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9. Kapitel

Wie man zu Rothenburg das Pfingstfest feiert

Magda hatte jenes fröhliche Zusammensein mit den Freundinnen gut getan. Alle Unlust und Gleichgültigkeit, die ihrer frischen Wesensart eigentlich ganz fremd war, schien von ihr abgefallen. Sie ging der Tante emsig im Hause zur Hand und söhnte die Gute dadurch wieder aus. Um so mehr als der übermütige Jugendstreich nicht bis zu des Ratsherrn Ohren drang.

Auch dem Vater versuchte Magda wieder näherzukommen. Sie wählte dazu den Weg über seine Weinberge, die ihm ganz besonders am Herzen lagen. Sie half ihm beim Biegen und Binden der jungen Ruten, und das emsige Schaffen im hellen Sonnenlicht machte ihr das Auge klar und das Herz froh. Wenn der Ratsherr beim Ausschneiden der überschüssigen Triebe seine junge Tochter, selbst schlank und biegsam wie eine Rebranke, so eifrig am Werke sah, frohlockte er innerlich. Ja, er verstand es, schädliche Triebe mit scharfem Schnitt zu entfernen – auch bei seinem Kinde hatte er es bewiesen. Tat es auch im Augenblick weh, mit um so edleren Früchten ward die Mühe des Gärtners belohnt.

Auch den kleinen Geschwistern widmete sich Magda jetzt mehr als zuvor. Bei Werner tat das dringend nötig. Der Junge war faul in der Klasse und hatte seit der Messe den Kopf voll mit Zirkusideen. Er wollte Kunstreiter werden, dazu brauchte man keine Schulweisheit. Höchst lästig war es ihm, daß Magda sich jetzt um jeden »Quark« kümmerte. Überhaupt, was verstand denn solch Mädel vom Ablativ und lateinischer Konjugation!

Auch Klein-Trautchen versuchte Magda in die Anfangsgründe der Abcweisheit einzuführen. Spielend lernte das kleine Ding bei ihr schreiben und lesen. Es gab sich grenzenlose Mühe, die schwierigen Buchstaben und noch schwierigeren Zahlen so schön als möglich auf die Schiefertafel zu malen, daß Magda sich darüber freuen konnte. Rührend war das kleine Mädchen in seiner Glückseligkeit, daß sich die große Schwester jetzt wieder so viel mit ihm beschäftigte.

Nur für ihre eigenen Bücher und für ihren früher so bevorzugten Schreibtisch fand Magda auch jetzt gar keine freie Minute mehr, die mied sie geflissentlich. Was sollte sie auch bei ihnen? Es war ja ganz unfruchtbar. Unnütz vergeudete Zeit. Führte ja doch zu keinem Ziel. Sie mußte sich eben damit abfinden, als braves gehorsames Töchterchen den ausgetretenen Weg häuslicher Pflichterfüllung, wie alle Frauen des Topplerschen Hauses, zu gehen.

»Warum in die Ferne schweifen; sieh, das Gute liegt so nah« – trotz allen Scherzens und Lachens war der Besuch bei der Pythia der Rothenburger Messe nachwirkend auf das junge Mädchen. War dieser Spruch nicht grade wie ein Wegweiser in die Zukunft für sie?

So nahte Pfingsten.

Der Pfingstmontag war von jeher der wichtigste Tag für Rothenburg. Da fand alljährlich der berühmte historische Festzug statt, der Tausende von Fremden in das abgelegene Städtchen lockte.

Zur Erinnerung an die Befreiung Rothenburgs von den plündernden Scharen und der rohen Grausamkeit des Feldherrn Tilly im dreißigjährigen Kriege ward mit großem Pomp und Prunk der mittelalterliche Festzug veranstaltet. An denselben schloß sich das große Festspiel im Rathaus – der sogenannte »Meistertrunk« –, das die Rettung des Rothenburger Rates, den Tilly ohne Gnade köpfen lassen wollte, besang.

