Else Ury
Nesthäkchen und ihre Küken
Else Ury

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8. Kapitel.

Feuer.

Endlich machte Frau Annemarie kehrt und schritt zum Hause zurück.

»Als ich damals in die Schule kam,« dachte sie, »da war die große bunte Schultüte von der Großmama die Hauptsache von dem wichtigen Tage. Ich glaube, es gab sogar eine Keilerei mit Klaus deshalb. Wie dumm, daß wir nicht daran gedacht haben, fürs Vronli eine Schultüte, wenn auch in bescheidenerem Maßstabe, zu besorgen. Ich muß es doch noch dem Rudi – – –« Gellendes Geschrei riß Annemarie aus ihren Gedanken.

Der alte Mann drüben am Fenster sah die junge Frau plötzlich den Gartensteig hinausjagen. Um Himmels willen – da war doch nichts passiert? Hatten die beiden Kleinen wieder mal etwas angestellt?

Hansi und Ursel – letztere hatte inzwischen auch die Blauaugen aufgeschlagen und vergebens nach der Mutti gerufen – waren zuerst ungewöhnlich brav gewesen. Hansi hatte sich damit beschäftigt, Vaters saubere Manschetten als weiße Schwäne im Ausgußeimer schwimmen zu lassen. Ursel dagegen hatte ungeheure Anstrengungen darauf verwendet, von ihrem kleinen Gitterbettchen in Muttis Bett hinüberzuklettern. Endlich war das Kunststück gelungen. Der kleine blondlockige Punkt lag in dem großen Bett und verkündete selig: »Lein-Usche jescht Mutti.«

»Denn mußte dehaupt immer bloß slafen und dar niß die Augen auftriegen, denau wie Muttißen«, gab der große Bruder seine Meinung ab.

»Denau Mutti.« Ursel kniff die Augen krampfhaft zu.

»Und Hansi is Vaterle.« Der Kleine versah sich mit einem Kragen des Vaters und würgte einen Schlips herum.

»Vaterle muß Ziretten hauchen.« Der Kleine griff nach dem Zigarettenetui, das der Vater auf dem Nachttisch hatte liegen lassen. Auch eine Streichholzschachtel lag daneben. Trotzdem es den Kindern streng verboten war, Streichhölzer anzufassen – oder gerade deshalb –, griff die kleine dicke Patschhand unternehmungslustig danach. Er steckte sich eine Zigarette in den Mund.

»Baba!« sagte er und spuckte sie schleunigst wieder aus. Denn bisher kannte er nur Schokoladenzigarren und war arg enttäuscht.

Aber die Streichhölzer tat er nicht fort. Ursel, die vor lauter Bewunderung vergaß, daß man als Mutti die Augen zuzukneifen hatte, sah andächtig zu, wie er das Hölzchen an der Reibfläche rieb. Das Streichholz war klüger als Hansi. Es wollte nicht brennen. Aber schließlich hatte er das Kunststück doch fertiggebracht.

»Guckelißtsen« – in nichtsahnender Seligkeit hielt der Kleine das brennende Streichholz zwischen den Fingern.

»Tuckelißt – Lein-Usche Tuckelißt haben – – –«. Das Schwesterchen kam aus dem Bett heraus. Aber schon hatte Hansi mit lautem »Aua – wehweh!« das niedergebrannte Streichholz, das ihn am Fingerchen gebrannt hatte, von sich geworfen. Es fiel aufs Deckbett, wurde zum roten Funken und alsbald zu einer niedlich emporzüngelnden kleinen Flamme.

»Sseenes Tuckelißtsen!« Klein-Ursel war ganz Begeisterung.

»Hat Hansi danz erlein demacht.« Stolz blickte der Kleine auf sein Werk.

Aber die Flamme wird größer und größer. Reißend schnell wächst sie. Dicker, schwarzer Rauch wirbelt empor. Nein, das ist doch ungemütlich – ein Bild aus dem Struwwelpeterbuch kommt dem Hansi in den Sinn: das brennende Paulinchen. Er beginnt aus Leibeskräften zu brüllen.

