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III. Das Ende eines freien Landes

Die Neue Insel bewacht das östliche Ende des Beagle-Kanales. Sie hat ungefähr die Gestalt eines unregelmäßigen Fünfeckes und ist bei vier Kilometer Breitenausdehnung acht Kilometer lang. Bäume gibt es hier im Überfluß, besonders zahlreich vertreten ist die Buche, die Esche, einige Myrtenarten und Zypressen mittlerer Größe. Auf den Prärien gedeihen die Stechpalme, Berberitzen und niedere Farrenkräuter. An besonders geschützten Stellen findet sich auch fruchtbare Erde, anbaufähiger Boden, der sich für Gemüsekulturen eignet. Und wo der Humus in ungenügender Menge vorhanden ist, wie unten am sandigen Strand, hat die Natur selbst einen Teppich von Flechten, Moosen und Bärlapp hingelegt.

Auf dieser Insel, im Schutze eines hohen Felsblockes, mit freiem Ausblicke auf das Meer, hatte der Indianer Karroly seinen Wohnsitz aufgeschlagen. Er hätte schwerlich eine günstigere Stelle ausfindig machen können. Alle Schiffe, die die Straße Le Maire passiert haben, kommen in nächster Nähe der Insel vorüber. Wenn sie das Kap Hoorn umschiffen, um den Stillen Ozean zu durchqueren, brauchen sie niemand an Bord; werden sie aber durch Handelsinteressen veranlaßt, dem Inneren dieses entlegenen Archipels einen Besuch abzustatten, können sie beim Durchkreuzen der verschiedenen kleinen Meeresstraßen ohne die Führung eines Lotsen unmöglich weiterkommen. Aber solche Handelsschiffe verirrten sich verhältnismäßig selten in diese Inselwelt, ihre Zahl wäre ungenügend gewesen, um Karroly und seinem Sohn den Lebensunterhalt zu sichern. So beschäftigte er sich denn mit Jagd und Fischfang und setzte sich auf diese Weise in den Besitz von Tauschobjekten, für die er dann die für seine Existenz notwendigsten Dinge erhielt.

Infolge ihrer beschränkten Ausdehnung hatte die Insel nur eine geringe Anzahl Guanakos und Vikunas aufzuweisen, deren Felle sehr geschätzt werden; aber in nächster Nähe sind ja andere, bedeutend größere Inseln: Navarin, Hoste, Wollaston, Dawson und vor allem das Feuerland mit ausgedehnten Ebenen und dichten Wäldern, wo diese Wiederkäuer und auch Raubtiere in großer Menge leben.

Lange Zeit hatte Karroly eine natürliche Felsengrotte als Wohnstätte, die übrigens in vieler Hinsicht einer gebrechlichen Hütte vorzuziehen war. Nach dem Erscheinen des Kaw-djer auf der Insel war die Höhle im Granitfelsen verlassen worden und der Indianer hatte ein Haus bezogen. Die Wälder hatten das Bauholz dazu geliefert, von den Felsen der Küste wurden die nötigen Steine gebrochen und die Myriaden kleiner Muscheln, die am Strande vorkommen, mußten zur Kalkbereitung herhalten.

Das Haus bestand aus drei Zimmern: in der Mitte lag der gemeinsame Wohnraum mit einem großen Herd, rechts davon befand sich ein Zimmer, in dem Karroly und sein Sohn hausten, und in dem links vom Mittelraum gelegenen Gemache wohnte der Kaw-djer; hier lagen, in Wandregalen wohl geordnet, seine Schriften und Bücher, teils medizinische Werke, teils Abhandlungen über Nationalökonomie und Soziologie. Ein Schrank enthielt eine Auswahl von Fläschchen und chirurgischen Instrumenten.

In dieses Haus kam der Kaw-djer mit beiden Gefährten nach seinem Ausflug ins Feuerland zurück, wo sich die Ereignisse abgespielt hatten, die zu Beginn dieser Erzählung erwähnt worden sind.

Zunächst hatten sie aber den Lauf der Wel-kiej nach der Niederlassung des verwundeten Indianers gerichtet; diese war an der Ostseite des Beagle-Kanales gelegen. Um die am Ufer eines Baches regellos daliegenden Hütten sprangen unzählige Hunde, deren lautes Gebell die Ankunft der Schaluppe verkündete. Auf der nahen Wiese weideten zwei Pferde schwächlichen Aussehens und aus dem Dache einiger Hütten stiegen dünne Rauchsäulen zum Himmel.