Wochenlang vorher machte sich schon eine fieberhafte Tätigkeit in ganz Rothenburg bemerkbar. Da wurden all die historischen Trachten einer gründlichen Musterung unterworfen, passende Darsteller für die Gestalten aus dem dreißigjährigen Kriege gesucht und die Rollen des Festspiels verteilt und einstudiert.

Wohl kaum ein Bürgerhaus gab es im Städtchen, das nicht an dem Festzuge beteiligt war. Hier verwandelte sich der würdige Hausvater in einen rauhen Landsknecht, dort gar die Mutter in eine Marketenderin. Waren die Alten schon mit ganzem Herzen dabei, wie erst die Jungen. Die hatten in den Pfingstwochen überhaupt keinen andern Gedanken mehr als Eisenreiter, Troß und Reisige. Unter der weiblichen Jugend aber bestand eine heimliche Eifersucht, ob auch keine andere ein schöneres Kostüm bekam als sie selbst.

Die Hauptgruppe des Zuges, der Festwagen mit der allegorischen Gestalt der Rothenburgia, der damaligen Bürgermeisterin, und Magdalena Hirsching, dem liebreizenden Töchterlein des Kellermeisters, erregte die weiblichen Gemüter besonders heftig. Wer mochten wohl diesmal die Glücklichen sein, die dazu auserkoren wurden?

Gewöhnlich suchte man sich die Vertreterinnen jener bevorzugten Rollen unter den Töchtern der Stadtväter. Aber es war auch schon vorgekommen, daß ein besonders hübsches Mädel aus der ehrsamen Handwerksgilde dieser Ehre teilhaftig geworden. Soviel wurde niemals in Rothenburg in den Spiegel geguckt wie vor Pfingsten.

Zum erstenmal ward auch das alte Patrizierhaus in der Herrengasse von dem allgemeinen Festfieber ergriffen. Zwar hatte der Ratsherr Toppler als besonders guter Kenner der mittelalterlichen Zeit und als Besitzer so manchen wertvoll antiken Stückes und Dokumentes immer schon zum Festausschuß gehört. In diesem Jahr aber war seine jetzt erwachsene Tochter Magda aufgefordert worden, die Rolle ihrer Ahne Magdalena Hirsching beim Festzug und Festspiel zu übernehmen.

Eigentlich war dem Ratsherrn solch ein Zurschaustellen seiner jungen, schönen Tochter vor all den tausend fremden Augen gar nicht recht und verstieß auch gegen seine Erziehungsgrundsätze von weiblicher Zurückhaltung. Wiederum aber konnte man die Ehre nicht ablehnen. Um so weniger als es sich um die Darstellung einer Ahnfrau des Hauses Toppler handelte und der Festausschuß glücklich war, in dem Abkömmling eine der holden Magdalena Hirsching Zug um Zug gleichende Vertreterin gefunden zu haben.

So ward dem Ratstöchterlein die Beteiligung gestattet. Zwar, wie der Vater sagte, nur aus Pietät gegen die Urahne; aber dies beeinträchtigte durchaus nicht Magdas Freude. Daß sie grade Magdalena Hirsching spielen sollte, deren Namen sie trug und der sie äußerlich und, wie Tante Brigitte meinte, leider auch innerlich so ähnlich war, erfüllte das junge Herz mit Glücksgefühl. Hatte sie doch stets grade für die kühne Heldentat der Magdalena Hirsching, die unerschrocken es gewagt, den gefürchteten Eroberer Tilly um Begnadigung der zu Tode verurteilten Ratsherren anzuflehen, glühende Begeisterung empfunden.