»Lein-Usche auschpuschten – doll auschpuschten – – –.« Alles Pusten hilft nichts. Da verliert auch das schöne »Guckelichtchen« für Ursel seinen Reiz. Sie stimmt laut in Hansis Jammergeheul ein.

»Pottlaufen – snell pottlaufen!« Hansi will das Schwesterchen mit sich fortziehen.

»Tuckelißtsen tommt mit!« Wirklich, das Feuer kommt hinterdrein. Schon knistern die Bettpfosten, schon greifen die Flammen über zu Klein-Ursels Bett.

»Lein-Usche Bettßen – olles Tuckelißt!« Trotz des schreienden Protestes der kleinen Besitzerin beginnen die bösen Flammen mit gierigen, blutroten Zungen Klein-Ursels Kopfkissen mit dem hübschen Spitzeneinsatz, den die Großmama gehäkelt, zu fressen.

Dichter Qualm erfüllt das Zimmer, reizt die Kinder zum Husten. Sie finden die Tür nicht mehr in diesem Augen und Hals beißenden, schwarzen Rauch.

Da wird die Tür aufgerissen. Todesentsetzte Mutteraugen starren weitaufgerissen in das Furchtbare.

»Rudi – unsere Kinder – unsere Kinder!« Wie der Schrei einer Irren gellt es von Annemaries Lippen. Dann ist sie mittendrin in Rauch und züngelnden Flammen. Neben ihr arbeitet sich Rudi, der mit ihr zu gleicher Zeit das Schlafzimmer erreicht hat, durch die schwarze Rauchmauer hindurch.

»Meine Kinder – meine süßen Kinder – – –!« Annemarie empfindet nicht die sengende Hitze. Mutterliebe treibt sie mitten hinein in das Flammenmeer.

Da fühlt sie sich am Arm gepackt – rückwärts gerissen.

»Zurück – Annemarie – zurück! Hier ist's Ursele – 'naus mit euch beiden!« Irgend etwas wird ihr in die Arme gedrückt, die so kraftlos sind, daß sie die leichte Last kaum tragen können.

Sie fühlt sich, gänzlich willenlos, zur Tür geschoben, kaum vermag sie noch hervorzustoßen: »Hansi – Hansi – – –?«

»Den Bub hab' ich – nur 'naus ins Freie, daß ihr außer Gefahr kommt.«

Frische Luft schlägt Annemarie entgegen. Kühles Regennaß kühlt den gluterhitzten Kopf. Sie empfindet einen stechenden Schmerz an der Hand. Aber sie achtet dessen nicht.

»Rudi – leben sie?« Mit angstverzerrtem Gesicht schaut sie auf das rauchgeschwärzte Kleinchen in ihren Armen, das die Augen fest geschlossen hält. Auch Hansi gibt keinen Laut von sich.

»Ich hoff's halt zu Gott. Aber nun müßt ihr aus dem Regenwetter irgendwo ins Quartier, wohin jetzt mit euch?«

»Zu mir. Ich bitte, daß Sie mir die Ehre geben, Herr Doktor, mir Gattin und Kinder anzuvertrauen. Pfefferkorn ist mein Name. Ihr Nachbar von gegenüber.« Der alte Junggeselle von drüben stand im Schlafrock und Troddelmütze plötzlich im Garten hinter ihnen. Es hatte ihn hinübergetrieben, wie er ging und stand, als in der stillen Straße die Entsetzensschreie laut geworden, als schwarze Rauchwolken aufquollen. Er hatte bereits ein Unglück geahnt, als er die junge Frau plötzlich ins Haus jagen sah.

»Herr Pfefferkorn, ich bin Ihnen für Ihr freundliches Anerbieten sehr dankbar. Wollen Sie sich bitte meiner Frau und der Kinder annehmen! Ich muß noch einmal ins Haus, die Feuerwehr telephonisch zu alarmieren und meine Kassette mit wichtigen Papieren zu holen.« Er legte den bewußtlosen Hansi dem fremden alten Herrn in den Arm. »Auch das Mätzele, die Freude der Kinder, darf nimmer in den Flammen umkommen – – –.« Damit war Rudi schon wieder die Steinstufen zum Haus hinauf.

