Else Ury
Nesthäkchen und ihre Küken
Else Ury

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12. Kapitel.

Hänschen, Hänschen, denk' daran, was aus dir noch werden kann!«

»Nu sind se wieda heidi, unsere Nesthäkchens, alle mitenander. Ick sag' Ihn', Kulicke, eene Ruhe is jetzt bei uns ins Haus, wie ins Jrab. So'n paar kleene Blondköppe, wenn se ooch Arbeet machen, se bringen doch Leben in de Bude!« ließ Hanne beim Mülleimerheruntertragen ihrem Herzen gegen ihren Vertrauten, dem Portier Kulicke, freien Lauf.

Ja, nun waren sie wieder draußen in Lichterfelde. Es war doch inzwischen November geworden, bis die Räume wieder imstande waren. Hansi hatte seine Sache zu gut gemacht.

Jetzt war aber auch alles wieder sauber und wohnlich. In dem frisch tapezierten Schlafzimmer standen Großmamas Altmahagonimöbel stimmungsvoll zu den jetzt nicht mehr rosenroten, sondern lila Tapeten. Das Kinderzimmer leuchtete in seinem neuen weißen Anstrich. Und wenn auch Puppe Gerda nicht wieder zum Leben zu erwecken war, wozu gab es denn einen Weihnachtsmann? Der würde schon für Ersatz sorgen.

Annemarie ging wie in den ersten Wochen ihrer Ehe in ihrem eigenen Neste umher. Tief innerlich froh und glücklich. Sie hatte wieder zu sorgen, und wie zu sorgen! Die Hauptlast der Wirtschaft lag ihr ob, denn Flochen war in der Zeit ihrer Abwesenheit ganz verwildert, hatte alle mühselig erlernte Dressur wieder eingebüßt.

Von früh bis spät war Frau Annemarie unermüdlich auf den Füßen, um die aus dem Gange gekommene Wirtschaftsmaschine wieder in regelrechten Betrieb zu setzen. Nur selten bekam ihr Gegenüber, Herr Pfefferkorn, so angelegentlich er auch durch die jetzt kahlen Bäume hinüberspähte, seine junge Freundin zu Gesicht. Einen großen blühenden Azaleentopf hatte er ihr zum Empfang hinübergesandt. Der stand vor ihr auf dem Nähtischchen am Erkerfenster. Und er freute sich, wenn er das Goldhaar des über die Arbeit gesenkten Frauenkopfes von den leuchtenden Blütenglocken umrahmt sah.

Gewiß stopfte sie Kinderstrümpfchen. Gewiß scherzte und lachte sie dabei mit ihren Kleinen. Es war dem alten Mann manchmal, als ob er die melodische Stimme bis in die Stille seiner einsamen Stube hinüber vernahm. Aber wenn er deutlich hinhörte, dann war es nur das Heulen des Novembersturmes, das Ächzen und Wehklagen der sterbenden Bäume da draußen. Eine recht traurige Musik.

Hätte der alte Herr selbst bessere Ohren gehabt, als es der Fall war, er hätte doch kein Lachen und kein Scherzen vernommen, wenn Annemarie an ihrem Nähtisch saß. Eher ein ungeduldiges »Verflixt noch mal!«, was ihr noch ab und zu entschlüpfte, trotzdem es von dem Kinderecho freudestrahlend zurückgegeben wurde. Es waren keine kleinen Strümpfchen, über welche Annemaries Blondkopf sich neigte. Die kamen erst abends nach dem Abendessen dran, wenn Rudi daheim war und ihr den zweiten Teil »Faust« vorlas. Der wurde mit zerlöcherten Strümpfchen zusammen genossen.

