Else Ury
Wir Mädels aus Nord und Süd
Else Ury

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Susi, der Bücherwurm

Draußen schneite es. Stetig, gleichmäßig flockte es hernieder in endlosem Weiß. Alle harten Formen da draußen, das spitzgiebelige Haus, der mit kahlen Ästen in die Luft greifende Baum, wurden weich und gelöst unter dem lichten Flockenpinsel. Das schneeige Samtpolster auf der Fensterbrüstung wuchs von Sekunde zu Sekunde.

Drinnen in dem Mädchenstübchen breitete die Dämmerung bereits ihre grauen Tücher aus. Nur der am Fenster stehende Arbeitstisch, an dem ein etwa vierzehnjähriges Mädchen das stubenblasse Gesicht über die Schulbücher neigte, erhielt noch etwas Schneelicht von draußen. Krumm wie ein Fiedelbogen saß die Susi über ihren Mathematikaufgaben und rechnete mit x und y, daß ihr der Kopf rauchte.

Sie sah nicht, wie der Winter draußen aus farbloser Landschaft ein alabasterschimmerndes Zaubermärchen schaffte. Von der Straße schallte das Lachen und Kreischen sich schneeballender Kinder herauf in das stille Stübchen. Ärgerlich runzelte Susi die Stirn. Himmel, wer sollte denn bei solchem Gejohle arbeiten? Immer verwilderter wurden diese Rangen! Ach, und wie toll es jetzt wieder draußen schneite! Da mußte man Überschuhe anziehen, wenn man morgen früh zur Schule ging. Richtiges Grippewetter!

Sie griff zu dem lateinischen Buch und begann zu übersetzen. Eine Winterfliege summte in ihre Arbeit hinein. Selbst das leise Summen der Fliege störte sie. Die Zeigefinger in die Ohren gestopft, begann sie zu übersetzen. So vertieft war sie, daß sie nicht einmal hörte, wie draußen die Türklingel ertönte.

Rasche Schritte näherten sich ihrem Zimmer – horch, helle Mädchenstimmen! Susi hob den Kopf und spitzte die Ohren. Und da wurde auch schon die Tür zu ihrem Stübchen aufgerissen. Hannelore und Steffi, die beiden Freundinnen, steckten lachend den Kopf zum Zimmer hinein.

»Natürlich, dacht' ich mir's doch. Da sitzt der Bücherwurm tatsächlich wieder über den Büchern. Mädel, Susi, bist du denn von allen guten Geistern verlassen, daß du bei diesem herrlichen Schneetreiben im Zimmer hockst? Rasch, klapp die Bücher zu und zieh dich an! Wir wollen aufs Eis. Es spielen heute zwei Kapellen«, rief die Hannelore, mit den Schlittschuhen rasselnd.

»Aufs Eis – bei solchem Unwetter?« Susi schüttelte sich. »Viel Vergnügen, Kinder! Ich ziehe es vor, in meinem gemütlichen, warmen Stübchen zu bleiben.«

»Aber Susi, du bist doch nicht aus Zucker. Nichts Lustigeres gibt es als solch ein tolles Schneewetter. Es wird sicher herrlich. Nächsten Sonntag können wir unsere neuen Weihnachtsschneeschuhe einweihen. Schade, daß du keine Lust zum Schneeschuhsport hast«, meinte auch Steffi überredend.

»Zum Schlittschuhlaufen habe ich ebensowenig Lust. Da auf dem Eis herumzukrebsen, zu frieren und sich vielleicht gar eine Erkältung zu holen – brrr!« Schon in Gedanken fröstelte Susi.

»Warum frierst du denn, warum macht dir denn Eislaufen kein Vergnügen, Susi? Weil du's nicht übst, weil du nicht aufs Eis zu bringen bist. Wenn du so gut laufen könntest wie Steffi, oder auch nur so mittelmäßig wie ich, würdest du schon Freude daran haben. Dann würdest du nicht mehr frieren. Glutheiß wird einem beim Bogenlaufen. Heute laufen wir wieder Autobus und Flugzeug, Steffi.«

»O ja!« Die grünblauen Augen der Freundin blitzten.

»Und eure Mathematikaufgaben? Und die lateinische Übersetzung? Wahrscheinlich schreiben wir morgen auch noch Geschichtsextemporalien. Mir brummt mein Kopf, wenn ich daran denke, was ich heute noch alles zu arbeiten habe.« Susi schien von dem Besuch nicht sehr erbaut.