»Aber du darfst in den Flammen umkommen, was – ich bleibe bei dir, Rudi, ich sterbe mit dir, wenn es sein muß – – –.« Sinnlos vor Sorge, wollte Annemarie dem alten Junggesellen auch noch die Ursel in den anderen Arm drücken und hinter ihrem Manne her zurück in das brennende Haus.

»Halt – halt, junges Frauchen!« Fest ward Annemaries Handgelenk umspannt. »Ihre erste Sorge sind jetzt die kleinen Kinder, die brauchen die Mutter und müssen so schnell wie möglich ins Trockene. Kommen Sie, liebe gnädige Frau, nehmen Sie meinen Arm. Stützen Sie sich darauf. Der Gatte wird uns alsbald folgen.«

»Gott geb's – Gott geb's!« Wie von Sinnen flüsterte es Annemarie vor sich hin. Dann schwankte sie an der Seite des fremden alten Mannes aus ihrem Heim heraus, das ihr Glück umschlossen hatte.

»Frau Lübke, schnell – eine Wärmkruke und Decken«, rief Herr Pfefferkorn schon in der Tür seiner Wirtschafterin, die irgendwo rumorte, zu.

»Nanu, wo brennt's denn – so' ne Eile wird's ja woll nich haben«, knurrte die zurück, ohne zum Vorschein zu kommen. Frau Lübke ahnte nicht, daß sie den Nagel auf den Kopf getroffen.

»Drüben bei Doktors brennt's – die Familie ist hier bei uns. Warme Sachen und heiße Milch für die Kinder, Frau Lübke.« Die Wirtschafterin kannte ihren unpraktischen alten Herrn, der den ganzen Tag bei seinen Büchern hockte, in der plötzlich erwachten Tatkraft überhaupt nicht wieder.

»Jotte doch, jetzt macht er noch jar 'ne Kleinkinder-Bewahranstalt bei uns auf!« Trotz ihres Knurrens brachte Frau Lübke die gewünschte Wärmflasche und Decken herbei.

Hansi und Ursel wurden, in trockene Sachen gehüllt, auf das große schwarze Ledersofa gebettet. Die Mutter flößte ihnen warme Milch ein. Klein-Ursel hatte auch bereits die Blauaugen wieder geöffnet, sie aber mit einem Angstschrei: »Bubumann – Bubumann!« sofort wieder geschlossen. Phantasierte das Kind?

Hansis Bewußtsein kehrte erst wieder, als Annemarie ihm kalte Kompressen auf die Stirn legte.

»Wehweh«, meinte er. Aber man bekam nicht heraus, wo er Wehweh hatte. Nur an dem rechten Zeigefingerchen entdeckte die Mutter eine kleine Brandblase.

Annemarie tat alles Notwendige mechanisch wie ein Automat. Herr Pfefferkorn ging an sein Wandschränkchen, füllte ein kleines Spitzgläschen mit Kognak und reichte es der Erbleichten.

»Trinken Sie, liebe gnädige Frau, das gibt Ihnen neuen Lebensmut«, redete er ihr freundlich zu.

Annemarie nahm gehorsam ein paar Tropfen. Dann aber schlug sie die Hände vors Gesicht. »Mein Mann – mein geliebter – – –!« Die letzten Worte erstickten in einem Tränenstrom. Der alte Junggeselle, der niemals eigenes Familienglück kennen gelernt hatte, erriet sie nur.

Als die Kinder die Mutter weinen sahen, begannen auch sie wieder ein Heulduett.

»Sei ruhig, Mäuschen.« Unbeholfen wollte der alte Junggeselle, der nie Kinder gewiegt, Klein-Ursel auf den Arm nehmen, um sie zu beruhigen.

