bin ja der glücklichste Mensch auf der Welt!« Die Lore war ganz aus dem Häuschen. Sie sprang mit dem kostbaren Briefbogen jubelnd umher.
Da fiel aus dem inneren Bogen etwas zur Erde. Lore bückte sich voller Erwartung.
»Nanu?« Sie starrte mit weit aufgerissenen Augen auf ein Bild in ihrer Hand. Es war ein kluges und liebes Frauengesicht, auf das Lore so entsetzt starrte.
»Das ist ja die Dame aus Baberhäuser!«
»Das ist ja unsere Windbeuteldame!« riefen die Geschwister nicht weniger erstaunt.
»Aber um's Himmels willen, wie kommt denn die zu meiner Lieblingsschriftstellerin, der Weise?« Lore begriff den Zusammenhang noch immer nicht.
»Mensch, das ist doch klar wie Kloßbrühe!« rief Kurt aufgeregt. »Die Dame aus Baberhäuser, das ist eben die Schriftstellerin Weise.«
»Nein – nein!« schrie Lore auf. »Nein, das kann doch nicht sein, das wäre ja furchtbar!«
Aber auch die Eltern bestätigten Kurts Vermutung. Und wenn noch der geringste Zweifel bestanden hätte, dann machte der Brief von Freundin Eva ihn zunichte.
»Hoffentlich hat die Weise dir auf unsere Bitte hin deinen größten Wunsch erfüllt und dir zum Geburtstag ihr Bild geschenkt. Von uns bekommst du den Rahmen dazu.« Lore vermochte nicht weiterzulesen. Sie schlug die Hände vor das Gesicht, so sehr schämte sie sich. Gegen keinen Menschen hatte sie ein so schlechtes Gewissen wie gegen die Dame aus Baberhäuser. Und das war ihre angebetete Weise, gegen die sie sich so ungehörig benommen hatte!
Mutti war rettender Engel. Auf ihren Rat ging das geknickte Töchterchen noch am selben Vormittag zu dem ängstlich gemiedenen Blumenhäuschen in Baberhäuser, um Frau Weise persönlich für den Geburtstagsgruß zu danken und nachträglich um Entschuldigung für ihr so wenig nettes Benehmen in Hainbergshöh zu bitten.
Mit strahlenden Augen und einer Einladung für die ganze Familie Weber zum Sonntagskaffee mit Windbeuteln kehrte Lore von diesem Ausflug zurück. Jetzt erst vermochte sie sich ihres Geburtstags zu freuen. –
Auf Lores Arbeitspult in Berlin steht auf einem Ehrenplatz das Bild ihrer Lieblingsschriftstellerin in dem vom »Glücksklee«-Kränzchen gestifteten Rahmen. Es ist eine Erinnerung für sie, nicht wieder in ihren alten Fehler zu verfallen. Aus der rechthaberischen Lore wurde von nun an ein liebenswürdiges, verträgliches Mädchen.