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19. Kapitel. Deutsche Sommerzeit.

Mäxchen, das »Junghelferinnenkind«, lief bereits im Hof auf seinen eigenen Beinchen herum und rief »Tatta«, wenn Annemarie am Fenster erschien, was in seiner Sprache Tante bedeutete. Von seinen Eltern war auf der Berliner Flüchtlingsstation keine Nachricht eingegangen, so angelegentlich Hans auch danach geforscht hatte. Man konnte wohl annehmen, daß dieselben ein Opfer der Kosaken geworden.

Seit Ostern hatte der älteste Braunsche Sprößling das Vaterhaus verlassen und regte die Schwingen zum selbständigen Flug ins Leben hinein. Hans hatte das Notexamen gemacht und endlich seinen heißen Wunsch, trotz Großmamas sorgenvollen Bedenken, beim Vater durchgesetzt. Er war bei der Marine eingetreten und wurde in Wilhelmshaven ausgebildet.

Klaus hatte dem Bruder entschieden geraten, lieber zu den Fliegern zu gehen. Das kam aber wohl daher, daß Klaus schon von klein auf eine besondere Tüchtigkeit im Fliegen gezeigt hatte. Er war seiner Ungezogenheit halber meistens aus dem Zimmer »geflogen«.

Nesthäkchen war der Abschied von ihrem lieben Hänschen sehr schwer geworden. So stolz es auch war, daß nun auch der Bruder für das Vaterland kämpfte, er fehlte Annemarie an allen Ecken und Enden. Sie verdoppelte jetzt ihren Fleiß, um für den Bruder, der den Nordseestürmen trotzen mußte, warme Sachen zu stricken.

Dabei hatte Annemarie jetzt auch tüchtig in der Schule zu tun. Seit Ostern ging sie in die vierte Klasse, da wurden ziemliche Ansprüche an die Schülerinnen gestellt.

Die jetzt dreizehnjährige Annemarie war während der nun bald zweijährigen Kriegszeit ein Prachtmädel geworden. Die wenigen Schlacken, die dem verwöhnten Kinde anhafteten, hatte die ernste Zeit vollständig losgelöst. Selbstlos und hilfsbereit hatte sie Doktors Nesthäkchen gemacht. Und trotz allem Frohsinns und Übermuts zu einem verständigen Mädchen.

Auch äußerlich hatte sich Annemarie gut entwickelt. Sie überragte bereits die Großmama, und die Blondzöpfe hingen ihr jetzt lang den Rücken herab. Freilich strubbelig sahen die noch immer aus, denn ein Wildfang war und blieb Nesthäkchen.

Trotz der bescheidenen Ernährung, welche die wirtschaftliche Lage in Deutschland jetzt notwendig machte, blühte Annemarie wie ein Maienröschen. Nicht umsonst war der lange Aufenthalt an der Nordsee gewesen.

Auch im Hause zeigte es sich, wie günstig die Kriegszeit auf Doktors Nesthäkchen gewirkt hatte. Es war rührend, mit welcher Liebe sie für die Großmama sorgte. Jetzt war Annemarie schon groß genug, um einzusehen, was für ein Opfer Großmama ihnen gebracht, daß sie das stille Behagen und die gewohnte Ruhe des eigenen Heims auf so lange Zeit mit dem geräuschvollen und anstrengenden Aufenthalt bei den lebhaften Enkelkindern vertauscht hatte.

Man schrieb den 30. April 1916. Das war ein ganz merkwürdiger Tag. Eigentlich aber war es erst die Nacht zum 1. Mai. Da erdreisteten sich die Menschen, jetzt sogar schon an dem Zeiger der großen Weltenuhr zu rücken. Die Zeit, die seit Urbeginn ihren gleichmäßigen Schritt gegangen, die wagten Menschen jetzt aus ihrem ewigen Geleise zu bringen. In ganz Deutschland sollten sämtliche Uhren in der Nacht zum 1. Mai um eine Stunde vorgerückt werden. Der Tag sollte während der Sommermonate eine Stunde früher beginnen. Dadurch sparte man des Abends Beleuchtung, vielmehr das Material dazu, wie Kupferdraht, Kohlen und Petroleum. Es hieß jetzt während des Krieges mit allem haushalten.

