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Von diesem Tage an war Vera noch viel mehr gemieden als zuvor. Selbst die, welche ihr schon freundlichere Empfindungen entgegengebracht hatten, Ilse und Marlene, stießen jetzt mit in dasselbe Horn. Eine Spionin – pfui!
Es ging so weit, daß die Kinder keine laute Unterhaltung mehr wagten, wenn Vera in der Nähe stand. Denn meist sprachen sie doch jetzt vom Kriege und von den Briefen, die ihre Angehörigen aus dem Felde heimsandten. Sie flüsterten sich ihre Mitteilungen zu und warfen dabei scheue Blicke auf die »Polnische«. Hatte die auch bloß nicht gehorcht?
Die Lehrer und Lehrerinnen waren freundlich und lieb zu der kleinen heimatlosen Fremden, die sich jetzt viel Mühe während des Unterrichts gab. Anstatt sich an ihnen ein Beispiel zu nehmen, überlegten die Kinder, ob sie es den Lehrern nicht mitteilen müßten, daß Vera eine russische Spionin sei. Aber keine wagte es, nicht mal die kecke Annemarie Braun.
Die hatte längst keine Gewissensbisse mehr wegen Vera. Im Gegenteil, wo sie nur konnte, zeigte sie »der Spionin« ihre Verachtung. Als sie am ersten Dezember von einer zur andern schritt, um den Monatsbeitrag für den Junghelferinnenbund einzuziehen, streckte ihr auch Vera ihre fünfundzwanzig Pfennige entgegen. Annemarie ging vorüber, als ob sie Veras Hand nicht sähe.
Da trat das schwarzlockige Mädchen in der nächsten Zwischenstunde zu Annemaries Platz.
»Ich noch nicht haben gezahlt«, sagte sie leise, das Geld Annemarie in die Hand gebend.
Die ließ es fallen, als habe sie glühendes Eisen berührt.
»Von dir nehme ich nichts, du gehörst nicht zu unserem Junghelferinnenbund – nur deutsche Mädchen dürfen Mitglied sein!« rief sie und sah sich stolz in der Klasse um.
Die andern lachten und nickten ihr Beifall zu. Das war recht, daß die Annemarie Braun es der Spionin mal ordentlich gezeigt hatte, wie man über sie dachte.
Vera waren die Tränen in die Augen geschossen – still wandte sie sich ab.
War sie denn kein deutsches Mädchen? Bloß weil sie deutsch war, hatte sie doch vor den russischen Kosaken aus der Heimat flüchten müssen. Ihr Vater kämpfte doch freiwillig für Deutschland, wie die Väter der andern Kinder. Allerdings, sie sprach fast nur Polnisch, als sie in die Schule kam; aber sie hatte doch von den Dienstboten in Czernowitz nichts anderes gehört.
Soviel die arme Vera auch überlegte und grübelte, sie verstand nicht, warum sie als einzige nicht zum Junghelferinnenbund gehören sollte. Nur die grenzenlose Verachtung, welche Annemaries Worte offenbart hatten, begriff sie, und die machten das Herz des armen Kindes niedergedrückt und traurig.
Dabei war es doch der Monat, in dem Kinderherzen ganz besonders freudig zu schlagen pflegen. Aber er zeigte diesmal im Kriegsjahr ein ernsteres Gesicht als sonst, der schöne Weihnachtsmonat. Da war wohl keine Familie, die nicht ein liebes Mitglied im Kampfe draußen hatte, war es nun zu Land, zu Wasser, oder hoch oben in den Lüften. Und wievielen hatte schon der Krieg für immer grausam das Liebste geraubt. Manche schwarzverschleierte Frauengestalt sah man in den Straßen.
Da war es kein Wunder, wenn auch die Freude der Kleinen in diesem Jahre gedämpfter war. Aber sie war vielleicht tiefer als in jedem anderen. Weder Annemarie noch ihre Freundinnen schrieben diesmal Weihnachtswünsche – alle hatten sie auf ihre Weihnachtsgaben Verzicht geleistet und gebeten, für das Geld lieber Pakete ins Feld schicken oder den armen Verwundeten eine Weihnachtsfreude machen zu dürfen.