»Wirf uns doch lieber gleich hinaus!« rief Hannelore unbekümmert lachend. »Wie kann man nur solch ein Streber sein, Susi!«

»Zum Arbeiten ist nachher auch noch Zeit. Da geht es noch mal so gut, wenn man frisch und vergnügt heimkommt«, stimmte Steffi bei, und ihre Augen leuchteten.

»Frisch? Ich war immer todmüde, wenn ich mal auf dem Eis war. Auch nach eurer dummen Gymnastikstunde, an der ich mich auf Vaters Wunsch durchaus beteiligen muß, bin ich ganz zerschlagen, als ob mich einer verprügelt hätte. Ich verstehe nicht, wie man Vergnügen am Sport finden kann.«

»Du bist wirklich der leibhaftige Bücherwurm, Susi. Sport allein schafft ein gesundes, kräftiges Geschlecht, hat dir dein Vater erst neulich gesagt. Natürlich alles mit Maßen. Man braucht ja die Schule deshalb nicht zu vernachlässigen.«

»Und die Erkältungen, die nassen Füße, die ihr euch bei solchem Unwetter holt?« wandte Susi ein.

»Quatsch mit Soße! Sport härtet ab. Stubenhocker wie du erkälten sich viel eher. Siehst aus wie weißer Käse durch das ewige Sitzen bei den Büchern. Komm mit aufs Eis, da bekommst du rote Backen wie wir beide!« Noch einmal versuchte die Freundin ihre Überredungskünste.

»Es geht heute wirklich nicht, Hannelore. Ich muß wieder an meine lateinische Übersetzung.« Susi trommelte ungeduldig, als dauere die Störung schon zu lange, auf dem Buch herum.

»An dir ist Hopfen und Malz verloren. Ich sehe schon, wir müssen uns hinter deine Eltern stecken, daß sie ein Machtwort sprechen«, meinte Steffi verschmitzt.

»Wobei sollen wir ein Machtwort sprechen?« Die Tür öffnete sich gerade, und Frau Willenberg, Susis Mutter, zum Ausgehen gerüstet, schaute herein. »Ach, die Hannelore und die Steffi, guten Tag, Kinder! Das ist recht, daß ihr Susi ein bißchen Gesellschaft leistet«, sagte sie, die Mädchen freundlich begrüßend.

»Wir möchten Susi gern mit uns aufs Eis nehmen, aber sie ist nicht von den Büchern loszubekommen«, beschwerte sich Steffi.

»Ja, unsere Susi ist nun mal ein kleiner Bücherwurm. Geh doch mit, Susi! Da bekommst du so schöne rote Backen wie deine Freundinnen.«

»Muttchen, wenn ich aber doch zu arbeiten habe! In der Tertia wird doch etwas von uns verlangt.« Susi wurde jetzt ungeduldig.

»Die andern Mädchen wissen doch auch die Schularbeiten mit dem gesunden Sport in Einklang zu bringen«, redete ihr die Mutter zu.

»Und Steffi ist sogar eine gute Schülerin. Ich natürlich bin ein Faulpelz«, gab Hannelore ehrlich zu.

»Ein andermal, heute geht es wirklich nicht«, lehnte Susi entschieden ab.

»So sprechen Sie ein Machtwort, Frau Willenberg, daß sich Susi am Kursus für Schneeschuhlaufen beteiligen soll! Am Sonntag hat sie doch nicht zu arbeiten«, bat Steffi.

»Da bricht man sich Hals und Beine auf den langen, hölzernen Dingern«, wandte Susi ein.

»Wenn man ungeschickt ist.« Hannelore lachte sie aus.

Auch die Mutter schien im Zweifel zu sein. Sie war etwas besorgt um Susis zarte Gesundheit, weil die Tochter immer so blaß und elend aussah. Es war ja, seitdem der Sohn aus dem Weltkrieg nicht heimgekehrt war, ihre Einzige, ein von Mutterliebe verhätscheltes Angstkind.

»Ich will's mit meinem Mann überlegen.« Damit verabschiedete sich Frau Willenberg von den dreien.

