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Ein unergründlicher Schlund, fünfundzwanzig Meilen lang und zwanzig breit, hat sich dereinst, lange vor den historischen Zeiten, durch einen Höhleneinsturz mitten unter den Lavamassen der Insel gebildet. Aus dem Schlund ist dann ein See von unergründlicher Tiefe geworden, der zwölfhundertundfünfzig Fuß über dem Meeresspiegel liegt und ringsum von Höhenzügen eingeschlossen wird. Die ganze Gegend gleicht einem riesigen Kessel, der über unterirdischen Feuern hängt. Der Tongariro und Taranaki sind die bedeutendsten unter den Kratern, über welche sich im Munde der Bevölkerung mancherlei Legenden erhalten haben. Paganel kannte wohl einzelne derselben, aber er befand sich nicht in der Stimmung, sie zu erzählen, seine Freunde nicht in der, sie zu hören. Schweigend betrachteten sie das nordöstliche Ufer des Taupo-Sees, wohin das trügerische Verhängniß sie führen sollte. Die durch den Missionär Grace in Pukawa errichtete Missionsstation auf dem östlichen Ufer des Sees existirte nicht mehr. Der Krieg hatte den Diener Gottes von dem Hauptheerde des Aufstandes verscheucht. Die Gefangenen waren allein der Gnade der rachsüchtigen Maoris überlassen, gerade auf dem wildesten Theile der Insel, wo das Christenthum niemals Eingang gefunden hat.
Kai-Koumou durchschnitt den Waikato-See, dann eine enge Bucht, welche die Gestalt eines Trichters hatte, und landete, nach Umsegelung eines spitzen Vorgebirges, an dem östlichen Ufer des Sees, am Fuße des Berges Manga, der etwa achtzehnhundert Fuß hoch ist. Dort dehnen sich die Felder aus, auf denen der kostbare Hanf Neu-Seelands, das »Phormium« wächst. Die Eingeborenen nennen ihn »Harakeké. Jede Faser dieser nützlichen Pflanze ist zu verwerthen.
Ihre Blume liefert einen ausgezeichneten Honig, ihr Stengel giebt eine gummiartige Substanz, welche das Wachs oder Stärkemehl ersetzt; noch werthvoller durch seine verschiedenartige Verwendbarkeit ist das Blatt; frisch wird es als Papier benutzt; getrocknet giebt es einen trefflichen Feuerzunder; aus seinen Fasern werden Seile und Taue gedreht oder Netze gefertigt; auch zu Decken und Mänteln, Matten und Schurzfellen wird es verarbeitet. Als Bekleidung für die angesehensten Maoris wird es roth oder schwarz gefärbt.
Dieses kostbare Phormium befindet sich überall auf den beiden Inseln, sowohl an den Ufern des Meeres, als an denen der Flüsse und Seen. Hier bedeckten seine wilden Sträucher weite Ländereien; seine rothbraunen, der Agave ähnlichen Blumen drängten sich überall zwischen den Blättern hervor, welche, trophäenartig zusammengesetzt, wie schneidige Schwerter aussahen. Kleine zierliche Vögel, die Honigsauger, gewöhnt an die Phormiumfelder, flogen in zahlreichen Schaaren über dieselben dahin und genossen den süßen Saft der Blumen.
Auf dem See schnatterten Enten mit schwarzem, buntscheckigem Gefieder, welche sich leicht zähmen lassen. In einer Entfernung von einer Viertelmeile wurde auf einem Bergabhange ein »Pah«, eine maorische Verschanzung, in einer uneinnehmbaren Position sichtbar. Dorthin wurden die Gefangenen nach ihrer Ausschiffung durch die Krieger geführt; man hatte ihnen die Fesseln abgenommen. – Der Pfad, welcher nach dem Lager führte, durchschnitt die Phormiumfelder und eine Gruppe prächtiger Bäume, bestehend aus »Kaikateas« mit spitzen Blättern und rothen Beeren, und der Dracaena australis, welche von den Eingeborenen »Ti« genannt wird.