Das Schubertsche Mädchenlyzeum hatte Berge von Soldatenpaketen an die Front geliefert. Die fleißigen Mädchenhände hatten sich alle die Monate für die Vaterlandsverteidiger gemüht. Dicke Teppiche aus Zeitungspapier im Friesüberzug waren für die in der Feuchtigkeit der Schützengräben Liegenden angefertigt. Warme »Stieglitzdecken«, aus lauter bunten Wollresten gestrickt, hatte eine jede gearbeitet. Strümpfe, Schals, Kopf- und Lungenschützer, Pulswärmer, Handschuhe und Leibbinden – unendlich viele an der Zahl. So hatte jede Schule in jeder deutschen Stadt ihr Teil zugesteuert – überall hatten deutsche Frauen und Mädchen für ihre Soldaten getreulich geschafft.
Es tat aber auch not. Sowohl in Polens eisigen Ebenen als auch in den verschneiten Argonnenwäldern. In der Gletscherwelt der Karpathen, wie an der sturmgepeitschten flandrischen Küste, und nun erst gar draußen auf offenem Meer.
Doktors Nesthäkchen hatte ihre Weihnachtspakete vorwiegend an die Marine gesandt. Annemarie wußte von ihrem Nordseeaufenthalt her, was es hieß, solche Wintersturmnacht auf hoher See. An jedes Paket waren mit schwarz-weiß-rotem Bändchen Schokolade, Tabak und Zigarren gebunden. Die Strümpfe wurden mit Äpfeln, Nüssen und Pfefferkuchen gefüllt. Die Hauptsache aber für die Kinder war die Wohlfahrtskarte, die sie, mit ihrer Adresse versehen, beifügten. Damit man doch wußte, wer denn eigentlich die Strümpfe oder den Kopfschützer trug, mit dem man sich wochenlang gemüht hatte. Die Dankkarten der erfreuten Soldaten waren dann später reicher Lohn.
An Vater war ein riesengroßes Paket abgegangen. Eigentlich hoffte man im Braunschen Hause, daß der Vater zu Weihnachten Urlaub erhalten würde. Annemarie aber hatte noch eine ganz andere Hoffnung. Sie redete sich bestimmt ein, daß Mutti zu Weihnachten endlich wiederkommen würde. Es war ja gar nicht denkbar, daß sie am Heiligabend von ihren Kindern fort blieb. Voriges Jahr hatte das kleine Mädchen zwar auch ohne die Eltern Weihnachten feiern müssen, aber da war sie selbst fern im Kinderheim gewesen. Dort hatte sie es weniger empfunden. Aber dieses Jahr zu Hause – nein, nein, Mutti mußte ja kommen!
Großmama war bescheidener in ihren Wünschen; die wäre schon froh gewesen, wenn nur endlich mal irgendeine Nachricht eingetroffen wäre. Inzwischen suchte sie in rührendster Weise in Gemeinschaft mit Fräulein den Kindern einen schönen Weihnachtsabend zu bereiten. Sie hatten zwar alle drei auf ihre Geschenke verzichtet. Aber gibt es eine Großmutter, die es übers Herz bringt, die Enkelkinder am Heiligabend leer ausgehen zu lassen?
Der Weihnachtsabend des großen Kriegsjahres senkte sich leis über die wild gegeneinander wütende Welt. Tobte selbst heute der blutige Kampf? Nein, still war's fast überall an der Front. Statt aufblitzender Granaten flimmerten durch den Schneewald helle Lichterbäumchen – statt des Geknatters der Maschinengewehre zogen fromme Lieder aus rauhen Männerkehlen durch die Winternacht. Deutsche Soldaten feierten im Schützengraben Weihnacht.
Mit wehmütigen Augen stand im Feldlazarett Doktor Braun vor der großen Heimatkiste. Mit wieviel Liebe war sie gepackt, wie war ein jedes darauf bedacht gewesen, ihn zu erfreuen. Sein Nesthäkchen – was hatte es nicht alles für ihn gearbeitet! Sogar einen Muff hatte es für ihn gestrickt. Doktor Braun lächelte. Seine Lotte schien sich so ein Feldlazarett mitten im Schützengraben vorzustellen, dabei war es wohlig warm in den geheizten Räumen. Aber seinen wieder hinausziehenden Verwundeten würden die Sachen zustatten kommen.