Großmama fand sich nicht mehr in der Welt zurecht. Sie hatte sich während der letzten Monate in vieles fügen gelernt, was sie ihr langes Leben lang anders gewohnt war. Aber daß der Krieg nun auch die Zeit noch verändern sollte, das wollte ihr nicht in ihren alten Kopf.

»Ich bin altmodisch, ich lebe ruhig weiter, wie ich nun schon fast siebzig Jahre gelebt habe«, äußerte sie sich.

»Ich ooch, jnädije Frau, ich mach' den Rummel nich mit«, pflichtete Hanne ihr bei. »Wenn es sechsen is, denn is nich sieben, nee, ich bin doch noch nich janz und jar varrickt!«

Annemarie kam Arm in Arm mit Margot und Vera aus der Schule; der Jugend machte die große Umwälzung ungeheuren Spaß.

»Wenn ich bloß morgen nicht verschlafe und pünktlich um sieben in der Schule bin!« regte sich Margot auf.

»Um acht meinst du – –« lachte Annemarie.

»Na, aber morgen geht's doch schon nach der neuen Zeit«, die Mädel wollten sich ausschütten vor Lachen. Man wurde wirklich ganz wüst im Kopf.

»Ich lege mich heute eine Stunde früher ins Bett«, überlegte Vera.

»Fällt mir ja nicht im Traum ein. Im Gegenteil, ich möchte so schrecklich gern nachts um elf mit Klaus nach dem Rathaus. Klaus sagt, da sieht man, wie es plötzlich eine Stunde später wird. Das muß großartig sein.«

»Ja, erlaubt denn das deine Großmama, daß du so spät noch fortgehst?« verwunderte sich Margot.

»I bewahre – ich möchte ja auch bloß gern. Also auf Wiedersehen, morgen zur deutschen Sommerzeit – hurra – da sind wir alle eine Stunde älter geworden!« übermütig trennten sich die Freundinnen.

Nach dem Mittagessen winkte Klaus der Schwester mit vielsagendem Gesicht.

»Na, Annemie, wie ist es, kommst du heute nacht mit nach dem Rathaus?«

»Ach, Kläuschen, Großmama wird es nie und nimmer zugeben – – –«

»Ja, wenn du auch so dämlich bist, noch zu fragen!« Kläuschen, der Bösewicht, sah die jüngere Schwester verächtlich an.

»Fräulein merkt es doch, wenn ich auskneife«, Annemarie wäre brennend gern mitgegangen.

»Quatsch mit Soße, Fräulein schnarcht wie 'ne Ratze. Wenn du keine Lust hast, dann laß es bleiben. Dann gehe ich eben allein. Aber das kann ich dir sagen, noch mal wirst du so was Großartiges in deinem ganzen Leben nicht zu sehen bekommen – das ist heute nacht ein welterschütterndes Ereignis. Und Pflicht eines jeden gebildeten Menschen ist es, demselben beizuwohnen.« Das klang so überzeugungsvoll, daß Nesthäkchen sich ganz ungebildet vorkam, daß es überhaupt noch schwanken konnte.

»Ich werde mal sehen. Wenn Fräulein schläft, komme ich vielleicht mit«, sagte Annemarie schließlich, schon halb gewonnen.

Den ganzen Nachmittag befand sie sich in begreiflicher Aufregung. Kaum vermochte sie die Gedanken für ihre Schularbeiten zu sammeln.

Sollte sie, oder sollte sie nicht?

Am Abend warf die deutsche Sommerzeit bereits ihre Schatten voraus. Das Braunsche Haus machte sie ganz rebellisch.

Fräulein deckte den Abendbrottisch.