Auf langen Windungen des Pfades gelangten Glenarvan, Lady Helena, Mary Grant und ihre Gefährten in das Innere des »Pahs«.
Die Festung war durch einen äußeren Palissadengürtel von fünfzehn Fuß Höhe geschützt; eine zweite Linie von Pfählen, ferner eine Einfassung aus Weideenruthen, in der Schießscharten angebracht waren, schlossen die zweite Umfassung, das Plateau des »Pahs«, ein, auf welchem sich maorische Festungswerke und etwa vierzig Hütten in ganz symmetrischer Form erhoben.
Bei ihrer Ankunft wurden die Gefangenen von dem Anblick der Köpfe, welche die Spitzen der inneren Palissadenreihe schmückten, überwältigt. Lady Helena und Mary Grant wandten die Augen ab, mehr aus Abscheu, als aus Schrecken. Diese Köpfe rührten von den feindlichen Officieren, welche in den Kämpfen gefallen waren, her, während ihre Körper den Siegern als Nahrung gedient hatten. Der Geograph erkannte die Köpfe als solche an ihren leeren Augenhöhlen.
In der That wird das Auge der feindlichen Chefs verschlungen, der Kopf dagegen nach der Landessitte präparirt, indem er des Gehirnes und sonstigen Inhaltes beraubt wird, während man die Nase durch kleine Stäbchen ausdehnt und ihre Nüstern mit Phormium ausstopft. Nachdem noch Mund und Augenlider abgeschnitten sind, wird er in einem Ofen während dreißig Stunden einer Räucherung unterworfen. Darauf erhält er sich außerordentlich lange ohne Runzeln und Falten und bildet eine Siegestrophäe.
Oft conserviren die Maoris den Kopf ihrer eigenen Chefs; aber in diesem Falle bleibt das Auge geöffnet in seiner Höhlung. Die Neu-Seeländer zeigen diese Ueberreste mit großem Stolz; sie stellen sie ihren jungen Kriegern zur Bewunderung auf und erweisen ihnen ihre Verehrung durch feierliche Ceremonien.
Hier in dem »Pah« des Kai-Koumou schmückten die Köpfe der Feinde allein dieses entsetzliche Museum, und ohne Zweifel vermehrte der Kopf manches Engländers mit leeren Augenhöhlen die Sammlung der maorischen Häuptlinge.
Die Hütte Kai-Koumou's erhob sich unter mehreren Andern von unansehnlicherem Bau im Innern des »Pah«, vor einem weiten Terrain, welches die Europäer das Schlachtfeld genannt haben würden. Diese Hütte war aus Pfählen erbaut, die Füllung ihrer Wände bestand aus Baumzweigen, während sie im Inneren mit Decken von Phormium ausgelegt war.
Eine einzige Oeffnung gestattete den Eintritt in die Hütte; Klappflügel, gebildet aus einem dicken Fasergewebe, dienten als Thür. Das Dach trat über den Eingang hervor, um Schutz gegen den Regen zu bieten. Einige Figuren an den Dachsparren schmückten die Hütte, und der »Wharepuni« oder die Vorhalle bot der Bewunderung der Besucher mancherlei Schnitzereien.
Im Inneren der Hütte erhob sich der Fußboden aus gestampfter Erde etwa einen halben Fuß hoch. Rohrgeflechte und Matratzen aus getrocknetem Seegras mit gewebten Decken belegt dienten als Lagerstätten. In der Mitte bildete ein ausgerundetes Loch den Feuerheerd, darüber ein zweites Loch im Dache den Schornstein.
