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22. Kapitel

Es wird Licht

Es war zwei Tage später. In dem Wartesaal des abgelegenen kleinen Bahnhofs zu Ansbach saßen nur wenige Reisende. Einige Feldgraue, ein blasser Herr mit dunkler Brille, dem man den Gelehrten schon aus der Entfernung ansah, und daneben eine bildschöne, goldhaarige Krankenschwester. Neugierig musterte Resi, die rotbackige Kellnerin, die Herrschaften. Wie still und ernst die waren. Da gefielen ihr die munteren Feldgrauen auf der anderen Seite, die stets ein Scherzwort bei der Hand hatten, ungleich besser.

Aber als jetzt der Schnellzug nach Würzburg signalisiert wurde, und die Schwester den Herrn behutsam durch die vielen Tische hindurchführte, hätte die gutherzige Resi beinahe losgeflennt. Jessesmaria – solch ein schöner junger Herr und blind! Und gar so ein liebes Gesicht hatte er – die lustigsten Scherze der Feldgrauen wollten nicht mehr bei der Resi verfangen.

Inzwischen fuhren Dr. Erwin Lindner und seine Pflegerin Würzburg zu. Schwester Magda vermochte heute ihrer Pflicht nicht nachzukommen, ihren Patienten durch munteres Geplauder von der bevorstehenden Operation abzulenken und aufzuheitern. Die Gedanken wollten ihr nicht gehorchen. Immer nur das eine konnte sie bei der gleichmäßigen Musik der Räder denken: Du, mein Gott und Vater da droben, steh' ihm bei – hilf!«

In Würzburg erwartete die Mutter den Sohn. In dem glattgescheitelten Haar Frau Lindners, von der gleichen hellbraunen Farbe wie das des Sohnes, flimmerte eine weiße Strähne. Die schweren Monate, in denen die Mutter zagenden Herzens der Heilung entgegen hoffte, hatten ihre Spuren hinterlassen.

»So, Mutterchen, da wären wir wieder daheim. Und was nun auch die nächsten Tage bringen werden, wir tragen es gemeinsam,« sagte Erwin Lindner liebevoll und streichelte beruhigend die Wangen der Mutter.

Die aber reichte ihre Hand mit warmem Gruß der sich bescheiden zurückhaltenden Magda. Längst wußte sie es, daß diese für den Sohn litt und bangte wie sie selbst.

Seitdem Magda erwachsen war, hatte sie es sehnlichst gewünscht, mal aus den engen Mauern Rothenburgs herauszukommen. Wie oft hatte sie den Vater gebeten, sie in Gesellschaft der Freundinnen nach dem unweit gelegenen Würzburg herüberfahren zu lassen. Aber mit den strengen Erziehungsgrundsätzen des Ratsherrn war eine solche selbständige Reise junger Mädchen nicht in Einklang zu bringen. Dann kam der Krieg – Magda hatte andere Pflichten, andere Wünsche.

Und nun fuhr sie endlich heute durch die Straßen der reizenden Universitätsstadt. Vorbei an dem Prachtbau der Residenz und hatte doch keinen einzigen Blick für seine Schönheit. Der Professor der Augenheilkunde hatte gewünscht, daß der Patient sofort in seine Klinik käme. Und als Magda sich nun dort mit festem Händedruck von dem Freund trennte, außerstande, auch nur das armseligste kleinste Wörtchen herauszubringen, da kam sie sich vor, wie der Henkersknecht, der den Delinquenten zum Schafott führt.

Ohne Frau Lindner, die sie wie eine Tochter bei sich aufnahm, würde Magda nicht gewußt haben, wie sie die nächsten Tage hätte ertragen sollen. Keiner durfte zu dem Patienten, die Stunde der Operation war den Angehörigen unbekannt. Mit welcher Seelenstärke trug die zarte Frau Lindner dieses furchtbare Hangen und Bangen. Wie wußte sie ihren jungen Gast abzulenken, frohe Gedanken in ihm zu wecken. Immer wieder brachte sie das Gespräch auf den Brief des totgeglaubten Bruders. Sie vermochte sich trotz ihrer großen Muttersorgen mit dem jungen Mädchen innig über das Lebenszeichen zu freuen. Sie regte Magda an, dem Bruder ins Gefangenenlager zu schreiben, und dabei vergaß das erregte Mädchen den Druck, der ihr das Herz abpreßte. Aber als Frau Lindner ihr den Vorschlag machte, Bruder Werner aus seiner Pension abzuholen und sich von ihm Würzburg zeigen zu lassen, war sie dazu doch nicht fähig.

Wohl ging Magda fort, aber zu der Augenklinik trugen sie ihre Füße ganz mechanisch. Vielleicht, daß irgend jemand herauskam, den sie nach dem Stand der Dinge befragen konnte.