»Ist es denn schon so spät, Fräulein?« verwunderte sich die Großmama.

»Ja, in fünf Minuten acht. Hanne wird gleich die Milchnudeln hereinbringen.«

Die weiblichen Familienmitglieder nahmen um den Tisch Platz. Klaus war nie pünktlich zur Stelle. Großmama klingelte nach dem Essen. Eigentlich hatte sie noch gar keinen rechten Appetit.

Die Köchin erschien mit verdutztem Gesicht, aber ohne Milchnudeln.

»Ja, was soll denn das bedeuten? Heut' ist doch noch nich morjen, und überhaupt ich mache die varrickte Zucht nich mit. Ich hab' eben erst die Nudeln aufjesetzt«, rief die Küchenfee brummig.

Der Hanne, die schon so lange im Hause war, nahm man ein offenes Wort nicht übel. Wenn sie auch manchmal polterte, sie meinte es herzensgut.

»Aber Hanne, sehen Sie doch mal nach der Uhr, es ist ja bereits acht«, sagte Großmama denn auch nur, auf die Standuhr in der Ecke weisend.

»Meine Küchenuhr ist erst sieben«, knurrte Hanne.

»Dann geht sie nach«, entschied Fräulein. »Die Uhren im Wohn- und Sprechzimmer schlagen auch gerade acht.«

»Meinetwejen, denn führ' ich eben die allerneuste Sommerzeit ein – vor 'ner Stunde kann nich jejessen werden«, wütend verschwand die Köchin.

»Mit der Hanne ist es jetzt während des Krieges manchmal gar nicht mehr auszuhalten. Sage ich, sie nimmt zuviel Fett zu den Speisen, dann faßt sie das als persönliche Beleidigung auf. Jede Kriegssparsamkeit, jedes Haushalten ist ihr gegen die Natur,« seufzte die Großmama.

»Sie meint es aber wirklich nicht böse«, nahm Nesthäkchen seine alte Freundin in Schutz.

Nein, Hanne meinte es wirklich nicht böse. Ihr Poltern tat ihr bereits draußen in der Küche wieder leid. Eine halbe Stunde später standen die Nudeln auf dem Tisch.

»Es hat doch schneller jejangen«, setzte sie erklärend hinzu, und das war so gut wie eine Entschuldigung.

Großmama hatte allmählich den richtigen Appetit bekommen; man ließ sich das Kriegsabendbrot schmecken. Nur Klaus, der bei einem Freunde war, fehlte noch.

»Nun könnte der Junge aber wirklich hier sein, es ist nach halb neun«, meinte Fräulein kopfschüttelnd.

»Ja, so viel Rücksicht kann er üben, daß er wenigstens die Mahlzeiten pünktlich innehält.« Großmama war ebenfalls unzufrieden.

Annemarie sagte gar nichts. Aber um so angestrengter überlegte sie. Ob der Klaus am Ende schon vor dem Rathaus Aufstellung genommen hatte wegen des guten Platzes?

Nein, da ging die Tür. Pfeifend, als ob er gar nichts auf dem Kerbholz hätte, erschien Klaus. Die Uhren ließen gerade neun Schläge durch die Wohnung hallen.

»Nanu, schon gegessen?« fragte er verdutzt.

»Na, erlaube mal, mein Junge. Du kannst doch unmöglich verlangen, daß wir dir zuliebe unsere Tischzeit verändern. Ich muß dich dringend bitten, künftig pünktlich zu sein«, sagte Großmama mit Nachdruck.

»Ich bin nie so pünktlich gewesen wie heute – –«

»So ...?« Alle drei wiesen zu gleicher Zeit vorwurfsvoll auf die Uhr.

»Donnerschock. Das hab' ich ja ganz vergessen!« Klaus brach in ein lautes Gelächter aus. »Ich habe nämlich unsere Uhren schon heute eine Stunde vorgestellt, damit wir uns allmählich an die deutsche Sommerzeit gewöhnen.«

Da stimmten auch die andern in das frische Jungenlachen ein. Selbst Hanne, die noch mal die Nudeln wärmen mußte.