Nein, die wenige Zeit, die Annemarie von ihren Hausfrauenpflichten blieb, mußte für Margots Jumper, oder vielmehr Schlupfbluse, benutzt werden. O Gott, was war das für eine mühselige Geduldsprobe für die rasche Annemarie! Doktor Brauns Nesthäkchen hatte niemals gern Handarbeiten gemacht. Über die feldgrauen Strümpfe, die sie in der Kriegszeit im Schweiße ihres Angesichts gefertigt, einem Tablettdeckchen für die Großmama und einer Kreuzstichabenddecke, über welche sich die Mutter erbarmen mußte, damit dieselbe nicht an Altersschwäche zugrunde ging, hatte sie es in ihrer Mädchenzeit nicht gebracht. Später als Frau gab es Flickarbeit und Stopfereien genug, da blieb auch keine Zeit mehr dafür.

Und nun saß sie zählend an ihrem Erkerfenster und quälte sich mit der vermaledeiten Schlupfbluse herum. Hübsch gleichmäßig muß es gestrickt sein, hatte Margot ihr noch angesagt. Gleichmäßig stricke einer mal, der sowieso nicht gut stricken kann, auch noch gleichmäßig, wenn jetzt Flora rief: »Jnädje Frau, der Milchreis is anjebrennt.« Wenn Hansi inzwischen die Zeit, wo Muttis Augen auf etwas anderes als auf ihn gerichtet waren, dazu benutzte, um von der Leiter herunterzufallen und sich mit Zetergeheul eine tüchtige Beule zu schlagen. Wenn Klein-Ursel unausgesetzt an der Arbeit zerrte: »Auch ticken – Lein-Usche auch ticken!« Und man nicht nur den Jumper in Gefahr sah, sondern vor allem die Blauaugen des Kindes, die den Stricknadeln beängstigend nahe kamen. Wenn man inzwischen noch das Telephon bedienen und eilige ärztliche Bestellungen nachtelephonieren mußte, wobei man natürlich stets falsche Verbindung bekam, was die Laune nicht gerade verbesserte. Ja, und inzwischen immer wieder nach der Uhr gesehen, ob Vronli noch nicht von der Schule abgeholt werden mußte – einen Blick in die Küche hinein, was Flochen sich nun wieder für Dummheiten leistete. Das sollte ihr Margot erst mal vormachen, dabei auch noch geduldig zu bleiben und »hübsch gleichmäßig« zu stricken.

Annemarie pfefferte, als Flora sie wieder einmal von der Arbeit abrief, die Stickerei so temperamentvoll wie in ihren besten Mädchenjahren in die Ecke, daß die Nadeln reißaus nahmen, und Hansi pedantisch erinnerte: »Muttißen, du hast verdessen, ei deflixt zu sagen.«

Natürlich waren Maschen ausgerissen, von Stufe zu Stufe bis in die tiefsten Tiefen gerutscht. Natürlich hatte Klein-Ursel sich die gute Gelegenheit nicht entgehen lassen, auch zu »ticken« und hatte die Maschen, die noch auf der Nadel geblieben waren, den Flüchtlingen nachgesandt und zum Überfluß auch noch die mühsam vollbrachte Strickerei aufgeräufelt. Das machte ihr ungeheuren Spaß. Ihrer Mutter weniger. Die stand entgeistert vor ihrer Penelope-Arbeit.

Was sollte sie nun tun? Ihrem ersten Impulse folgen und Ursel verhauen? Die Prügel verdiente sie selbst. Die ehrliche Annemarie konnte das unmöglich beschönigen. Aber da dies ein zu umständliches Ding ist, sich selbst zu verhauen, tat sie das Unfruchtbarste, was sie tun konnte – sie setzte sich mit dem zerzausten, wie ein räudiger Hund aussehenden Jumper auf ihren Fensterplatz und weinte bittere Tränen der Verzweiflung auf die hoffnungsgrüne Wolle.

»Muttißen« – entsetzt kamen die Kleinen, die ihre heitere Mutter noch nie so gesehen, zu ihr gelaufen. »Einjes Muttißen, farhum weinste denn? Hat Floßen mit dir deßimft?« Hansi streichelte sie mit seinen dicken Händchen zärtlich.

Ursel riß ihr energisch das Taschentuch von den Augen. »Nich feine, Lein-Usche so atig!«

»Ursel war gar nicht artig. Ursel hat Mutti die schöne Arbeit verdorben. Darum muß die Mutti jetzt weinen.«

»Lein-Usche so ßön detickt.« Die Kleine blieb voll Bewunderung für ihr Werk.