Wie gern hätte der Vater auf all die Liebesgaben verzichtet, wenn er sein Nesthäkchen stattdessen wie früher auf sein Knie hätte ziehen können. Sein Blick fiel auf das schwarz-weiße Bändchen, das seit heute sein Knopfloch schmückte. Als Weihnachtsgabe hatte man ihm das Eiserne Kreuz für seine unermüdliche Tätigkeit Tag und Nacht überreicht. Aber wo blieb die Freude, die er dabei hätte empfinden müssen? Ja, wenn die, mit der er bisher alles getreulich geteilt, wenn seine Frau an seiner Freude hätte teilnehmen können. Doch er wußte nicht mal, ob die Mitteilung davon sie erreichen würde – ob sie überhaupt schon irgendeine Nachricht von ihm erhalten hatte. Es war geradezu schleierhaft, warum weder sie, noch einer der Verwandten schrieb.
Der Blick des Arztes glitt in die Vergangenheit zurück zu früheren Weihnachtsabenden. Er sah den lichtfunkelnden Baum daheim im Wohnzimmer, er hörte den Jubel seiner Kinder ... Da – gab es einen ohrenbetäubenden Krach. Die Fensterscheiben zersprangen klirrend. Der Instrumentenschrank tanzte. Schwestern und Sanitäter kamen mit bleichen Gesichtern in das Zimmer des Chefarztes gestürzt: »Herr Stabsarzt – eine französische Fliegerbombe – sie scheint es auf unser Lazarett abgesehen zu haben – zum Glück ist sie fehlgegangen.«
»Bande – der nicht mal das Rote Kreuz am Weihnachtsabend heilig ist!« Doktor Braun stieß es entrüstet hervor. Dann eilte er zu seinen Verwundeten.
Während die Gedanken des Arztes aus dem fernen Feldlazarett in Frankreich den Weg heimwärts nahmen, dachte auch sein Nesthäkchen lebhaft dorthin. Der Vater hatte keinen Urlaub erhalten – grenzenlos enttäuscht war Annemarie. Aber wenn sie es sich richtig eingestand, war sie noch viel enttäuschter, daß der Zeiger ihrer weißen Kinderstubenuhr sich von Zahl zu Zahl schob, ohne daß die sehnlichst erwartete Mutter heimkehrte.
Schon war es vier, jetzt mußte sie sich zur Weihnachtsbescherung im Schullazarett rüsten. Um halb fünf sollten sich die Schülerinnen der sechsten Klasse mit ihren Weihnachtspäckchen vor dem ehemaligen Schubertschen Lyzeum einfinden. Fräulein Hering, welche die Führung übernommen, erwartete sie dort.
Jede Klasse bescherte einem anderen Lazarett, manche auch einem Kriegskinderhort. Dazu hatte jede Schülerin einen Pfefferkuchen, einen Apfel und eine Nuß mitbringen müssen. Stattliche bunte Teller waren aus diesen kleinen Beiträgen entstanden.
Noch einen Blick ließ Annemarie durch ihre Stube wandern. Seit ihrem Aufenthalt im Kinderheim hatte sie sich daran gewöhnt, nie ihr Zimmer zu verlassen, ohne zu sehen, ob darin auch nichts herumlag. Nein – es war alles schön ordentlich. Ganz hinten in der Ecke hatte sie ihre Weihnachtsgeschenke versteckt und darüber die leere Puppenstube gestülpt. Dort würde sie keiner finden.
Annemarie griff nach ihren vielen, vielen Paketen und Päckchen. Wie sollte sie die nur fortkriegen? Hanne hatte noch zu tun, und Klaus, der ihr hätte tragen helfen können, war selbst mit seinem Lehrer zu einer Lazarettbescherung. Fräulein putzte im Wohnzimmer mit Großmama den Baum.
Aber Nesthäkchen war nie um einen Ausweg verlegen. Es holte sich aus dem Schrank der Brüder den großen Rucksack von Bruder Hans, da ging alles hinein.
Potztausend – aber schwer war er! Doch trugen die Soldaten auf ihren anstrengenden Märschen nicht schwereres Gepäck auf dem Rücken? Na, also! Rasch fort, Margot wartete sicher schon unten.
Ja, an dem Gitter des verschneiten Vorgärtchens stand bereits die Freundin neben einem weißen Kinderwagen. Die nahm doch nicht etwa ihr kleines Schwesterchen mit?
Nein, Annemarie mußte lachen. Der Kinderwagen war vollgestopft mit Liebesgaben. Auch Margot lachte beim Anblick der Freundin. »Willst du eine Gletschertour machen, Annemarie?« fragte sie, auf den Rucksack weisend.