Aber als Klaus ihre Weckuhr dann auch um eine Stunde vorstellen wollte, wehrte sich Hanne ganz energisch dagegen.

»An meine Uhr hat keiner nich was zu suchen – und wenn die ganze Welt varrickt jeworden is, ich steh' auf wie alle Tage.«

»Aber Hanne, dann müssen wir ja ohne Kaffee in die Schule gehen«, jammerte Nesthäkchen.

»Ist euch janz recht, wenn ihr so'n verdrehtes Zeug mitmacht – ich wecke um sieben wie immer!«

Fräulein versprach statt ihrer, die Kinder pünktlich zu wecken. Man ging heute zeitiger schlafen als sonst, da man morgen früher aufstehen mußte. Annemarie war es recht, dann schlief Fräulein sicher schon gegen zehn Uhr.

Ein furchtbar schlechtes Gewissen hatte die Annemarie, als sie Großmama heute den Gutenachtkuß gab.

»Wenn die Uhr elf schlägt, stehst du leise auf. Dann ist es erst zehn, und wir kommen noch gerade zur Zeit. Den Hausschlüssel habe ich schon gemaust«, hatte Klaus ihr noch zugewispert.

Nesthäkchen lag im Bett und betete: »Lieber Gott, da du meine Mutti in der alten Zeit nicht hast aus dem ollen England zurückkommen lassen, so tue es doch, bitte, bitte, in der neuen Sommerzeit!« Da aber legte es sich Annemarie plötzlich schwer auf das Herz: Wie sich alles Gute in der Welt belohnte, so wurde sicher auch das Böse gestraft. Wenn der liebe Gott nun ihre Mutti überhaupt nicht nach Haus kommen ließ, als Strafe für ihr heimliches Auskneifen? Sollte sie nicht gehen? Aber Klaus würde sie dann für ganz ungebildet halten – »lieber Gott, mach' doch, daß ich schon eingeschlafen bin, wenn die Uhr elf schlägt!« so betete Annemarie inbrünstig.

Und wirklich – es dauerte nicht lange, da senkten sich die langen, goldenen Wimpern über die blauen Sterne – Nesthäkchen schlummerte sanft und fest.

Es hörte nicht das Schlagen der Uhr, nicht das vorsichtige Tappen der Jungenfüße an der Kinderstubentür.

»Annemarie, bist du auf?« flüsterte es leise.

Keine Antwort.

Klaus öffnete die Tür. Er hatte Annemarie versprochen, sie mitzunehmen, und – es war ihm auch gemütlicher in Gesellschaft, als ganz allein mitten in der Nacht.

»Annemarie, so wach' doch auf«, er tastete sich zu ihrem Bett, um sie am Arm munter zu rütteln.

Bums – da war er in der Finsternis gegen einen Stuhl gerannt, mit lautem Gepolter flog derselbe um.

Fräulein und Annemarie fuhren zu gleicher Zeit erschreckt hoch.

»Was ist denn los?« Fräulein knipste das elektrische Licht. Da sah sie Klaus mit Hut und Mantel und dem dümmsten Gesicht von der Welt mitten im Zimmer stehen.

»Ich – ich ...« stotterte er und war im Augenblick um eine Ausrede verlegen.

Annemarie aber mußte lachen, sie konnte sich nicht helfen.

»Ach, Klaus, sagen wir es doch ganz ruhig, es wird ja nun doch nichts draus«, Annemarie ward es ungeheuer leicht ums Herz. »Aber du darfst nicht schimpfen, Fräulein, das mußt du mir vorher feierlichst versprechen.« Dies geschah. Und nun beichtete Nesthäkchen.

So mußte das »welterschütternde Ereignis«, daß der Zeiger der Rathausuhr statt auf elf gleich auf Mitternacht rückte, ohne die Anwesenheit der Braunschen Sprößlinge vonstatten gehen.