Annemarie trocknete resolut die Augen. War sie wirklich noch unreif genug, wegen einer verdorbenen Arbeit Tränen zu vergießen? Das lohnte sich! Na ja, sie würde die teure Wolle ersetzen müssen. Und dann – was hatte sie nicht schon alles für ihren ersten Verdienst kaufen wollen. Jeden Tag etwas anderes. Natürlich alles für Rudi zu Weihnachten. Er brauchte jetzt so mancherlei, war im wahrsten Sinne des Wortes recht »abgebrannt«. Von dem Wirtschaftsgeld ließ sich beim besten Willen nichts mehr erübrigen. Das langte nicht hin und nicht her, nach welchen Dimensionen man es auch streckte. Sie hatte so fest gehofft, mit diesen Strickereien, die gut bezahlt wurden, ein nettes Sümmchen zusammen zu bekommen. Die Enttäuschung, daß es damit wieder Essig war, hatte ihr die Tränen ausgepreßt.

Wirklich für nichts war sie gut, für alles zu dämlich oder zu ungeschickt!

Seufzend griff sie zum Ausbesserkorb.

An die Strickblusen wagte sie sich in diesem Leben nicht mehr heran.

»Muttißen, von Hänßen verschählen«, verlangte Hansi.

Auch Ursel kam herbei. »Schählen – schählen, Mutti!« Das war ihr gutes Recht. Wenn Annemarie mit Nähereien beschäftigt war, pflegte sie stets mit den Kindern kleine Gedichtchen zu lernen. Liedchen zu singen oder von Rotkäppchen und den sieben Geißlein zu erzählen. Diesmal wünschten sie das Lied von Hänschen zu hören.

Noch immer niedergedrückt, begann Annemarie, während sie Vronlis Höschen ausbesserte, zu singen:

    »Hänschen wollt' ein Tischler werden,
    Ist zu schwer der Hobel,
    Schornsteinfeger wollt er werden« – – –

»Swarzer Bubumann«, rief Hansi dazwischen – –

    »Doch das ist nicht nobel.
    Hänschen – Hänschen – denk' daran,
    Was aus dir noch werden kann«.
»Hänßen – Hänßen dent dahan,
Was aus dir färden tann.«

fiel der Chor jubelnd ein.

Minutenlange Pause. Nachdenklich starrte Annemarie auf die Höschen in ihrer Hand. Erging es ihr nicht genau so wie dem Hänschen in dem Kinderliebe? Nichts verstand sie, zu nichts hatte sie Geschick und Ausdauer.

»Feiter, Mutti, liebes, jüsches, einjes Muttißen, sing doch feiter«, bettelte Hansi.

»Feiter – feiter.« – Klein-Ursel prügelte gleich vor Entrüstung über die Unterbrechung.

Annemarie gab sich einen Ruck, ließ die Nadel wieder durch die Höschen wandern und sang dazu:

    »Hänschen will Buchbinder werden
    Riecht zu sehr der Kleister« –

»Baba!« unterbrach das kleine Publikum und hielt sich das Näschen zu.

    »Immer wenn er was begonnen
    Jagt ihn fort der Meister.
    Hänschen – Hänschen«, denk' daran,
    Was aus dir noch werden kann.«

Wieder erklang das Echo:

»Hänßen – Hänßen – dent dahan,
Was aus dir färden tann.«

»Szeenes Lied!« sagte Hansi und klatschte mit seinen dicken Händchen Beifall.

»Lein-Usche Mutti so pieb!«

Konnte vor so viel Kinderglück schlechte Stimmung anhalten? Nein, dazu brauchte man gar nicht solche Frohnatur zu sein, wie es doch nun mal der Fall war bei Annemarie. Sie warf ihre niederdrückenden Gedanken hinter der fortgeschleuderten Strickerei her und war wieder heiter und guter Dinge mit ihren Kindern. Das war doch wenigstens etwas, was sie verstand, mit den Kleinen zu scherzen und zu spielen.