Neben der Hütte erhoben sich Magazine, welche die Vorräthe des Chefs enthielten. In einiger Entfernung sah man Umzäunungen, in denen Schweine und Ziegen, seltene Abkömmlinge dieser durch den Kapitän Cook acclimatisirten nützlichen Thiere, sich tummelten. Hunde, welche einen mageren Bissen suchten, sah man in großer Anzahl umherlaufen. Sie waren als Thiere, deren Fleisch den Maoris täglich zur Nahrung dient, ziemlich schlecht genährt.
Glenarvan und seine Genossen hatten dieses Gesammtbild mit einem Blicke umfaßt. Sie erwarteten in der Nähe einer leeren Hütte das Urtheil des Chefs, nicht ohne den Beschimpfungen einer Bande alter Frauen ausgesetzt zu sein. Von diesen Harpyien wurden sie unter Heulen und Toben mit den Fäusten bedroht. Einige englische Worte, welche ihren wulstigen Lippen entschlüpften, ließen deutlich erkennen, daß sie ein sofortiges Todesurtheil erwarteten.
Mitten unter diesen Drohungen und Verwünschungen legte Lady Helena eine scheinbare Ruhe an den Tag, welche in ihrem Herzen nicht wohnen konnte. Diese muthige Frau hielt sich durch heroische Anstrengungen aufrecht, um Lord Glenarvan sein kaltes Blut zu erhalten. Die arme Mary Grant war einer Ohnmacht nahe, John Mangles unterstützte sie, bereit, sich tödten zu lassen, wenn es sie zu vertheidigen gälte. Seine Gefährten ertrugen alle diese Angriffe in verschiedener Weise, gleichgiltig wie der Major, oder übermannt von wachsendem Zorn wie Paganel. Glenarvan, welcher Lady Helena von diesen alten Megären befreien wollte, ging gerade auf Kai-Koumou zu, wies auf die ekelhafte Gruppe und sprach:
»Verjage sie!«
Der maorische Häuptling blickte seinen Gefangenen fest an, ohne ihm zu antworten; dann brachte er mit einer Handbewegung die heulende Bande zum Schweigen. Glenarvan verneigte sich, um seinen Dank auszudrücken, und kehrte langsam zu den Seinigen zurück.
In diesem Augenblicke waren in dem »Pah« etwa hundert Neu-Seeländer versammelt. Greise, Männer und Jünglinge, von denen die Einen ruhig, aber finster die Befehle Kai-Koumou's abwarteten, während die Anderen sich den Ausbrüchen eines heftigen Schmerzes überließen; diese beweinten ihre Verwandten oder Freunde, welche in den letzten Kämpfen gefallen waren.
Kai-Koumou kam von allen Häuptlingen, welche sich auf den Ruf William Thompson's erhoben hatten, allein nach dem See zurück und brachte seinem Stamme die erste Kunde von der Niederlage der nationalen Erhebung in den Ebenen des unteren Waikato. Von zweihundert Kriegern, welche unter seinen Befehlen zur Vertheidigung des Landes herbeigeeilt waren, kehrten nur fünfzig zurück. Wenn davon auch Einige von den Siegern gefangen worden waren, so war die Zahl der Gefallenen doch eine furchtbare.
Das war der Grund der tiefen Verzweiflung, welche die Ankunft Kai-Koumou's unter seinen Stammesgenossen hervorgerufen hatte. Die verhängnißvolle Nachricht, welche man bis dahin gar nicht geahnt hatte, wirkte niederschmetternd wie ein Blitzstrahl.
Bei den Wilden spricht sich der moralische Schmerz heftiger in den körperlichen Bewegungen aus. Die Verwandten und Freunde der gefallenen Krieger, besonders deren Frauen, zerrissen sich mit scharfen Muscheln Gesicht und Schultern. Das Blut rieselte aus den Wunden und vermischte sich mit ihren Thränen. Die unglücklichen Neu-Seeländer boten in diesem blutigen und rasenden Zustande ein Bild des Schreckens.