Am nächsten Morgen aber weihten sie die neue Sommerzeit ein, indem sie trotz der am vorigen Tag bereits gestellten Uhren alle miteinander verschliefen. Aber zum Glück waren Klaus und Annemarie nicht die einzigen in der Klasse, die zu spät kamen. Allenthalben mußte man sich erst an die neue Zeit gewöhnen.

Droben am Himmel aber stand die goldene Maiensonne und lachte die dummen Menschen aus, welche ihr ins Handwerk pfuschen wollten. Ja, sie und Doktors Hanne, die wußten alle beide besser, was die Glocke eigentlich geschlagen hatte.

Aber selbst Hanne vermochte sich der neuen Zeit, die sich viel schneller einbürgerte, als jeder geglaubt, nicht zu entziehen. Sie konnte doch unmöglich »ihre Kinder« jeden Morgen ohne Kaffee in die Schule gehen lassen. Und wenn sie abends, nach ihrer Uhr um halb acht, noch schnell zum Kaufmann herumspringen wollte, hatte der längst geschlossen. Es half nicht, auch die rebellische Hanne mußte sich der deutschen Sommerzeit unterordnen. Nicht lange, da meinte sie ganz ausgesöhnt: »Es is wirklich jar nich so ohne, wenn man sich so'n schönen Maiabend auch mal bei Tage besieht!«

Nicht lange dachte kein Mensch mehr daran, daß es eigentlich eine Stunde früher war. Auch Großmama hatte sich trotz aller Altmodischkeit darein gefunden.

In der Heimat sowohl, als auch draußen an der Front, regierte die neue Zeit, und Deutschlands Feinde machten es sämtlich nach.

So verging der Wonnemonat, und der erste Juni ließ wieder ein farbenfreudiges Flaggenmeer über die deutschen Gaue flattern. Diesmal galt der Fahnengruß der Marine, den »Blaujacken«. Die erste große Seeschlacht war am Skagerrak geschlagen, Deutschlands junge Flotte hatte einen glänzenden Sieg über Englands weltbeherrschende Seemacht errungen.

»Unser Hänschen brauchte bloß zur Marine zu gehen, da gibt's gleich einen großen Sieg!« jubelte Doktors Nesthäkchen.

Es saß unter wallenden Fahnen auf dem Balkon und schrieb an den Bruder. Die Junisonne blitzte und flimmerte vom Himmel herab, sie machte die Siegesfahnen alle noch leuchtender und ließ Annemaries Blondhaar wie lauter Gold flimmern. Bis ins innerste Herz hinein sandte sie dem jungen Kinde ihren Schein. Da ward es Nesthäkchen so freudig, so erwartungsvoll zumute, es wußte allein nicht, was das nur war.

Die liebe Sonne am Himmel aber wußte es. Die lachte sich ins Fäustchen und sandte ihre Strahlen jetzt durch das Fenster des prustend in Berlin einfahrenden D-Zuges, an dem eine schlanke, blonde Frau feuchten Auges die Türme ihrer Heimatsstadt nach langer Zeit wieder grüßte.

Annemarie schrieb und schrieb. So ausgelassen die Sonnenlichter auch über das Papier huschten. Ja, ahnte denn das dumme Nesthäkchen noch immer nichts?

Durch die stille Straße ratterte ein Auto. Es hielt vor dem Braunschen Hause. Jetzt endlich hob Annemarie den Blondkopf und spähte neugierig über Tausendschönchen und Stiefmütterchen hinweg.

Da ging es wie ein elektrischer Ruck durch die Kindergestalt – – –

»Mutti – meine einzige Mutti! – – –« ein Jubelschrei gellte durch die stille Straße, wie dieselbe ihn noch nie vernommen.

Waren es nur wenige Sekunden – eine Ewigkeit dünkte es Nesthäkchen noch, bis es die Treppen hinuntergesaust war, bis es endlich, endlich wieder am Mutterherzen lag.