Mittags, als man bei Tisch saß und sich den »anjebrennten Milchreis«, so gut es ging, munden ließ, begann plötzlich Hansi stopfend zu erzählen: »Muttißen so deweint.«

»Halt wegen der zweiten Feuersbrunst im Milchreis, Herzle?« neckte Rudi. »Mußt doch nun bald an Brandschaden gewöhnt sein.«

Annemarie schüttelte den Kopf und wurde so rot wie ein kleines Schulmädel. Nun, wo die dumme Jumpergeschichte sowieso ein Ende hatte, sollte Rudi gewiß nicht erst etwas von ihren Erwerbsplänen erfahren. Dazu hatte sie zu schnell die Segel gestrichen.

Rudolf tat ihr auch den Gefallen, nicht weiter zu forschen. Wenigstens vorderhand nicht. Aber später, als sie ihm in der Sprechstunde bei einer Diathermie-Behandlung assistiert hatte, zog er sie, als der Patient zur Tür hinaus war, in die Arme: »Was sollte ich wohl ohne meine treue Assistentin anfangen!«

»Doch etwas, wozu ich gut bin, außer Kinder durchzuprügeln, Hosen zu flicken und angebrannten Milchreis zu kochen. Leider nur eine unbezahlte Tätigkeit.«

»Ja, Weible, willst besoldet werden? Schön, es soll mir gar nit drauf ankommen. Also was verlangst für deine heutige Tätigkeit?«

»Bloß einen lumpigen Kuß.« Annemarie schmiegte sich fester an ihren Mann.

»Annemie,« er hob ihr Gesicht zu sich empor, »warum hast denn heut' g'weint, Herzle?«

»Weil mir der Geduldsfaden mal wieder gerissen war, weil ich nichts kann und nichts verstehe!« sprudelte Annemarie ihr Leid heraus.

»Du kannst nix – du verstehst nix? Ja, ist denn das gar nix, wenn eine Frau Mann und Kinder froh und glücklich zu machen versteht und der Sonnenschein des Hauses ist?« Leise und sehr ernst klang es.

Eine ganze Weile schwieg Annemarie, den Kopf still an die Schulter ihres Mannes gelehnt. Wie wohl sie ihr taten, seine guten Worte. Wohl bis ins innerste Herz. Alle Zweifel an ihrem Können, alles Versagen an ihrem Wert lösten sie in inniger Glücksgemeinschaft.

Aber für allzu lange ausgedehnte Sentimentalitäten war Annemarie noch immer nicht. Schelmisch hob sie den Blondkopf.

»Auch wieder eine Tätigkeit, die nichts einbringt«, lachte sie.

»Herzle, was bist denn du heut' arg materiell? Das ist doch sonst nimmer deine Sach', alles in Geldwert umzuschmelzen. Bisher sind wir doch halt immer noch satt geworden, gelt? Und wenn ich meine wissenschaftliche Arbeit erst fertig hab' – du, Annemie, ich glaub', diesmal kommt sicher was bei raus. Wenn auch nit Moneten, aber ich denk' schon, daß ich die Wissenschaft einen wichtigen Schritt weiter damit bringe.«

Nein, Annemarie wollte nicht mehr kleinmütig sein. Hatte sie nicht einen Lebensgefährten, der trotz mancher finanziellen Sorge nie den Kopf hängen ließ, sondern neben seiner mühseligen, aufopferungsvollen Tätigkeit noch Zeit und Sinn dafür erübrigte, der Wissenschaft zu dienen? Sie wollte seiner wert sein.

Die verdorbene Wolle wurde in den Tiefen des Strumpfkorbes mit all den unnötigen Gedanken, die auf einen Nebenverdienst gerichtet waren, begraben.

Tagelang wenigstens. Dann streckten sie wieder fürwitzig den Kopf heraus, die quälenden Gedanken. Da waren sie wieder, wuchsen riesengroß empor und peinigten die arme Annemarie aufs neue. Zum erstenmal wagten sie sich hervor, als die Oberhemdenwäsche, die Kragen und Manschetten von der Plätterin geliefert wurden.