Ein feiner Sprühregen ging hernieder. Das schöne Herbstwetter war vorüber. Magda merkte es nicht. Ohne Schirm ging sie auf der andern Straßenseite hin und her, die Augen angstvoll zu den teilweise verhangenen Fenstern gerichtet. Hinter welchem mochte er sich befinden? War der Würfel schon gefallen – zeigte er auf Licht oder ewiges Dunkel?

Kein Mensch ließ sich blicken. Magda wagte es nicht hineinzugehen. Sie wußte, daß man ihr in ihrer Schwesterntracht unbedingt Auskunft erteilt hätte. Aber sie, der Abkömmling des mutigen Topplergeschlechtes war so feige, da es sich um Sein oder Nichtsein des ihr teuren Mannes handelte, daß sie diese Frage von Minute zu Minute verschob. Da trat eine Schwester aus dem Portal. Sie überschritt den Damm und kam grade auf Magda zu. Die riß sich mit aller Gewalt zusammen.

»Verzeihung« – sagte sie mit vor Aufregung heiserer Stimme – »können Sie mir wohl darüber Auskunft geben, ob die Operation bei Herrn Dr. Lindner schon vollzogen ist?«

Die Angeredete blickte auf die Kollegin, der die Seelenangst so deutlich aus den dunklen Augen schaute. »Ja, bereits vorgestern, ich selbst war zugegen,« sagte sie freundlich.

»Und ist es gut gegangen? Wird – wird er sehen?« Sie packte die Hand der ihr gänzlich Fremden.

»Das steht bei Gott – aber wir hoffen es!« beruhigend klang die dunkle Altstimme. »Morgen soll die Binde gelöst werden, da wird es sich entscheiden. Seien Sie zu der gleichen Zeit morgen wieder hier, Schwester, dann kann ich Ihnen Auskunft geben.«

Kaum vermochte Magda der Menschenfreundlichen zu danken. Nochmals vierundzwanzig Stunden! Sie krochen förmlich dahin, ja manchmal war es der erregten Magda, als ob der Zeiger an dem gemütlichen Regulator in Frau Lindners Wohnzimmer rückwärts ginge. Sie hatte der Mutter nichts von ihrer Erkundigung gesagt, um deren Seelenpein nicht noch zu vergrößern.

Am nächsten Tage, lange vor festgesetzter Frist, schritt wieder die goldblonde Schwester mit den verängstigten großen schwarzen Augen vor der Augenklinik auf und nieder. Der Pförtner kannte sie jetzt schon. Er kannte diesen unruhigen Schritt der beinahe täglich hier auf Licht oder Finsternis harrenden Angehörigen der Patienten.

Diese letzte halbe Stunde schien Magda länger zu währen, als all die vorangegangenen zusammen.

»Hilf – lieber Gott – hilf!« krampfhaft preßte sie die Hände zusammen.

Da trat der Pförtner an sie heran.

»Die Oberschwester läßt Sie bitten hereinzukommen,« er schritt ihr voran.

Treppen ging es hinauf, durch lange Korridore. Magda kannte seit Jahren die Lazarettluft, und doch legte sich ihr dieser warme, mit Lysol und Äther durchsetzte Krankheitshauch, den alle Räume ausströmten, wie einem Neuling beklemmend auf die Brust.

An einer Tür blieb der Pförtner stehen und klopfte. Lauter klopfte Magdas Herz. Die Tür öffnete sich. Die Oberschwester, die sie gestern angesprochen, zog sie freundlich herein.

In einem Sessel am verdunkelten Fenster erkannte die auf den Zehenspitzen Nähertretende den Freund. Eine breite, schwarze Binde deckte seine Augen.

Der Patient wurde unruhig. Er schien ihre Gegenwart zu fühlen.

»Ist jemand da?« fragte er.

Die Oberschwester legte die Finger auf die Lippen und stellte den Besuch ins helle Licht. Dann begann sie an der Binde zu knüpfen.

Magda wagte nicht zu atmen. Jetzt – jetzt würde es sich entscheiden!

Da fiel die Binde – – – von den Lippen des Patienten ein gepreßter Jubellaut: »Ich sehe – dich!« und schon hatte die Schwester das schützende Dunkel wieder vor die des Lichts noch nicht gewohnten Augen des Doktors gezogen.

Magda war, wo sie stand, auf die Knie gesunken. Lautlos rannen Tränen höchsten Glückes ihr die erblaßten Wangen entlang. Ein stummes Dankgebet stieg aus ihrer Brust zum Himmel empor.

Sie griff nach der sich ihr entgegenstreckenden Hand des Geheilten – sie drückte im Überschwang ihrer Gefühle die Lippen darauf.

Ei, Ratstöchterlein von Rothenburg, was würden die strengblickenden, ehrwürdigen Ahnenbilder daheim zu solch einem Tun sagen!

Dann war die Überselige wieder draußen, denn noch mußte der Patient aufs strengste geschont werden.