»Meine Lotte – mein Nesthäkchen – mein liebes Kleines – solange hab' ich dich entbehren müssen!« fest, ganz fest hielten sich Mutter und Kind umschlungen.

Was fragten die zwei nach fast dreijähriger Trennung danach, daß hier und da neugierige Gesichter an den Fenstern auftauchten, daß die Autoführerin noch immer auf ihre Bezahlung warten mußte?

Erst als polternde Jungenfüße, von einem Freudengewinsel Pucks begleitet, auf die Straße herausgestürmt kamen, ließ Mutti ihr Nesthäkchen aus dem Arm, um den braunen Krauskopf ihres Jungen zu herzen und zu küssen.

Da mußte sich die Autoführerin noch ein Weilchen gedulden. Aber sie tat es gern, stieg es ihr doch selbst heiß in die Augen bei diesem Wiedersehensglück.

In jedem Arm eins ihrer Kinder, so betrat Frau Doktor Braun wieder ihr Haus. Auf dem untersten Treppenabsatz stand die Großmama. Sie konnte es nicht erwarten, bis die Tochter oben war.

»Mutterchen, dir danke ich es, daß ich fern von der Heimat ruhig sein konnte um meine Kinder«, innig schmiegte sich der blonde Kopf an den weißhaarigen der alten Dame. Nesthäkchen aber durchzuckte plötzlich inmitten des Glücksüberschwalls ein scharfes Weh. Durch Muttis Blondhaar zogen sich Silberfäden – deutlich sah Annemarie es beim Schein der durch das Treppenfenster huschenden Sonnenstrahlen. Daran trug die schwere Zeit im Feindesland die Schuld – wie wollte Nesthäkchen durch seine Liebe Mutti dieselbe vergessen machen!

Auf dem nächsten Absatz hatte Fräulein mit frohen Augen Posto gefaßt, ganz oben aber thronte Hanne, die lachte über das ganze breite Gesicht.

»Na, Jott sei Dank, daß jnädije Frau wieder bei uns is, nu wird's ja woll auch mit dem entsetzlichen Krieg 'n Ende haben«, sagte sie überglücklich.

»Ja, Hanne, was ich dazu tun kann, das soll sicher geschehen«, scherzte Frau Doktor, und die Wehmut, die ihr beim Eintritt in ihr Heim nach so langer Zeit kommen wollte, schlich sich schnell beiseite.

Draußen wehten siegesfrohe Fahnen, drinnen in dem gemütlichen Wohnzimmer saßen überselige Menschen glücklich vereint wieder beisammen. Die liebe Sonne aber glänzte mit Annemaries Augen um die Wette.

Und Mutti erzählte.

Dazwischen aber wanderte ihr Blick immer wieder zu ihrem blühenden Nesthäkchen, jetzt »ihrer Großen«, die nicht mehr kleiner war als sie selbst. Wie dankte sie dem da droben, daß sie endlich wieder daheim sein durfte, daß er Heimat und Haus gnädig beschirmt hatte.

Als die Pfingstglocken durch das Land sangen, da war auch der Vater auf Urlaub heimgekehrt. Still lauschten sie innig vereint dem ehernen Klange, und jeder von ihnen empfand das, was die Mutter aussprach: »Mögen es bald die Friedensglocken sein, die Deutschland durchjubeln – das walte Gott!«

*

Mit diesem Wunsche nehme ich Abschied von euch, meine lieben, jungen Leserinnen. Auch mancher von euch hat der Weltkrieg wohl, gleich unserm Nesthäkchen, Opfer auferlegt, kleinere oder größere. Aber ich bin davon durchdrungen, daß auch ihr sie freudig fürs Vaterland auf euch genommen habt. Wenn das schwere Ringen zu Ende und ein siegreicher Frieden unserer teuren Heimat beschieden ist, dann erzähle ich euch, was aus Doktors Nesthäkchen wurde. Bis dahin lebt wohl!


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