Allmächtige Schokolade – war das eine Rechnung! Früher hatte man dafür schon ein halbes Dutzend Hemden neu kaufen können. Wenn sie das nur wenigstens einbringen könnte. Aber Flora war zu unbegabt zum Glanzplätten, und sie selbst – ja, sollte sie sich wirklich wieder an etwas Neues heranwagen? Einmal hatte sie schon damit Schiffbruch gelitten, früher mal. Aber da hatte sie auch keine Anleitung gehabt.

In der »Praktischen Berlinerin« hatte neulich eine Anweisung zum Feinplätten gestanden. Annemarie kramte die betreffende Nummer heraus und studierte sie eifrig. Schien gar nicht so schwer – eigentlich eine höchst einfache Sache. Nein, solch geringes Zutrauen hatte sie denn doch nicht zu sich, daß sie es nicht noch mal versuchen sollte.

Gleich am nächsten Tage ging Annemarie mit ihrer raschen energischen Art ans Werk. Flochen hatte gerade gewaschen, und anstatt die Oberhemden und Kragen wie sonst zum Plätten fortzugeben, begann Annemarie sie selbst vorschriftsmäßig einzustärken. Die Kinder waren gut versorgt. Annemarie hatte ihnen ein kleines Puppenkrankenhaus eingerichtet. Das war das liebste Spiel der Doktorkinder. Sämtliche gesunde und kranke Puppen, der beinlose Hampelmann, alle invaliden Soldaten, die altersschwache Miesekatze wie der mit der Hinterpfote streuende Baubau, sie alle hatten dort Aufnahme gefunden. Hansi als Onkel Doktor ging mit unnachahmlicher Wichtigkeit von einem Patienten zum andern. Eine alte Thermometerhülse zum »Tätatur messen« wie ein Gewehr geschultert. Klein-Ursel war mittels einer weißen Schürze und einer Taschentuchmütze in eine Krankenschwester verwandelt. Ihre barmherzige Tätigkeit bestand darin, daß sie sämtliche Patienten durchprügelte, weil sie ihr Breichen nicht aufessen wollten. Die Kinder spielten so süß, daß Annemarie sich mit Gewalt davon losreißen mußte. Aber die Zeit, in der Flochen die Waschküche scheuerte und ihr nicht auf die Arbeit schielen konnte, war kostbar.

Zuerst ein Kragen. Von beiden Seiten trocken plätten, stand in der Anweisung. Höchst einfach. Wenigstens in der Theorie. In der Praxis weniger. Der gestärkte Kragen klebte, als sei er angeleimt, an dem Bügeleisen. Mit aller Gewalt mußte Annemarie ihn losreißen. Ritsch – der ohnehin schon etwas mürbe Stoff war solchen Kraftanstrengungen nicht mehr gewachsen. Ein Riß klaffte inmitten der weißen Herrlichkeit. Mit entsetzten Augen starrte Annemarie auf ihr Werk. Das fing ja gut an.

Aber sich gleich entmutigen lassen? Nein! Der zweite Kragen würde schon eher gelingen. Es fiel kein Meister vom Himmel. Ja, der zweite Kragen wurde. Das heißt, er wurde trocken. Sonst hatte er nicht die entfernteste Ähnlichkeit mit einem steifen Herrenkragen. Eher glich er einem weißen, sich ringelnden Spulwurm. Ob Rudi den trug? Annemarie machte ein skeptisches Gesicht. Sollte sie es nicht doch lieber an diesen beiden Meisterstücken genug sein lassen?

    »Hänschen, Hänschen, denk' daran,
    Was aus dir noch werden kann.«

Lächerlich, daß ihr der dumme Vers nicht aus dem Kopfe ging. Aber sie wollte es beweisen, daß sie mehr Ausdauer hatte. Nun gerade! Jetzt versuchte sie ihr Heil sogar an einem neuen Oberhemd.

Der Rücken ließ nichts zu wünschen übrig. Die Ärmel ein wenig gelblich, das Eisen war wohl zu heiß. Schadete nichts. Das deckte ja das Jackett. Nun kam das schwerste: das Chemisett.