Wie sie in die Lindnersche Wohnung gekommen, wie die Treppen hinauf, das wußte Magda nicht. Erst am Hals seiner Mutter fand sie sich wieder, die sie unter Tränen küßte: »Er sieht – er hat mich gesehen!« – – – – – – – –

*

Acht Wochen sind seit jenem Tage vergangen. Das alte Patrizierhaus zu Rothenburg schmückt sich. Grüne Tannengewinde umkränzen das geschnitzte Eingangsportal, durch das einst Könige geschritten.

Eine junge Königin schreitet auch heute über die Schwelle zum Vaterhaus hinaus, das bräutliche Myrtendiadem in dem Goldhaar.

Wie die Fenster der verschnörkelten Giebelhäuser heute im Sonnenlicht blitzen. Im schlohweißen Neuschneekleid stehen sie gleich Brautjungfern längs der Herrengasse. Aus allen Türen und Toren winken lächelnde Kobolde der Renaissance und Gotik, die guten Freunde der beiden, dem vorüberfahrenden Brautpaar zu. Der heilige Georg auf dem Herterichsbrunnen reckt sich den Hals aus, um das junge Paar zu sehen. Und vor der Jakobskirche drängt sich die schaulustige Menge: »Sie kommen – sie kommen!« Die Brautkutsche mit den weißen Seidenpolstern hält. Ein blumenstreuender kleiner Blondkopf – dahinter das Brautpaar. Heute ist es Erwin Lindner, der sein junges Weib führt. Still verklärt schreiten sie über Blumen dem brausenden Orgelton entgegen.

Inzwischen sind all die kleinen Geister der Vergangenheit in dem alten Patrizierhause wie losgelassen. Von den Uhrgewichten der alten Standuhr springen sie, aus den großen Truhen schlüpfen sie heraus, aus der alten Glasservante mit den Blümchentassen. Über des Tantchens gehütete Empiremöbel in der blauen Stube geht die wilde Jagd. Husch – husch – die gewundene Treppe hinauf zu Magdas Mädchenreich.

Wie toll gebärden sie sich hier. Den Löwenkopf an dem wuchtigen alten Schreibtisch, über den sich das goldblonde Ratstöchterlein so oft in emsiger Arbeit gebeugt, zupfen sie an seiner holzgeschnitzten Mähne. Das Geheimfach öffnen sie sogar, aber der Kamm und der Gürtel der Urahne Magdalena sind daraus verschwunden. Die trägt die junge Braut heute an ihrem Ehrentage. Das Nähtischchen, das sich nie besonders Magdas Gunst erfreut, kriegt einen Nasenstüber von der ausgelassenen Gesellschaft. Schnell noch mal durch die bunten Butzenscheiben in das verträumte Hofgärtchen hinuntergeschaut und dem kleinen dreieckigen Balkon, der wie ein Schwalbennest hoch oben an der Stadtmauer klebt, einen Besuch abgestattet.

Und »hast du dir auch jedes gemerkt, weißt du auch alles wohl, was ihr hier bei uns lieb gewesen?« wispert und pispert es einem kleinen Gesellen zu, der nicht ganz so verhutzelt ausschaut wie die andern. Es ist der Geist der Erinnerung, der dazu auserkoren ist, das Kind des alten Topplerhauses in die neue Heimat zu begleiten.

Husch – husch – die Treppe wieder hinab. Hei, dort unten in dem ernsten Arbeitszimmer des Ratsherrn geht's ja lustig zu. Über die alten vergilbten Blätter und Pergamente wirbelt der tolle Reigen. Und der kleine Geist, der in der Topplerschen Familienchronik wohnt, welche die Magda eigenhändig niedergeschrieben, führt ihn an. Er ist der stolzeste von all den Wichten, denn durch ihn allein hat ja das Ratstöchterlein, das aus den engen alten Mauern hinausstrebte zu modernem Studium, ihr Glück trotzalledem im Alten gefunden. Beinahe kommt es deshalb zu einem Streit zwischen ihm und dem kleinen klatschsüchtigen Geist, der in Tante Brigittes eingemauertem Fensterspiegel haust. Der will ihm sein Vorrecht streitig machen und behauptet wie seine Herrin, das Tantchen: »Ich hab's gewußt – ich hab's geahnt, von Anfang an.«

Horch – Räderrollen.

Husch – husch – ist der Spuk der Vergangenheit zerflattert, das kleine Gesindel wieder ehrbar in seinen dunklen Nischen und Winkeln. Der winzige Geist der Erinnerung hat grade noch Zeit, in die neue Reisetasche zu flüchten, die bereits gepackt auf der Diele steht.

Da fahren die Wagen vor, und von der Wand herab schauen all die Ahnenbilder lächelnd auf das Glück des Ratstöchterleins von Rothenburg.

 

Finis

 


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