Weniger begeistert war Tante Brigitte davon, daß Magda die Urahne spielen sollte. Das lief nicht gut ab. Machte das welsche Blut, das in den Adern der Magdalena Hirsching geflossen, sich bei der jungen Magda nicht grade schon genug bemerkbar? Hatte es kürzlich nicht genügend Kämpfe gekostet, um dieses aufbegehrende, aus den stillweiblichen Bahnen herausdrängende Blut zur Ruhe zurückzuzwingen? Und nun war man glücklich so weit, Magda schien sich in den Willen des Vaters gefügt zu haben und an weiblicher Tätigkeit Gefallen zu finden, da kam diese Festaufführung und warf vielleicht alles wieder über den Haufen. Na, sie wusch ihre Hände in Unschuld, wenn es wieder zu einer Katastrophe kam.

Ungeachtet dieser Bedenken beteiligte sich das Tantchen aber eifrig bei der Kostümfrage. Natürlich durfte das reiche Patriziertöchterlein nicht in einer der bereits getragenen Trachten, welche der Festausschuß den Teilnehmern zur Verfügung stellte, einhergehen.

Mattblauer, feinster Kaschmir wurde eingekauft. Fräulein Nachtigall, die wieder mal nicht Hände genug hatte, allen Anforderungen der gesamten Weiblichkeit Rothenburgs zu entsprechen, bezog mit Fußkissen, Scheren- und Brillenfutteral das schmale, in das Hofgärtchen hinausgehende Hinterzimmer.

Nach Magdas Angaben hatte Änne das Kostüm der Magdalena Hirsching entworfen. Ein schlichtes weißes Kleid mit seitlich gerafftem Rock und vielfach gepufften Ärmeln. Die glatte Spenzertaille umschloß die zarten jungen Formen aufs vorteilhafteste. Eine kostbare alte Spange von feinster durchbrochener Goldarbeit hielt die gerafften Falten des Rockes zusammen. Dazu das aus Silbernetzmaschen geknüpfte Häubchen.

Das Kostüm hatte Magda gar kein Kopfzerbrechen gemacht, zu oft hatte sie sich Magdalena Hirsching in Gedanken vorgestellt. Wohl aber grübelte sie darüber nach, wie sie dieselbe innerlich gestalten sollte. In einer der aus jener Zeit stammenden Niederschriften, die der Vater als seinen kostbarsten Schatz bewahrte, hieß es von ihr: »War ein gar sittsam, tugendhaft Mägdelein, die Jungfrau Magdalena Hirsching, ward von dem Patriziersohn Heinrich Toppler anno 1632 zum Ehegesponst gefordert und wurde sein gehorsames Ehgemahl.«

Ein tugendhaft, sittsam Mägdelein, das sich zum Ehegesponst »fordern« ließ und ein »gehorsames« Ehgemahl wurde, so hatte sich das Ratstöchterlein eigentlich die Magdalena Hirsching mit den schwarzen Feueraugen ganz und gar nicht vorgestellt. Wo blieb da das welsche feurige Blut, das sie von ihrer Mutter, einer Italienerin, geerbt haben sollte, und von dem Tante Brigitte stets so ängstlich sprach?

Vergeblich suchte Magda aus der Tante Näheres über die Urahne herauszubringen. Das Tantchen, sonst so gesprächig, wenn es galt, aus den Tiefen der Familiengeschichte zu schöpfen, war in diesem Punkt ein Buch mit sieben Siegeln. Nun machte sich das Ratstöchterlein an Barbara, die alte Dienerin, die in der Geschichte der Toppler nicht weniger gut bewandert war. Aber mit nicht viel größerem Erfolg.

»Bärbchen, war die Magdalena Hirsching, die ich Pfingsten darstellen soll, eigentlich sanft in ihrem Wesen?«

»Ja, ja, Kind, lesen und auch schreiben soll sie gekonnt haben, trotzdem das damals eigentlich gar nicht Mode war, hat mir deine Großmutter selig erzählt,« berichtete Barbara beim Spargeleinkochen.

»Ich meine, ob sie sanft war?«

»Ei ja, in Samt und Seide wird sie wohl einhergegangen sein später, als sie erst die reiche Topplerin war.«

Da gab Magda das Examen mit der schwerhörigen Alten seufzend auf.