»Muttißen – Muttißen – was passiert – was passiert – so'n Sreck dekrist!« Hansi kam schreiend hereingestürzt.

»Um Himmels willen, wo brennt's denn schon wieder?« Annemarie ließ ihre Plätterei im Stich und jagte ins Kinderzimmer. Gott sei Dank, Ursel war unversehrt.

»Es bennt dehaupt niß. Boß – boß die Horche von Vaterle is taputt detommt. Wie isse denn taputt bekommt?« erkundigte sich Hansi schon wieder mit sachlichem Interesse.

»Das fragst du mich, du ungezogener Bengel. Du weißt doch, daß du nicht an Vaters Sachen herangehen darfst.« Innerlich war Annemarie eigentlich ganz froh, daß es nur das Stetoskop war, das Schiffbruch gelitten.

»Na, wenn iß doch aber nu Ontel Dokter bin, denn muß iß doch auch eine Horche haben«, beschwerte sich der kleine Doktor.

»Ach was, du bist ein ungezogener Bengel!«

»Bennel – das tann seder sagen!« Jetzt wurde er noch obendrein frech, der Dreikäsehoch. Wo hatte er das nur wieder aufgeschnappt?

»Solch ein böses Kind habe ich überhaupt nicht mehr lieb.« Annemarie hatte Mühe, ernst zu bleiben.

Es zuckte weinerlich um die Mundwinkel des kleinen Pausbacks.

»Das tann auch seder sagen.« Mit aller Gewalt hielt er die Tränen zurück.

Unsagbar komisch klang diese weinerliche Frechdachsigkeit. Annemarie biß sich auf die Lippen und strich der kleinen Krankenschwester, die sich gerade bemühte, dem Miesekatzenpatienten ein Ohr abzureißen, bei ihrer Samaritertätigkeit über die Taschentuchhaube. »Klein-Ursel ist wenigstens artig. Die ärgert ihre Mutti nicht.«

»So atig«, beteuerte Klein-Ursel. Da war das Katzenohr ab.

Annemarie ging wieder an ihre unterbrochene Plätterei zurück. Nanu, was roch denn hier so sengerig? Mißtrauisch begann Annemarie zu schnüffeln.

Gerechter Strohsack – das heiße Eisen stand ja noch auf dem Oberhemd. Sie hatte es bei dem Alarmgeschrei ihres Sohnes stehen gelassen, wo es gerade stand. Annemarie wagte bei all ihrer sonstigen Keckheit kaum, es in die Höhe zu nehmen.

»Verflixt und zugeknöpft!« entfuhr es ihr. Eine braune Insel schwamm in dem weißen Chemisett – das neue Hemd war verdorben.

»Fer is deflixt, Muttißen?« erkundigte sich Hansi teilnehmend.

Annemarie antwortete nicht. Schmerzversunken starrte sie auf den braunen Sengfleck.

»Wenn jnädje Frau jleich 'n bißken Chlor nehmen tut, denn jeht's am Ende raus!« Erst Floras Stimme belebte die versteinerte Annemarie wieder. Mußte die auch noch ihr Kunstwerk beschielen. Und welche Schadenfreude aus den Worten klang, daß sie es diesmal nicht gewesen war, die sich eine Dummheit geleistet hatte, sondern die »Jnädje« selber.

Nichtsdestoweniger, das Wort Chlor blieb der Rettungsanker, an den sich alle schiffbrüchigen Gedanken Annemaries anklammerten. Ja, mit Chlor hatte sie schon öfters mal einen Obstfleck aus weißen Kinderschürzen getilgt. Freilich, vorsichtig mußte man dabei zu Werke gehn.

Annemarie hatte es in ihrer siebenjährigen Hausfrauenpraxis gelernt, daß man die fleckige Stelle nur mit einem in leichte Chlorlösung getauchten Läppchen vorsichtig betupft und dann sofort in kaltes Wasser legt. Nach dieser Vorschrift verfuhr sie mit aller Behutsamkeit.