Aber die Wirkung war eine entgegengesetzte. Klein-Ursel wehrte sich ganz rabiat, kratzte und biß wie ein Tigerjunges und schrie dazu wie am Spieß: »Oller Bubumann – deh wett, oller Bubumann!«

Auch bei Hansi hatte Herr Pfefferkorn mit seinen Tröstungen nicht viel besseren Erfolg. Nur daß der Kleine schrie: »Hansi Anst – oller Bubumann soll hausdesmeißt werden!«

Ein wehmütiges Lächeln zog über die verknitterten Züge des Alten. Die Kinder hatte er liebgewonnen aus der Entfernung, wie er sich an Sonne und Blumen erfreute. Und jetzt, wo er ihnen Gutes bot, wo er ihnen sein Haus öffnete, wollten sie ihn zum Dank dafür rauswerfen. Es war zum Lachen, wenn es nicht weh getan hätte. Er war nun mal dazu bestimmt, einsam zu sein.

»Rudi – Rudi – – –.« Annemarie schrie plötzlich auf und wollte zur Tür hinaus. Sie sah wieder die fressenden Flammen, die den Geliebten umzüngelten – – –.

»Herzle – was regst dich denn gar so arg auf!« Eine wunderbar beruhigende Wirkung hatte diese Stimme. Da war er, den sie soeben vom Flammentod bedroht gesehen, frisch und unversehrt. In der einen Hand die eiserne Kassette, in der andern das Bauer mit dem flatternden Mätzchen.

»Rudi – mein Einziges – Gott sei Dank, daß ich dich wieder habe!« Sie hing an seinem Hals weinend und lachend zugleich. Sie streichelte seine rauchgeschwärzten Wangen, unbekümmert darum, daß ein Fremder Zeuge ihres elementaren Gefühlsausbruchs war.

Herr Pfefferkorn hatte sich abgewandt. Er trommelte an die Fensterscheiben einen Marsch. Das tat er von jeher, wenn ihm etwas ans Herz griff. Seit vielen, vielen Jahren hatte er nicht mehr getrommelt. Die weichen Gefühle waren ihm allmählich in seiner Einsamkeit eingerostet.

»Die Feuerwehr – da ist bereits die Feuerwehr. Das nenne ich schnell wie der Blitz!« rief Herr Pfefferkorn anerkennend.

Klinglinglingling – da hielt die Feuerwehr drüben vor dem qualmenden Doktorhaus. Wie der Wind war die Mannschaft von den Wagen. Leitern wurden abgeladen. Spritzen in Bereitschaft gestellt.

Schschsch – in gewaltigem Bogen ging der löschende Strahl hernieder.

Es war merkwürdig, ebenso schnell wie die Feuerwehr, waren auch die müßigen Gaffer zur Stelle. Wo sie hergekommen in dieser stillen Straße, bei dem scheußlichen Regenwetter, blieb ein Rätsel!

Auch kleines Publikum gab es. Hansi empfand plötzlich kein Wehweh mehr – keine Angst vor dem alten Bubumann. Beim ersten Klinglingling der Feuerwehr war er vom Sofa herunter und ließ sich von Herrn Pfefferkorn aufs Fensterbrett heben.

Klein-Ursel war konsequenter. Die wollte noch immer nichts vom Bubumann wissen. Vaters Arm war unbedingt vertrauenerweckender.

Ein grellroter Funkenregen stob in die Luft – zischend kam die lange, graue Gummischlange und ließ ihren Wasserstrahl darauf herniederbrausen.

»Da geht unser glückliches Heim in Flammen auf!« flüsterte Annemarie, mit schwimmenden Augen dem Zerstörungswerk zuschauend.

»Nein, Herzle, mein lieb's, schlimmstenfalls das Heim! Das Glück halten wir fest in uns und mit unseren Kindern. Das kann uns nimmer eine Feuersbrunst zunichte machen.« Innig drückte Rudi die Hand seines Weibes.

Annemarie unterdrückte einen Schmerzenslaut.

»Ja, was ist denn, Frauli?«

»Meine Hand muß wohl etwas abbekommen haben.« In der furchtbaren seelischen Erregung hatte Annemarie den brennenden Schmerz an der Hand kaum gefühlt.

»Aber Herzle – armes Herzle, das sieht ja arg aus! Geradezu ins Feuer mußt du 'neingefaßt haben in deiner sinnlosen Angst um die Kinder. Wart', gleich mach' ich einen Verband.« Zart und behutsam nahm Rudi die liebe Hand, die Schmerzen erdulden mußte, zwischen den seinen.