»Dann mußt du mit, Susi«, triumphierte Hannelore. »Dein Vater ist sehr für Sport. Er sagt immer, du seist ihm viel zu verweichlicht und zu zimperlich.«

»Auch zum Schwimmen und Rudern sollen wir dich im Sommer mitnehmen, hat er neulich gesagt, und . . .«

»Und auf unsere Wanderfahrten, von denen du dich immer ausgeschlossen hast, weil dich das viele Laufen anstrengt«, fiel Hannelore der Steffi ins Wort. »Auch zum Tennisplatz schleppen wir dich . . .«

»Bis zum Sommer ist ja noch lange hin. Aber ihr versäumt ja die beste Zeit zum Schlittschuhlaufen.« Susi schielte sehnsüchtig zu ihren Büchern.

»Das war deutlich.« Hannelore lachte, ohne Empfindlichkeit zu zeigen. »Komm, Steffi, laß den Bücherwurm sich wieder in seine Arbeit vergraben!«

»Auf Wiedersehen, du Bücherwurm!« Lachend gingen die beiden zur Tür hinaus.

»Bücherwurm« – das kleine Zimmer schien erfüllt von dem Wort. Es schwang noch in der Luft, als Susi längst schon wieder das bleiche Gesicht über das lateinische Buch neigte. Mochten sich die andern draußen im Freien tummeln, ihre Welt waren nun einmal die Bücher. Geistige Arbeit war wertvoller als körperliche Leistungen.

Von römischen Jünglingen des Altertums übersetzte sie, wie sie bei Wettspielen ihre Kräfte gemessen und im Stadion ihre Körper zu höchster Schönheit und Kraft entfaltet hatten. Hm – war es am Ende doch nicht so falsch, Sport zu treiben, wenn die alten Römer schon dafür Interesse gehabt hatten?

Alles still. Nur die Feder kritzelte. Nur die Fliege summte im Stübchen. So vertieft war Susi in ihre Arbeit, daß sie gar nicht merkte, wie die Abenddämmerung immer mehr durch das Fenster griff und in ihrem Stübchen einen Gegenstand nach dem andern verhüllte. Die hellen, jauchzenden Kinderstimmen auf der Straße verstummten – sie merkte es nicht. Sie merkte nicht, daß sie müde und müder wurde, daß sich ihr Kopf tief und tiefer auf das lateinische Buch neigte, daß ihr die Augen zufielen.

Draußen flockte es vom Himmel, stetig, gleichmäßig. Stetig, gleichmäßig kamen die Atemzüge von den Lippen der Schlafenden.

Da – riß Susi erstaunt die Augenlider auf.

Was lugt denn da zu ihr durchs Fenster herein? Ein winziges Ding ist es, noch nicht halb so groß wie ihr Daumen. Aus einem weißen Flockenpelz schaut es pfiffig aus. Ist es ein Männlein oder ein Weiblein?

Das junge Mädchen reibt sich die Augen. Ach was – eine Schneeflocke ist es – nichts weiter als eine Schneeflocke, wie viele andere. Ja, aber warum sinkt sie denn nicht, wie alle ihre Kameraden, auf das weiße Samtpolster nieder, das draußen die Fensterbrüstung deckt? Immer noch schwebt das winzige Ding an der Scheibe und lugt zu ihr herein. Ein Leuchten, ein heller Schein geht von seinen Augen, von dem lichten Flockenpelz aus.

Die Gymnasiastin, gewöhnt, allen Dingen sachlich und nüchtern auf den Grund zu gehen, überlegt, warum wohl der kleine Wicht nicht dem Gesetz der Schwerkraft verfallen ist. Da hebt dieser ein winzig, winziges Fingerlein und pocht an die Fensterscheibe. Es klingt, als ob eine Fliege gegen das Glas surrt.

»Herein«, ruft die schlafende Susi und denkt: »Du kannst da lange klopfen. Ich werde mich hüten, das Fenster zu öffnen und mir einen Schnupfen zu holen.«

Sie hat es noch nicht zu Ende gedacht, da sieht sie, wie das winzige Ding draußen noch winziger wird, und da – da ist es doch tatsächlich durch den schmalen Fensterspalt, durch den es immer so abscheulich zieht, zu ihr ins Zimmer geschlüpft. Mit einem Satz ist es auf dem Tintenfaßdeckel und hält von dort neugierig Umschau.