Wirklich, der Sengfleck wurde heller – immer heller – um dann plötzlich wieder schwarz wie die Nacht entgegenzugähnen.

Ein Loch – ein veritables Loch!

Es war furchtbar – aber wahr. Ließ sich nichts dran ändern, so verzweifelt Annemarie auch das verdorbene Hemd nach allen Seiten drehte.

Sie war in einer entsetzlichen Stimmung. Floras wissenschaftliche Analyse: »Das is jewiß man bloß davon jekommen, weil dis Hemd schon von's Plätten dünne verbrennt jewesen is«, verbesserte dieselbe nicht. Und als sie noch hinzusetzte: »Nee, auch jrade dis neue! Was wird man bloß Herr Dokter dazu sagen!« explodierte Annemarie: »Das geht Sie gar nichts an, das ist meine Sache!« Gleich darauf schämte sie sich ihrer Heftigkeit, daß sie ihren Ärger an dem unschuldigen Mädchen ausließ.

Wie viele Kragen und Oberhemden hätte sie für das eine verdorbene Stück zum Plätten fortgeben können.

Als sie mittags mit den beiden Kleinen Vronli von der Schule abholte, fiel ihr Blick auf das Schild einer Plättanstalt: »Junge Mädchen können hier das Feinplätten erlernen.«

Halt – das war was. Sie mußte die Sache fachgemäß erlernen. Dann würde sich auch das verdorbene Hemd leicht einbringen lassen.

    »Hänschen, Hänschen, denk' daran –
    Was aus dir noch werden kann.«

Sie wollte etwas erreichen. Sie wollte sich nicht von einem Mißerfolg wieder sogleich ins Bockshorn jagen lassen. Nicht ein Wort hatte sie von Vronlis aufgeregter Erzählung, daß sie mit ihrer Freundin Trude »schuß bis in alle Ewigkeit« sei, vernommen.

»Kinder, geht mal voraus bis zum Schokoladengeschäft, aber nicht weiter. Dort dürft ihr euch das Schaufenster angucken. Ich komme gleich nach.« Unmöglich konnte sie sich als Mutter mit drei Kindern zum Plättenlernen melden. Wer weiß, ob man sie dann nahm.

»Taufste uns denn auch was, Muttißen?« erkundigte sich Hansi als vorsichtiger Mann, ehe er seinen Schwestern folgte.

Die Antwort blieb zweifelhaft.

»Das wird siß finden«, überlegte Hansi sinnend die Worte der Mutter. Er faßte als Schildwache vor dem Laden Posto, in dem seine Mutter soeben verschwunden war.

Drinnen teilte Annemarie mit, daß sie das Glanzplätten gern erlernen wollte.

»Kennen Se, Freilein. Achtstündige Arbeitszeit täglich, auf sechs Monate missen Se sich verpflichten.« Eine Frau, rotglühend wie ein Bolzen, ließ, während sie mit Annemarie verhandelte, das Bügeleisen kunstgerecht über ein Oberhemd gleiten. Neiderfüllt sah Annemarie, daß es nicht sengte, sondern tadellosen Glanz erzeugte.

»Acht Stunden jeden Tag – nein, das ist ganz unmöglich; kann ich denn nicht dreimal in der Woche zwei Stunden kommen?« Das war schon das höchste der Gefühle. Länger konnte sie sich auf keinen Fall freimachen.

»Ja, Freileins, die nischt tun wollen, die kennen mir nischt nitzen. Davor lerne ich Ihnen das Plätten nich. Wenn Se hier anjestellt werden wollen und 'ne firme Plätterin werden, denn missen Se sich eben mal 'n bißken weniger amisieren, Freilein.«

»Ich will doch nur für den Privatgebrauch feinplätten lernen und – – –«

»Ach so – Se sind wohl irjendwo in Stellung und kennen nich so fort? Na, vielleicht jeht's nachmittags, wenn Ihre Jnädje schläft, Freilein?«

Annemarie biß sich auf die Lippen, um nicht loszulachen. »Das ginge vielleicht. Und wie sind Ihre Bedingungen?«

»Ja, wenn Se nich richtig als Plätterin hier eintreten, denn missen Se berappen. Denn kann ich Se nich for umsonst nehmen, Freilein, davor verderben Se zuerst noch zu ville.« Annemarie dachte beschämt an ihr zerlöchertes Oberhemd zu Hause und fragte nach dem Preise. Hoffentlich war er für sie erschwingbar.