Verbandzeug trug der Arzt stets bei sich, Öl brachte Frau Lübke herbei. Bald war ein kunstgerechter Verband angelegt, und Annemarie empfand allmählich Linderung. Es brannte nicht mehr gar so arg.

Drüben aber brannte es lustig weiter. Wieder eine glutrote Lohe. »Sseenes Tuckelißt!« rief Klein-Ursel und klatschte jubelnd in die Hände.

»Hat Hansi demacht – danz erlein demacht!« Kein Künstler konnte stolzer sein Werk beschauen als der kleine Brandstifter.

»Ja, das will mir halt auch so scheinen, Büble, als ob du und die Ursel nit so ganz unschuldig an der Geschichte seid. Jetzt erzähl' mal halt, wie war das mit dem Feuer?« begann der Vater die strenge Untersuchung.

»Verschähl mal – Mutti soll verschählen – ßöne Deßißte von naschen Swamm!« Trotz der furchtbaren Ereignisse, die sich inzwischen abgespielt, hatte Hansi den nassen Schwamm noch immer nicht vergessen.

»Nein, du sollst erzählen, Büble.«

Hansi machte ein wichtiges Gesicht. »Also es war mal ein kleiner Sunne, der hieß Hansi«, begann er. Denn so hatte eine jede Geschichte, wenn sie richtig sein wollte, anzufangen.

»Und was tat der kleine Junge?« half die Mutter nach. Denn Hansi hatte natürlich schon wieder vergessen, was man eigentlich von ihm wissen wollte.

»Sseenes Tuckelißtsen dematt«, rief Ursel.

»Dehaupt niß Guckelißt. Hansi hat Ziretten dehaucht wie Vaterle«, rühmte sich der dreijährige Jüngling.

»Der Bub ist an meine Zündhölzer geraten.« Plötzlich war die Ursache des Feuers klar.

»Weißt nit, daß du die nimmer anfassen darfst?« Mitten in seiner Strafpredigt hielt Rudolf Hartenstein inne. Er hatte das unbehagliche Gefühl, daß er dieselbe viel eher verdient hatte für das Vergessen der gefährlichen Dinger, als der kleine unverständige Bub.

»Du bist ja ein ganz abscheulicher Junge, daß du Streichhölzer angefaßt hast!« regte sich Annemarie auf. »Mutti hast du Wehweh gemacht, unser schönes Haus ist nun ganz kaputt – – –.«

»Wie is es taputt detommen?« fragte Hansi höchst interessiert. »Verschähle, Mutti, liebes dutes Muttißen, verschähl doch«, quälte der Kleine, in der Hoffnung, eine schöne Geschichte zu hören.

»Weil du abscheulicher Bengel Streichhölzer angefaßt hast.« Annemarie war gerade zum Erzählen aufgelegt.

»Pßeulißer Bennel – so'n lieber Sunne!« Hansi hatte ungeheures Mitleid mit sich selbst.

Der einzige, der ihn freundlich anschaute, war Herr Pfefferkorn. Der amüsierte sich köstlich über seinen kleinen Besuch. Seit Jahren hatte er nicht solch eine heitere Miene gezeigt.

Hansi verlor dadurch die Furcht vor dem alten Mann. Oder war es seine eigene augenblickliche Vereinsamung, die ihn dazu trieb, plötzlich die Ärmchen um den Hals des einsamen alten Mannes zu schlingen: »Hansi hat Ontel Bubumann lieb!«

Ein warmer Strom durchflutete das alte, liebearme Herz. Die adrigen Hände streichelten das runde, treuherzige Kindergesichtchen, das noch von keinem Arg wußte wie die meisten Menschen, von denen sich der Alte zurückgezogen hatte. »Der Onkel wird dem Hänschen was schenken, was will denn das Hänschen haben?«

»Dar niß Hänßen – is Hansi«, verbesserte der Kleine.

»Also was soll ich dem Hansi kaufen?«

»Ssöne Ssotoladenziretten – olle Ziretten von Vater smecken danz etlis.«

»Also schön, du sollst Schokoladenzigaretten kriegen, mein kleiner Mann.«

»Lein-Usche ollen Bubumann auch pieb«, meldete sich da plötzlich ein Stimmchen.