Ihre Verzweiflung wurde durch einen anderen Grund, der bei den Eingeborenen sehr in's Gewicht fiel, noch vermehrt. Ihre Verwandten, ihre Freunde, welche sie beweinten, waren nicht nur todt, sondern ihre Gebeine fehlten auch in dem Familiengrabe.
Von dem Besitz dieser Ueberreste hängt nach der maorischen Religion das ganze zukünftige Leben ab; nicht das der Verwesung geweihte Fleisch, sondern die Knochen, welche sorgfältig gesammelt, gereinigt, polirt und selbst gefirnißt werden, werden in dem »Oudoupa«, d. h. »Haus des Ruhmes«, niedergelegt. Diese Gräber sind mit hölzernen Statuen geschmückt, welche die Tättowirung des Verstorbenen in vollkommener Genauigkeit wiedergeben.
Heute aber blieben die Gräber leer, die religiösen Ceremonien konnten nicht stattfinden, die theuren Gebeine bleichten, so weit sie von den Zähnen der wilden Hunde verschont wurden, auf dem Schlachtfelde.
Und bei diesem Gedanken verdoppelten sich die Ausbrüche des Schmerzes. Den Drohungen der Frauen folgten die Flüche der Männer gegen die Europäer. Immer lauter ertönten sie, immer wilder wurden die Geberden. Bald mußten den Worten Acte der thierischen Rohheit folgen.
Kai-Koumou fürchtete von den Fanatikern seines Stammes überwältigt zu werden, und ließ darum seine Gefangenen an einen geheiligten Ort führen, der am anderen Ende des »Pahs« auf einem hervortretenden kleinen Bergkegel lag. In der dort erbauten heiligen Hütte, »Waré-Atoua« genannt, lehrten die Priester und die Arikis den Neu-Seeländern einen Gott in drei Personen, Vater, Sohn und Vogel, oder Geist. Die heilige und auserwählte Nahrung, welche Maoui-Nanga-Rangui durch den Mund der Priester ißt, wird in dem weiten, wohlverschlossenen Heiligthume aufbewahrt. Dort ließen sich die Gefangenen, augenblicklich gegen die Wuth der Eingeborenen geschützt, auf Phormiumdecken nieder. Lady Helena, deren Kräfte erschöpft, deren moralische Energie gebrochen war, stürzte in die Arme ihres Gatten.
Glenarvan drückte sie an seine Brust und sprach wiederholt:
»Muth, meine liebe Helena, der Himmel wird uns nicht verlassen!«
Robert glitt, nachdem kaum die Thür geschlossen war, auf Wilson's Schultern; von da gelang es ihm, seinen Kopf durch eine Luke zwischen Dach und Mauer zu stecken, wo Amulette hingen. Mit einem Blicke konnte er die ganze Ausdehnung des »Pahs« bis zur Hütte Kai-Koumou's übersehen.
»Sie sind um den Chef versammelt, sagte er mit leiser Stimme . . . sie bewegen ihre Arme . . . stoßen ein Geheul aus . . . Kai-Koumou will sprechen . . .«
Der Knabe schwieg einige Minuten lang, und fuhr dann fort:
»Kai-Koumou spricht . . . Die Wilden beruhigen sich . . . sie hören ihn an . . . .«
»Augenscheinlich,« sagte der Major, »hat dieser Chef ein persönliches Interesse, uns zu beschützen. Er will seine Gefangenen gegen Häuptlinge seines Stammes auswechseln! Aber werden seine Krieger damit einverstanden sein?«
»Ja! . . . sie hören auf ihn . . .« erwiderte Robert ». . . Sie zerstreuen sich . . . Die Einen kehren in ihre Hütten zurück . . . die Anderen verlassen den ›Pah‹.«
»Sprichst Du die Wahrheit?« rief der Major.