»Jotte doch, so'n junges Mächen in Stellung hat ja auch nich zu ville iebrig. Na, denn jeden Se mich man fumzig Mark 'n Monat und kommen Se, so oft Se fortkennen, Freilein«, sagte die Frau menschenfreundlich.

Wie gut, daß sie sich nicht als Frau Doktor eingeführt hatte, da wäre es sicher teurer geworden.

»Muttißen, tommste denn niß bald? Iß sa sreckliß!« räsonierte ein Kinderstimmchen durch die geöffnete Ladentür.

Annemarie verleugnete zum erstenmal ihren Sohn. Sie tat, als ob er nicht zu ihr gehöre.

»Also, dann komme ich morgen – – –.«

»Nee, dleich solßte tommen, Muttißen. Wir wollen Szotolade taufen – – –.« Hansis Stimme trompetete geradezu.

Ach, du Grundgütiger, – nun würde sicher der Preis erhöht, wenn sie ihren Kindern Schokolade kaufen konnte. Und sie hatte doch, weiß Gott, weder die Absicht noch das Geld dazu.

»Ach so, Se sind selbst de Jnädje? Na, warum sagen Se das denn nich jleich?« brummte die Frau ärgerlich. »So 'ne vornehme Damens nehm' ich ieberhaupt nich in de Lehre. Die kennen ihre Wäsche herschicken zum Plätten und brauchen einem nich das Brot fortzunehmen. Andere Leite wollen ooch leben.«

Also wieder nichts. Annemarie war ganz geknickt. Aber sie gab sich noch einen Ruck.

»Ja, liebe Frau, glauben Sie, daß es für eine Mutter von drei Kindern, die den ganzen Tag im Haushalt beschäftigt ist, eine große Annehmlichkeit ist, sich auch noch ein paar Stunden ans Plättbrett zu stellen? Das tut nur eine, die es in dieser schweren Zeit wirklich nötig hat.« Es mußte wohl etwas in Annemaries Stimme liegen, was die Frau von der Richtigkeit überzeugte. Oder war es der blonde Liebreiz der jungen Frau? Sie sah sie wieder freundlicher an.

»Na, denn kennen wa's ja mal mitenander versuchen«, lenkte sie ein. »Wie is denn der Name?«

»Hartenstein – Frau Doktor Hartenstein – – –.«

»Jotte doch – de Frau Doktern sind Se? Na, warum sagen Se dis denn nich jleich, jnädje Frau?« Die Frau zeigte plötzlich eine lebhafte Freude. Sie ließ ihr Plätteisen im Stich und reichte der erstaunten Annemarie die schwielige Hand. »Ihnen lern' ich das Feinplätten janz for umsonst, jnädje Frau. Soll mir eine Ehre sein. Was der Herr Doktor Hartenstein is, der hat mir mein Paulchen, vor den keener mehr'n Sechser jeden wollte, wieder janz jesund jemacht! Und war ihm keene Stunde nich zu frieh und keene nich zu spät. Nee – nee, kommen Se man, so oft Se wollen.«

Annemarie dankte der Frau herzlich und verließ glückstrahlend den Plättladen. Es war fraglich, welches Gesicht mehr strahlte, das von Mutter oder von Sohn. Denn Hansi, der den Sinn der mütterlichen Worte: »Wird sich finden« im kindlichen Optimismus zu seinen Gunsten ausgelegt hatte, wurde nicht enttäuscht. Annemarie war in ihrer Freude so leichtsinnig, den jubelnden Kindern eine Tafel Schokolade zu kaufen. Nun erging es ihr nicht mehr wie dem Hänschen in dem Lied. Nun würde sie sicher etwas erreichen.



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