»Puh – ist das eine warme Luft hier!« sagt es mit einem Stimmchen wie Grillenzirpen so fein. »Wie kannst du nur in einem solchen überheizten Raum atmen?«

Mit offenem Munde, stumm vor Staunen, starrt Susi das leuchtende Wunder auf dem Tintenfaß an.

»Du lebst ungesund, ganz unhygienisch«, fährt der winzige Gesell in strafendem Tone fort. »Reine Luft weitet die Lungen, läßt das Blut in den Adern kräftig umlaufen. Komm hinaus mit mir in die weiße Winterwelt! Ich will dir zeigen, wie herrlich es da draußen ist. Setz dich auf meinen Rücken!«

»Hahaha« – das junge Mädchen lacht aus vollem Herzen. »Auf deinen Rücken soll ich mich setzen, du Knirps? Da wird nicht viel von dir übrigbleiben. Mit meinem Atem puste ich dich schon um. Daß doch die kleinsten Wichte immer den stärksten Größenwahn haben! Wer bist du denn überhaupt?«

Der Kleine reckt sich, daß er so lang wird wie die Feder, die auf dem Tintenfaß liegt, und spricht bedeutsam:

»Man kennt mich allerorts –
Den Geist des Wintersports!«

»Lieber Himmel, wenn der Wintersport auf so schwachen Beinchen steht, habe ich schon recht, daß ich ihn verschmähe«, spottet Susi. »Ich habe weder Zeit noch Lust für dich. Ich muß wieder zu meinen Büchern.«

»Bücherwurm!« ruft der kleine Geist ärgerlich und ein zweites und drittes Mal mit verstärkter Stimme: »Bücherwurm – Bücherwurm!«

Da geschieht etwas Merkwürdiges. Susi fühlt, wie sie unter den Worten des Geistes zusammenschrumpft. Kleiner, immer kleiner wird sie. Arme und Beine verschwinden. Ihr bräunlicher Faltenrock verwandelt sich in eine erdbraune Haut mit Buchstabenzeichnung. Und da kriecht sie plötzlich als leibhaftiger Bücherwurm auf dem lateinischen Buch, aus dem sie soeben noch übersetzt hat, umher. Sie ist jetzt noch nicht so groß wie der Geist des Wintersports, der triumphierend von seinem Tintenfaß auf sie herabblickt.

»So, nun wirst du wohl erkennen, wer von uns beiden an Größenwahn leidet. Was seid ihr Menschen ohne mich, den Wintersport? Elendes, schwächliches Gewürm wie du. Ich gebe euch erst Mark in die Knochen, röte eure Wangen, mache euch Auge und Kopf klar für die Arbeit. Ob ihr nun auf spiegelblanker Eisfläche dahingleitet, ob ihr auf Schneeschuhen wie ein Vogel durch mein weißes Winterreich fliegt oder auf der Rodel vom schwer erstiegenen Gipfel mit Windeseile zu Tal saust. Ich stähle euch den Körper, verlange Mut und Geistesgegenwart von euch.«

»Und die Erkältungen, die du verursachst?« kommt es ziemlich kleinlaut von Susis Lippen. »Hatschi – hatschi – ich glaube, ich bekomme durch deine Gegenwart allein schon einen Schnupfen.«

»Da sieht man wieder, wie dumm ihr Menschen durch das ständige Studieren werdet. Im Gegenteil, ich verhüte Krankheiten. Ich härte euch ab und mache euch widerstandsfähig gegen Erkältungen. Denn der Sport allein schafft ein starkes, gesundes, auch für geistige Tätigkeit arbeitsfreudiges Geschlecht.«

Das hat der Vater neulich auch gesagt, denkt die schlafende Susi.

»Oho – erlauben Sie mal gefälligst!« erklingt da plötzlich eine tiefe Stimme von irgendwoher auf dem Schreibtisch. »Sie nehmen ja den Mund gewaltig voll. An dem geistigen Schaffen des Menschen habe ich wohl etwas mehr Anteil als Sie.« Der Deckel des Tintenfasses hebt sich – o weh! – mit schneidigem Sprung fliegt der Geist des Wintersports hinunter in die Nähe des Kachelofens.