»Ja, Herr Mac Nabbs,« antwortete Robert. »Kai-Koumou ist allein geblieben mit den Kriegern seines Bootes . . . Ah! der Eine von ihnen kommt auf unsere Hütte zu . . .«
»Steig herunter, Robert«, sagte Glenarvan.
In diesem Augenblicke erfaßte Lady Helena, welche sich erhoben hatte, den Arm ihres Gatten.
»Edward,« sprach sie mit fester Stimme, »weder Mary Grant noch ich dürfen diesen Abend in die Hände dieser Wilden fallen.« Und dabei überreichte sie Glenarvan einen geladenen Revolver.
»Eine Waffe!« rief Glenarvan mit strahlenden Blicken aus.
»Ja! Die Maoris durchsuchen ihre Gefangenen nicht. Aber diese Waffe ist für uns bestimmt, Edward, nicht für sie!«
»Glenarvan,« rief hastig der Major, »verbergen Sie diesen Revolver! Der Augenblick ist noch nicht gekommen . . .«
Der Revolver verschwand in den Taschen des Lord. Die Decke, welche den Eingang der Hütte schloß, erhob sich . . . ein Eingeborener erschien.
Er machte den Gefangenen ein Zeichen, ihm zu folgen.
Glenarvan und die Seinigen durchschritten dicht zusammengedrängt den »Pah« und standen vor Kai-Koumou still.
Um den Häuptling waren die ersten Krieger seines Stammes versammelt.
Unter ihnen befand sich der Maori, dessen Boot sich mit dem Kai-Koumou's an der Mündung des Pohainhenna in den Waikato vereinigt hatte. Es war ein Mann von vierzig Jahren, kräftig und von wildem und grausamem Gesichtsausdrucke.
Er nannte sich Kara-Tété, das heißt »der Jähzornige« in seeländischer Sprache. Kai-Koumou behandelte ihn mit einer gewissen Achtung, und an der Feinheit seiner Tättowirung erkannte man, daß Kara-Tété einen hohen Rang in seinem Stamme einnahm. Ein scharfblickender Beobachter würde jedoch errathen haben, daß diese beiden Häuptlinge auf einander eifersüchtig waren. Der Major bemerkte, daß der Einfluß Kara-Tété's dem Kai-Koumou unbequem war. Sie standen Beide an der Spitze der mächtigen Stämme im Waikato-Districte und waren mit gleicher Macht ausgerüstet. Auch während dieser Unterhaltung verriethen die Augen Kai-Koumou's, während sein Mund lächelte, eine tiefe Feindschaft.
Kai-Koumou richtete an Glenarvan die Frage:
»Du bist Engländer?«
»Ja,« erwiderte der Lord ohne Zögern, denn als solcher konnte er viel eher auf eine Auswechselung hoffen.
»Und Deine Gefährten?« frug Kai-Koumou weiter.
»Meine Gefährten sind Engländer, wie ich. Wir sind Reisende, Schiffbrüchige. Aber wir haben an dem Kriege nicht Theil genommen, wenn Du Gewicht darauf legst, das zu wissen.«
»Darauf kommt es nicht an!« erwiderte in brutaler Weise Kara-Tété. »Jeder Engländer ist unser Feind. Deine Landsleute haben unsere Insel überfallen, unsere Felder gestohlen! Ja, sie haben sogar unsere Dörfer niedergebrannt!«
»Sie haben Unrecht daran gethan!« erwiderte Glenarvan mit fester Stimme. »Ich sage Dir das, weil ich es denke, und nicht, weil ich in Deiner Macht bin.«
»Höre,« sprach Kai-Koumou, »der Tohonga, der große Priester Nouï-Atoua's, ist in die Hände Deiner Brüder gefallen. Er ist Gefangener der Pakekas (Europäer). Unser Gott befiehlt uns, sein Leben wieder zu erkaufen. Ich hätte Dir gern das Herz aus dem Leibe gerissen und gewünscht, daß Dein Kopf und die Deiner Gefährten für ewige Zeiten auf die Pfähle dieser Palissaden gesteckt worden wären. Aber Nouï-Atoua hat gesprochen.«
Bei diesen Worten zitterte Kai-Koumou, der bis dahin Herr seiner selbst geblieben war, vor Zorn, sein Gesicht drückte eine wilde Erregung aus. Nach einigen Augenblicken fuhr er in kälterem Tone fort:
»Glaubst Du, daß die Engländer unseren Tohonga gegen Deine Person auswechseln werden?«
Glenarvan zögerte mit der Antwort und beobachtete aufmerksam den maorischen Häuptling.