»Dann gehe hin und gib dem Onkel eine Patschhand, Ursel«, forderte die Mutter das kleine Ding auf.

»Nee – nee –.« Ursel vergrub ihren Kopf an Mutters Brust. »Boß pieb haben, niß hindehen.« Sie hatte augenscheinlich noch große Furcht. Nur die Schokolade, die der Hansi bekommen sollte, war die Triebfeder zu der Liebeserklärung gewesen.

»Die Ursel riecht wie eine gesengte Gans! Die schönen blonden Löckchen hat das böse Feuer abgesengt«, klagte Frau Annemarie.

»Sei froh, daß ihr sonst nix g'schehen ist. Ich geh' halt mal 'nüber zu schaun, wie es steht. Mach' nit gar so bange Augen, Herzle, schau, sie tun schon die Spritzen fort. Das Feuer scheint gelöscht zu sein.«

Kurze Zeit darauf erstattete Doktor Hartenstein wieder Bericht. »Arg wüst schaut's halt aus da drüben, Frauli. Das Feuer hat nit so einen großen Schaden angerichtet wie halt das Wasser. Es ist der braven Löschmannschaft gelungen, die Flammen auf Schlaf- und Kinderzimmer zu beschränken. Die sind freilich eine kohlende Trümmerstätte.«

Für einen Moment übermannte Rudolf Hartenstein, der seiner Frau ein so tapferes Vorbild gab, doch die ganze Tragweite des Verlustes. Es waren vernichtete Werte, die augenblicklich gar nicht wieder zu ersetzen waren.

Annemarie, der keine Regung ihres Mannes entging, war es jetzt, die ihn und sich tröstete: »Wir bauen uns unser Nest wieder auf, Rudi. Nach und nach schaffen wir uns die verbrannten Sachen wieder an. Gut, daß der Wäscheschrank drunten im Schrankzimmer steht. Aber deine Wäsche, Rudi, und die Kleider alle – ach, und meine armen Kinder. Die haben ja nichts mehr anzuziehen!« Der Jammer übermannte Annemarie jetzt doch, als sie erst eingehender die Folgen bedachte.

»Dar niß mehr, Muttissen? Tein Hembsen und tein Hössen? Muß Hansi nu als tleiner Nattedei humlaufen?« erkundigte sich der Kleine mit strahlender Miene.

»Kein Bettchen hat der Hansi und die Ursel mehr«, klagte Annemarie leise weiter.

»Lein-Usche ßäft bei piebe Omama.« Dort hatte Ursel schon öfters mal Mittagsruh gehalten.

»Ja, Rudi, es ist wohl das gescheiteste, ich bringe die Kinder zu den Eltern. Aber was machen wir mit Vronli, die hier draußen in die Schule geht? Und wo bleiben wir? Ist das Speisezimmer gebrauchsfähig?«

»Für Amphibien allenfalls. Für uns halt etwas ungemütlich. Es schwimmt alles. Höchstens könnt' man ein Familienbad dort eröffnen.« Rudi hatte seinen Humor wiedergefunden.

»Gnädige Frau, ich bitte herzlich, betrachten Sie meine Wohnung als die Ihrige«, unterbrach Herr Pfefferkorn, der sich die ganze Zeit über ziemlich schweigsam verhalten, die Überlegungen. »Ich kann gut mit einem Zimmer auskommen. Zwei Räume stehen Ihnen zur Verfügung. Sie können mir keine größere Freude machen, als wenn Sie auf mein Anerbieten eingehen.« Das klang warm und schlicht.