Aus dem Tintenfaß aber steckt ein schwarzer Geselle den tintensträhnigen Kopf heraus. »Der Tintengeist allein ist es, der euch Menschen die Fähigkeit gibt, eure Gedanken zu Papier zu bringen. Mit Sport ist es nicht getan.«

»Na und ich?« fragt eine Stimme ziemlich spitz. »Dabei habe ich wohl auch noch ein Wort mitzusprechen.« Die Stahlfeder richtet sich steil am Tintenfaß in die Höhe. »Tinte ohne Feder ist wie ein Stiefel ohne Leder. Erst durch die Verbindung mit mir bekommt dein Dasein überhaupt einen Zweck.«

Ängstlich taucht der Tintengeist vor der spitzen Zunge seines Eheweibes, der Feder, wieder in den schwarzen Teich hinunter. Das Papier aber, auf dem der Bücherwurm umherkriecht, knistert ärgerlich. Deutlich raschelt es: »Tinte, Feder, was seid ihr ohne Papier – nichts, rein gar nichts! Ich allein vermittle das geistige Gut des Menschen der Nachwelt.«

Unsicher blickt Susi, der Bücherwurm, auf seine in Streit geratenen Freunde: Tinte, Feder und Papier, die sonst immer ein Herz und eine Seele gewesen waren. Wem soll sie recht geben?

»Wir müssen zusammenhalten«, nimmt die Feder als klügste wieder das Wort. »Nur Einigkeit macht stark. Sonst ergreift der Geist des Sportes Besitz von unserm Bücherwurm.«

Ja, wo ist denn der hingekommen, der Geist des Wintersports? Geschmolzen ist er am warmen Kachelofen. Ein großer Wassertropfen blinkt statt seiner aus dem Dunkel.

Der Tropfen verdichtet sich. Er nimmt Gestalt an. Ein blaugrünes Nixchen mit silberhaarigem Bubikopf taucht da plötzlich neben dem großen Kachelofen auf.

»Nanu?« Bücherwurm, Tintengeist, Feder und Papier rufen es wie aus einem Munde.

Das Nixchen kommt näher. Es sieht aus, als schwimme es durch die Luft. Ehe es sich der Bücherwurm versieht, sitzt das allerliebste Persönchen neben ihm auf dem lateinischen Buch und baumelt mit dem glitzernden Fischschwanz. An wen erinnern nur diese blaugrünen Augen?

Der Bücherwurm krümmt sich höflich. »Mit wem habe ich die Ehre?« erkundigt er sich.

»Ins Wasser fix
Zum Wassernix!«

flötet die reizende Kleine.

»Ins Wasser – bei neun Grad Kälte – brr!« Der Bücherwurm schüttelt sich.

Das Nixlein verzieht seine Mundwinkel verächtlich.

»Das Wasser ist jetzt wärmer als die Luft. Aber du scheinst mir ja recht wasserscheu zu sein. Nicht mal im Sommer bekomme ich dich zu Gesicht. Kaltes Wasser allein erhält den Menschen gesund. Schwimme, rudere – nichts Schöneres gibt es, als in der blauen Wasserflut dahinzuplätschern!«

Genau wie die Freundin Steffi spricht das Nixchen. Richtig, es hat ja auch dieselben blaugrünen Augen.

»Versprich mir, daß du dich im kommenden Sommer zu mir, der Nixe des Wassersports, bekennst!« verlangt das Nixchen mit lockender Stimme.

»Versprich nichts!« rascheln die Blätter des lateinischen Buches mahnend dazwischen. »Denke daran, was du uns, den Dienern des Geistes, schuldig bist!«

»Wir geistig schaffenden Frauen allein sind doch nur die wahren, ebenbürtigen Kameraden des Mannes«, kommt die Stahlfeder dem Papier zu Hilfe. Scheel blickt sie auf das anmutig schillernde Nixchen, das den Bücherwurm in ihr Netz zu ziehen sucht.

Da taucht der Tintengeist, der mit seiner Alten in keiner guten Ehe lebt, wieder aus dem schwarzen See empor.

»Lassen Sie uns einen Vergleich schließen, meine Dame!« wendet er sich an das allerliebste Nixchen. »Da wir beide dem flüssigen Element angehören, will ich Ihnen unsern Bücherwurm jeden Tag im Sommer auf ein paar Stunden abtreten.« Er blickt das Nixchen bewundernd aus tintenschwarzen Augen an.

»Abgemacht!« Die Nixe des Wassersports lächelt.