Alle beide keuchten sie unter ihrer Last. Aber was wog die gegen das erhebende Gefühl, den verwundeten Kriegern eine Weihnachtsfreude zu machen.
Nun waren sie alle in dem ehemaligen Schulhof versammelt. Viele der kleinen Mädchen hatten ihren Puppenwagen zum Transport der Gaben benutzt. Hilde Rabe war sogar, trotz des Tauwetters, mit ihrem Kinderschlitten vorgefahren.
»Was, die ›Polnische‹ ist auch dabei?« Annemarie fragte es so laut, daß die unweit mit ihrem Gabenkörbchen stehende Vera zusammenzuckte.
Stimmte denn der Weihnachtsabend, der die Menschen besser machen soll, an dem sie sich nur Liebes erweisen, nicht auch die Herzen der kleinen Mädchen milder?
Nein, die Schülerinnen der sechsten Klasse, die soviel Mitleid mit den Verwundeten hatten, verwundeten selbst heute das Herz der armen Vera durch abweisende Blicke und unfreundliche Worte. Allen voran wieder Doktors Nesthäkchen.
»Wenn Fräulein Hering wüßte, was wir wissen, würde sie Vera bestimmt nicht mit ins Lazarett nehmen – wie leicht kann sie da spionieren«, flüsterte Annemarie ihren Getreuen zu.
Zum Glück blieb keine Zeit, sich weiter mit Vera Burkhard zu befassen. Die Kinder wurden in die tannengeschmückte einstige Schulaula geführt, wo ein großer Weihnachtsbaum blitzte und funkelte. Auf der langen Tafel darunter lagen die Heimatspakete für jeden Krieger.
Ein wenig schlug den kleinen Mädchen das Herz, als die Verwundeten in ihren blau-weißgestreiften Anzügen jetzt den Saal betraten. Fröhliche Jugend bedrückt Krankheit und Elend. An Stöcken und Krücken schoben sie sich herein, am Arm der Schwestern, auf Tragbahren und im Stoßwagen wurden sie hineingebracht.
Margot griff erregt nach Annemaries Arm. Unsagbar leid taten ihr die Ärmsten, die nicht einmal die Weihnachtslichter erstrahlen sahen. Auch Annemaries Blauaugen feuchteten sich – und gleichzeitig fühlte sie tiefe Beschämung. War sie sich nicht den ganzen Tag bemitleidenswert erschienen, daß sie heute ohne Vater und Mutter Weihnachten feiern mußte? Und wie glücklich war sie doch im Vergleich zu diesen Armen ringsum, die auch fern von ihren Lieben den Heiligabend begingen!
Trotz der Schmerzen, die sie erdulden mußten, sahen die bleichen Gesichter zufrieden und dankbar aus. Der deutsche Soldat zeigt nicht nur im Kampfe seinen opferfreudigen Mut, sondern auch dem unerbittlichen Schicksal gegenüber.
Von dem brennenden Weihnachtsbaum glitten die Blicke der verwundeten Krieger zu der blühenden Kinderschar, die zu beiden Seiten Aufstellung genommen. Da verklärten sich die Mienen. Jedem war es, als ob die eigenen Blondköpfe oder das kleine Schwesterchen daheim auf die Bescherung warteten. Einer der Ärzte setzte sich ans Klavier, und »Stille Nacht, heilige Nacht«, die Klänge des Weihnachtsliedes, zauberten den in der Fremde Weihnacht Feiernden die Heimat vollends vor. Tiefe Männerstimmen mischten sich mit den hellen der jungen Kinder. Da blinkte manche Träne im rauhen Kriegerauge – und keiner schämte sich derselben.
Als der Sang geendet, trat eine der Schwestern zu den kleinen Mädchen. »So, Kinder, nun kann der Weihnachtsmann zu unseren Soldaten kommen!«
»Schwester Elfriede!« Doktors Nesthäkchen schrie es freudig durch den großen Saal. Ehe Margot wußte, wo Annemarie geblieben, war sie auf die andere Seite auf eine Schwester mit sanftem Gesicht unter dem braunen Scheitel zugeeilt. »Schwester Elfriede, kennen Sie mich nicht mehr? Ich bin ja die Annemarie Braun, die Sie damals in Vaters Klinik gesund gepflegt haben, damals, als ich Scharlach hatte.«
»Mädel, was bist du groß und stark geworden, dich hätte ich wirklich nicht wiedererkannt.« Schwester Elfriede, die früher an Doktor Brauns Klinik tätig gewesen, drückte ihrer einstigen kleinen Pflegebefohlenen ebenfalls erfreut die Hand.