»Verehrter Herr Pfefferkorn,« Doktor Hartenstein zögerte doch etwas, »es ist gar so lieb von Ihnen, uns ganz Fremden gastfrei Ihr Haus zu öffnen. Aber ich glaube, wir dürfen ein so großherziges Opfer nit von Ihnen annehmen.«

»Es ist kein Opfer – es ist krasser Egoismus, Herr Doktor. Ich lebe seit Jahren still für mich im Schatten. Von Ihrem häuslichen Glück verirrten sich ab und zu ein paar Sonnenstrahlen zu mir herüber. Sie sind mir keine Fremden. Ich kenne ein jedes Ihrer Kleinen mit seinem hellen Jauchzen oder seinen leichtfließenden Kindertränen. Ich kenne Ihr liebes, junges Frauchen in ihrer ganzen herzfrohen, energischen Art. Verzeihen Sie dem Beobachter aus der Vogelperspektive, daß er sein einsames Herz ein wenig an fremdem Glück erwärmt hat. Und gönnen Sie ihm für ein paar Tage die liebe Einquartierung.« Der alte Mann streckte dem jungen Arzt bittend die Hand hin. Der schlug, ohne noch weiter zu überlegen, ein.

Auch Frau Annemarie reichte Herrn Pfefferkorn herzlich die gesunde Linke. »Ich hoffe nur, daß unsere Kleinen bei näherer Bekanntschaft Ihr stilles Leben nicht gar zu geräuschvoll gestalten werden«, meinte sie schalkhaft mit der Anmut, die den alten Herrn schon aus der Ferne entzückt hatte. »Wäre es nicht am Ende doch besser, die kleine Gesellschaft zu den Eltern übersiedeln zu lassen, daß nur mein Mann, das Vronli und ich einzuquartieren sind?« gab sie zu bedenken.

Aber davon wollte Herr Pfefferkorn durchaus nichts hören. Den Hansi, das Prachtkerlchen, nein, den ließ er nicht fort. Und mit dem jüngsten Fräulein Tochter hoffte er sich noch anzufreunden. »Bitte, gnädige Frau, richten Sie alles so ein, wie es am praktischsten ist. Sie verstehen das sicher tausendmal besser als ich. Wie Sie es anordnen, ist es recht. Betrachten Sie meine Häuslichkeit als die Ihrige.«

»Ich hoff', daß wir Ihnen nit allzu lang zur Last fallen werden, Herr Pfefferkorn. In einigen Tagen dürften die Zimmer des unteren Stockwerkes schon wieder gebrauchsfähig sein. Am wenigsten hat mein Sprechzimmer gelitten. Da kann ich am End' morgen schon wieder praktizieren.«

»Kann man wenigstens drüben kochen, Rudi? Wie schaut's in unserer Küche aus?« erkundigte sich die junge Hausfrau.

»Halt wie Sodom und Gomorra. Die Aufräumungsarbeiten müssen überall erst einsetzen. Irgendwo fischte ich etwas Gelbes auf. Es waren Floras Kanarienfüße. Sie fahndete drüben wohl entsetzt nach unseren Leichen. Die Haushälterin des Herrn Pfefferkorn ist gewiß so liebenswürdig, uns ein Plätzchen an ihrem Herdfeuer zu gönnen, daß ihr Frauen dort das Mahl richten könnt.«

»Aber freilich – gewiß, gewiß!« bestätigte Herr Pfefferkorn, wenn auch nicht ganz so überzeugt. Denn die Liebenswürdigkeit von Frau Lübke war eine Eigenschaft, die er in den zwanzig Jahren, in denen diese ihm die Wirtschaft geführt, noch nicht hatte entdecken können. Er hielt es denn auch für angezeigt, ihr die Eröffnung über die bevorstehende Einquartierung in Gegenwart der Hartensteinschen Familie zu machen. Um ihrem Gebrumm dadurch einen gesellschaftlich höflichen Damm zu setzen.

Aber da kannte er Frau Lübke, trotzdem dieselbe ihn zwanzig Jahre betreute, denn doch noch nicht.

Ihr breites, wohlgenährtes Gesicht wurde lang und länger.