»Der Vertrag ist null und nichtig!« piekt die Feder eifersüchtig dazwischen. »Eher lasse ich mich spalten, als daß ich dazu meine Einwilligung gebe.« Wütend macht sie einen schwarzen Klecks auf das Papier. Auch das Papier ist durchaus nicht einverstanden, daß es vernachlässigt werden soll. Der Bücherwurm aber kümmert sich nicht mehr um seine Getreuen. Er hat nur noch Augen für das holde Wassernixchen.

Doch der Platz, auf dem es eben noch gesessen und mit dem glitzernden Fischschwanz gebaumelt hat, ist plötzlich leer. Statt des Nixchens kriecht die Winterfliege, die dem Bücherwurm schon öfters Gesellschaft geleistet hat, auf dem lateinischen Buch umher.

Wie seltsam – die Fliege trägt ja ein schwarzes Turnertrikot. Das hat Susi früher niemals bemerkt. Und als sie jetzt näher kommt, sieht der Bücherwurm zu seinem Erstaunen, daß sie in ihren beiden Vorderbeinchen kleine Hanteln schwingt. Mit den mittelsten Beinen mensendieckt sie, und mit den Hinterbeinchen vollführt sie einen Dauerlauf, immer im Kreise herum.

»Um's Himmels willen, was machen Sie denn da? Man wird ja ganz schwindlig«, erhebt der Bücherwurm Einspruch. »Sie summten doch sonst so still und abgeklärt in meine Arbeit hinein. Was ist denn bloß in Sie gefahren?«

»Der Geist des Sportes – des Turnens – der Gymnastik«, summt sie zur Antwort. »Ich halte auf schlanke Linie. Mit Punktroller allein schafft man's nicht. Ich trage den hygienischen Forderungen der Zeit Rechnung.«

»Auch Sie dem Geist des Sportes verfallen?« Der Bücherwurm schüttelte bekümmert sein Haupt. »Was hat dann noch Bestand?«

»Wir«, rufen Tinte, Feder und Papier voller Selbstbewußtsein.

»Oho, das käme auf einen Versuch an!« Die Fliege hält im Dauerlauf inne und nimmt Boxerstellung ein. »Wer von den Herrschaften hat Lust zu einem kleinen Boxkampf?«

Da taucht der Tintengeist, so schnell er nur kann, wieder in seinen schwarzen See unter und klappt zur Sicherheit sogar noch den Deckel des Tintenfasses hinter sich zu. Das Papier macht sich so dünn wie möglich. Nur die Feder richtet sich steil empor.

»Wenn ich auch nur ein schwaches Weib bin, feig bin ich nicht. Der Geist siegt über den Körper.« Sie macht ein Gesicht, als ob sie die Fliege aufspießen wolle.

»Aber Kinder, haltet doch Frieden miteinander!« mahnt der Bücherwurm. »Mir scheint jetzt doch, daß man dem Körper dasselbe Recht zuerkennen muß wie dem Geist. Sport ist ebenso wichtig wie Lernen.«

»Bravo«, summt die Fliege erfreut, »bravo! Du hast endlich das Richtige erkannt. Gesunder Körper schafft einen gesunden Geist. Ich werde dich im Sommer mit hinausnehmen zu Wanderungen in Wald und Feld und auf den Tennisplatz.«

»Das will ja schon meine Freundin Hannelore tun«, ruft der Bücherwurm.

»Im Wasser aber turnen wir«, fährt die Fliege fort, »und treiben Gymnastik. Schau, das ist die Bodewelle. Kannst du sie nachmachen?«

»Natürlich«, sagt der Bücherwurm und versucht es.

Da – ein Krach. Susi erwachte und – rieb sich ihr schmerzendes Bein.

Wo saß sie denn? Nicht mehr vor dem lateinischen Buch, sondern unten auf dem Fußboden, neben dem Arbeitsstuhl. Vorsichtig tastete sie an sich herab – hurra! – sie war kein Bücherwurm mehr. Sie war wieder eine junge Gymnasiastin, trug wieder einen braunen Faltenrock, hatte Arme und Beine.

Verschwunden waren die Geister des Sportes, der Flockengeist und das Wassernixchen. Nur die Winterfliege summte irgendwo in dem dunklen Stübchen.

Aus Susi, dem Bücherwurm, aber wurde seit diesem Tage ein frisches, sportfreudiges Mädel, das Geist und Körper in gleicher Weise ausbildete.


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