»Ich weiß es nicht,« sagte er nach einem Augenblicke des Schweigens.
»Sprich,« fuhr Kai-Koumou fort. »Gilt Dein Leben das unseres Tohonga?«
»Nein,« antwortete Glenarvan. »Ich bin weder ein Chef, noch ein Priester unter meinen Landsleuten.«
Paganel, ganz erstaunt über diese Antwort, betrachtete Glenarvan mit wahrer Bestürzung.
Kai-Koumou schien gleichfalls erstaunt.
»Also Du zweifelst daran?« frug er.
»Ich weiß es nicht,« antwortete Glenarvan.
»Werden Deine Landsleute Dich nicht gegen unseren Tohonga austauschen?«
»Mich allein? Nein,« erwiderte Glenarvan. »Uns Alle vielleicht.«
»Bei den Maoris,« sagte Kai-Koumou, »gilt der Grundsatz: Kopf für Kopf.«
»Biete zuerst diese Frauen als Austausch gegen Deinen Gefangenen«, sagte Glenarvan, indem er auf Lady Helena und Mary Grant hinwies.
Lady Helena wollte zu ihrem Gatten hinstürzen. Der Major hielt sie zurück.
»Diese beiden Damen,« fuhr Glenarvan fort, indem er sich ehrfurchtsvoll gegen Lady Helena und Mary Grant verbeugte, »nehmen in ihrem Vaterlande einen hohen Rang ein.«
Mit kaltem Blicke maß der Krieger seinen Gefangenen. Ein böses Lächeln spielte um seine Lippen, doch unterdrückte er es sofort und antwortete mit kaum verhaltener Stimme:
»Hoffst Du Kai-Koumou durch falsche Worte zu täuschen, verfluchter Europäer? Glaubst Du, daß Kai-Koumou's Augen nicht in den Herzen zu lesen verstehen?«
Und auf Lady Helena zeigend, sagte er:
»Das ist Deine Frau!«
»Nein! Die Meinige!« rief Kara-Tété, drängte die Gefangenen zurück, und schon legte sich seine Hand auf Lady Helena's Schultern, die bei dieser Berührung erbleichte.
»Edward!« rief die unglückliche bestürzte Frau.
Glenarvan erhob, ohne ein Wort zu sagen, den Arm. Ein Schuß krachte. Kara-Tété fiel todt nieder.
Bei dem Knalle stürzte ein Schwarm Eingeborener aus den Hütten. Der »Pah« füllte sich augenblicklich. Hundert Arme erhoben sich gegen die Unglücklichen. Glenarvan wurde der Revolver aus der Hand gerissen.
Kai-Koumou schleuderte einen wilden Blick auf Glenarvan; dann deckte er mit der einen Hand den Körper des Mörders, und hielt mit der anderen die Menge zurück, welche hervorbrechen wollte.
Seine Stimme beherrschte den Tumult.
»Tabou! Tabou!« rief er aus.
Sofort hielt die Menge vor Glenarvan und seinen Genossen, wie durch übernatürliche Gewalt gefesselt, an.
Einige Augenblicke später wurden sie zum Waré-Atoua, der ihnen zum Gefängniß diente, zurückgeführt. Aber Robert Grant und Jacques Paganel waren nicht mehr bei ihnen.