Ob sie mal in der Bodenkammer unter den alten Truhen, Kisten und aufgestapeltem Trödel ihr Heil versuchte? Vielleicht fand sie da irgend etwas, das Aufschluß gab über den Charakter der Urahne. Denn sanft und gehorsam, nein, so vermochte Magda nicht die Magdalena Hirsching zu spielen, das lag ihrer eigenen Wesensart zu wenig.

So begann jetzt in der Rumpelkammer des alten Patrizierhauses ein eifriges Stöbern und daneben ein ebenso eifriges Deklamieren der Rolle.

»Herre, ich umfass' die Knie
Euch mit heißem Flehn,
Jenes Wort zurückezieh –
Lasse Gnad' ergehn!«

Diese Zeilen konnte sie allenfalls noch sanft und demütig sprechen. Aber dann, als der verhärtete Sinn Tillys sich so gar nicht erweichen läßt und sie ihm in höchster Erregung zuruft:

»Nun, so laßt die Henker kommen,
Köpft den edlen Rat,
Bringt Euch wenig Nutz und Frommen
Solche Heldentat.«

Da muß die sich steigernde Empörung, mit Verachtung gepaart, doch unbedingt schon durchbrechen. Und dann weiter:

»Die Geschichte wird es melden
Euch zum Ruhm fürwahr,
Wie heut' von dem großen Helden
Wehrlosen geschah.«

Das Ratstöchterlein sieht sie förmlich vor sich, die Magdalena Hirsching, wie sie mit flammenden Augen dem Grausamen jene Worte entgegenschleudert. Nein, da ist es nicht mehr die sanfte, demütiglich bittende Jungfrau, hier muß das welsche Blut endlich zum Ausbruch kommen.

Und Magda stöberte eifrig weiter nach irgendeinem Anhalt, nach dem kleinsten Blättlein, dem abgegriffensten Fetzen Papier, der Aufschluß geben könnte über jene Schreckenstage. Wohl hatte sie schon manches ans Licht gefördert, an dem der Vater seine helle Freude haben wird. Aufzeichnungen, aller Wahrscheinlichkeit nach aus dem 14. Jahrhundert stammend, über den Bürgermeister Heinz Toppler, den Begründer ihres Geschlechts und gleichzeitig der höchsten Blütezeit Rothenburgs.

Hier, wie er später von Ruprecht von der Pfalz ins Gefängnis geworfen und dort den Hungertod erlitt. Und auch aus den späteren Jahrhunderten fand sich unter all dem verstaubten Kram, den dickleibigen Folianten manch interessanter Beitrag zur Familiengeschichte der Toppler.

Halt – ein Gedanke durchzuckt das Ratstöchterlein. Sie wird dem Vater gar nichts von ihrem Fund verraten. Hatte er nicht neulich sein Bedauern darüber ausgesprochen, daß die Toppler keine Familienchronik besäßen? Vielleicht daß es ihr gelingt, aus dem heute aufgefundenen und dem bereits vorhandenen Material ihre Familiengeschichte durch die Jahrhunderte hindurch zusammenzustellen. Im Herbst feierte der Vater seinen fünfzigsten Geburtstag. Eine größere Freude konnte sie ihm dazu nicht machen. Das würde auch die letzte noch übriggebliebene Entfremdung von ihrem eigenen Geburtstag her tilgen.

Und sie selbst hätte dadurch wieder eine Aufgabe, die sie befriedigte, wenn sie ihre Bücher doch nun mal beiseite legen mußte.

Das Ratstöchterlein sammelte sorglich die zutage geförderten Dokumente und schloß sie in ein Fach ihres alten Schreibtisches. Da mochten sie vorläufig ruhen, bis das Festspiel, das ihr Interesse und ihre Zeit jetzt in Anspruch nahm, vorüber war.


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