»Was – jleich die janze Familie? Mit Mächen, Kleinkinderjeschrei und Piepmatz? Na, Sie sind scheene dumm, Herr Pfefferkorn, sich auf Ihre olle Tage noch mit so was zu befassen. Aber det sag' ich Ihn' jleich, Arbeit darf ich keine davon nicht haben. Die Unjemietlichkeit will ich allenfalls mit in'n Kauf nehmen. Jott, man is ja auch kein Unmensch nich.«

»Dann tun Sie doch nicht so, als ob Sie einer wären, Frau Lübke«, meinte Herr Pfefferkorn verlegen, denn er sah, wie der jungen Frau peinliche Nöte bei den taktlosen Worten in das heute so blasse Gesicht gestiegen war. Aber er hatte um des lieben Friedens willen zwanzig Jahre lang zu Frau Lübkes nicht allzu böse gemeintem Gebrumm geschwiegen. So sagte er auch heute nichts weiter.

Man einigte sich darauf, daß Herr Pfefferkorn in sein Arbeitszimmer übersiedeln sollte. Das große Ledersofa war zum Ausziehen – oh, als Junge daheim im Elternhause hatte er stets darauf geschlafen. Er freute sich wirklich darauf, es wieder mal zu versuchen, denn so gut schlief er jetzt im Bett nicht mehr wie damals.

Die Unterbringung der Doktorfamilie machte schon mehr Kopfzerbrechen. Ein Bett war da. Zwei eiserne Feldbettstellen standen drüben auf dem Boden, die würden durch das Feuer wohl nicht gelitten haben. Hoffentlich waren auch die Reservebetten, die noch aus der Zeit stammten, wo die Großmama das Haus voller Kinder gehabt, in Ordnung. Vronli brachte man auf der Chaiselongue im Wohnzimmer unter und die beiden Kleinen konnte man in Herrn Pfefferkorns Bett legen, eins am Kopf- und eins am Fußende. Ja, so würde es gehen.

Nach dem aufregenden Morgen kam alles wieder ins Gleichmaß durch die tägliche Arbeit. Rudi mußte in die Klinik und übernahm es, die Eltern von dem bösen Geschehnis in Kenntnis zu setzen. Annemarie begab sich mit Flora zur Brandstätte, um das Notwendigste, was die Gier der Flammen ihr noch gelassen, zusammenzusuchen. Hansi war damit einverstanden, bei Herrn Pfefferkorn zu bleiben und dessen Schmetterlingssammlung, die besonders schön sein sollte, anzusehen. Was aber fing man mit Klein-Ursel an?

Die wollte absolut nicht bei dem »ollen Onte Bubumann« bleiben. Sie hing sich schreiend an der Mutter Rock und wollte durchaus mit hinüber in ihre »Tinnertube« zu ihren »pieben Püppßen«. Alle Versprechungen, alles Zureden nutzte nichts. Ursel schrie wie besessen: »Mitdehen – Lein-Usche mitdehen!« Annemaries Beruhigungen verhallten. Herrn Pfefferkorns ungeschicktes Besänftigungsstreicheln hatte den entgegengesetzten Erfolg. Ursel stieß seine Hand fort und schrie weiter.

Da erschien Frau Lübke als Retter in der Not.

»Wirste woll jleich stille sein, du Schreihals, sonst sperr' ich dich in de dustere Kabuse!« fuhr sie das brüllende Kind an.

Ursel machte ein höchst erstauntes Gesicht und hielt inne. Die »dustere Kabuse« war eine Bezeichnung, die sie noch nie in ihrem Leben gehört hatte. Ihre Neugier war geweckt.

»Zeid mal, zeid mal Lein-Usche Duse«, verlangte sie. Frau Lübke verstand sich auf Kleinkindersprache nur unvollkommen. Annemarie mußte den Dolmetscher machen.

»Wenn du jetzt ganz artig sein willst, Urselchen, und bei Frau Lübke bleiben, dann zeigt sie dir die Kabuse«, versprach die Mutter erleichtert.

»So atig!« Klein-Ursels Schmerz war gestillt.

Frau Lübke aber machte ein Gesicht, als ob ihr ein Zahn gezogen würde.

»Was – ich soll auch noch Kindermuhme spielen! Das jeht denn doch über die Hutschnur! Na, meinetwejen – denn komm' man, du kleener Blondkopp, komm' man mit raus in de Kiche.«

Für kurze Zeit herrschte wieder Ruhe in den sonst so stillen Räumen des alten Junggesellen.



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