Aller Augen waren natürlich auf den reizenden Blondkopf gerichtet, dem man die Wiedersehensfreude so deutlich ansah.
Die andern Kinder verteilten inzwischen ihre Päckchen, auch Annemarie überreichte nun den Verwundeten mit freundlichem Wort ihre Gaben. Bald war eine fröhliche Unterhaltung zwischen den kleinen Geberinnen und den Beschenkten im Gange. Die Soldaten erzählten, wo sie verwundet worden, und die Kinder lauschten mit heißen Wangen.
Annemarie aber warf besorgte Blicke auf die schwarzlockige Vera – würde die auch nicht verraten, was sie hier hörte?
Vera stand drüben bei den blinden Kriegern. Das weichherzige, kleine Mädchen fühlte sich zu den Unglücklichen am meisten hingezogen, während die andern Kinder in einer bedrückenden Scheu die Unterhaltung mit ihnen vermieden.
Jetzt reichte sie ihnen die Tüten mit Pfefferkuchen und Marzipan, welche sie im Arm trug. Die törichte Annemarie lief eilends hinzu – Himmel, die Spionin würde doch nicht die deutschen Soldaten vergiften?
»Du bist ein liebes, kleines Mädchen«, hörte sie da einen der Blinden zu Vera sagen. Sanft streichelte er das feine Gesichtchen, das er nicht sehen konnte. »Hast du auch nahe Angehörige im Felde?«
»Ja, meinen Papa«, war die leise Antwort.
»Entweder schwindelt die Polnische, oder ihr Vater kämpft gegen die Deutschen«, dachte Annemarie in ihrer Feindseligkeit.
Der blinde Soldat holte ein zierliches Täschchen herbei, das er selbst geknüpft hatte. »Hier, Kleine, das schenke ich dir zur Erinnerung an den heutigen Weihnachtsabend, den du einem Blinden hell und licht gemacht hast«, sagte er dankbar.
Veras zartes Gesicht rötete sich vor Freude. Da begegnete sie einem bitterbösen Blick der unweit stehenden Annemarie. War die neidisch? Veras große Freude verflog.
Nein, Neid kannte Doktors Nesthäkchen nicht. Aber sie fand es empörend, daß die »Polnische«, die ganz sicher eine Spionin war, solche Auszeichnung genoß. Wenn der deutsche Soldat wüßte, wem er sie hatte zuteil werden lassen!
Fräulein Hering versprach, dem Lazarett mit ihren Schulkindern bald wieder einen Besuch abzustatten. Annemarie verabschiedete sich von Schwester Elfriede. Die Soldaten winkten ihren kleinen Wohltäterinnen noch einen dankbaren Gruß zu.
Auf der Treppe suchte Vera an Annemaries Seite zu kommen.
»Willst du haben derr Tasch – biete, nemm ihm«, damit hielt sie der Schulkameradin das Täschchen, das ihr selbst solche Freude gemacht, schüchtern hin.
Annemarie war ganz bestürzt. Sie war ja ein von Herzen gutes Kind. Nur falsche Vaterlandsliebe hatte ihr Herz gegen Vera verhärtet. Aber jetzt fühlte sie, wie die Mauer der Verachtung, die sie künstlich gegen die kleine Fremde in ihrem Herzen aufgetürmt hatte, vor den rührenden Worten nicht mehr standhalten wollte.
»Ich danke dir – du hast sie ja geschenkt bekommen«, das klang zum erstenmal weniger schroff.
Dann ging Annemarie Arm in Arm mit Margot, Ilse und Marlene nach Hause, während Vera allein folgte.
Aber das schwarzhaarige Kind war nicht traurig. Nein, Veras Herz schlug so froh, wie schon lange nicht. »Lieber Gott, ich danke dir, daß Annemarie gerade heute am Weihnachtsabend freundlicher zu mir war«, dachte sie glücklich.
Auch Annemarie hatte ein Gefühl der Zufriedenheit. Kam das von der Freude, die sie den Verwundeten gemacht, oder daher, daß sie nicht so schlecht wie sonst gegen Vera gewesen? Doktors Nesthäkchen wußte sich keine Antwort darauf zu geben.
Von der hell erleuchteten Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche klangen die Glocken. »Frieden auf Erden«, so sangen sie. Wann würde endlich Frieden auf Erden sein?