Kaum war die Annäherung der Wel-kiej bekannt geworden, als ungefähr sechzig Männer und Frauen erschienen, welche in großer Hast zum Strand hinabeilten; eine Menge nackter Kinder folgte ihnen.

Als der Kaw-djer ans Land sprang, drängte sich alt und jung an ihn heran; jeder wollte ihm als erster die Hand drücken. Diese freudige Begrüßung seitens der armen Eingebornen gab Zeugnis von der lebhaften Dankbarkeit, die sie für den Mann empfanden, von welchem sie unzählige Liebesdienste, Rat und Hilfe empfangen hatten. Geduldig hörte er alle an, den Bericht ihrer Erlebnisse, ihre kleinen Leiden und Freuden; Mütter brachten ihm ihre kranken Kinder und geizten nicht mit Beweisen lebhafter Dankbarkeit; seine bloße Gegenwart wirkte Wunder, tröstete, beruhigte und heilte. Endlich konnte er in eine der Hütten eintreten, um gleich darauf, von zwei Frauen, einer älteren und einer ganz jungen gefolgt, wieder zu erscheinen. Letztere hielt ein Knäblein an der Hand. Es waren die Mutter, das Weib und der Sohn des vom Jaguar angefallenen Indianers, welcher trotz aller Bemühungen des Kaw-djer während der Überfahrt gestorben war.

Der Leichnam wurde am Strand niedergelegt und von den Bewohnern des Lagers umringt; und nun erzählte ihnen der Kaw-djer die näheren Umstände seines Todes; dann ging er wieder unter Segel, nachdem er großmütig der trostlosen Witwe den toten Jaguar geschenkt hatte, dessen Fell für diese armen, enterbten Wesen einen ungeheueren Wert repräsentierte. –

Das Winterhalbjahr hatte begonnen und in dem Hause auf der Neuen Insel nahm das Leben seinen gewöhnlichen Gang. Einige falkländische Küstenfahrer legten an der Insel an, um Tierfelle einzukaufen, ehe die Schneemengen die Schiffahrt in diesen Gewässern unmöglich machten.

Die verlangten Häute wurden günstig verkauft oder gegen Mundvorräte und Munition eingetauscht, denn es galt, sich mit allem Nötigen zu versehen vor Eintritt der rauhen Jahreszeit, die von Juni bis September dauerte.

In der letzten Woche des Monates Mai hatte eines dieser Fahrzeuge die Hilfe Karrolys in Anspruch genommen, und Halg und der Kaw-djer blieben allein auf der Neuen Insel.

Der junge Mann, welcher soeben das siebzehnte Lebensjahr erreicht hatte, brachte dem Kaw-djer die Liebe eines Sohnes entgegen, während dieser für den Jüngling die zärtlichen Gefühle eines Vaters empfand. Er hatte sich bemüht, auf den Verstand des Knaben einzuwirken, denselben zu wecken, zu beleben, zu erweitern, und es war ihm in der Tat gelungen, aus dem wilden Urmenschen ein neues Wesen zu schaffen, welches ganz verschieden war von seinen übrigen Stammesgenossen, welche so ganz außerhalb des Bereiches der Zivilisation lagen.

Es ist kaum nötig, zu bemerken, daß der Kaw-djer seinem jungen Schützling Halg jene Vorstellungen einimpfte, die ihm selbst über alles teuer waren: Ideen über Freiheit, Unabhängigkeit. Keinen Herrn, kein höher stehendes Wesen sollten Karroly und sein Sohn in ihm sehen, sondern den Gleichgestellten, den Gefährten. Es gibt keinen Herrn, kann keinen geben für einen Menschen, wenn er dieses Namens würdig sein soll! Man soll nur einen Gebieter anerkennen: sich selbst. Sonst braucht man keinen Herrn, weder im Himmel noch auf Erden!

Der ausgestreute Same fiel auf ein Erdreich, das sich wunderbar zur Aufnahme eignete. Die Feuerländer haben einen angebornen Freiheitsdrang, einen unstillbaren Trieb nach Ungebundenheit. Für die Freiheit opfern sie alles, um ihretwillen verzichten sie auf die Vorteile, die ein seßhaftes Leben ihnen verschaffen würde. Man kann ihnen ein sorgenfreies Dasein bieten, sie mit einem gewissen Wohlstand umgeben, für ihr sicheres Auskommen in jeder Weise sorgen – nichts kann sie halten; bei der ersten Gelegenheit entfliehen sie, um ihr gewohntes Abenteurerleben mit seinen Mühen und Entbehrungen wieder aufzunehmen; oft sind sie dem Verhungern nahe, führen ein elendes Dasein, aber – sie leben in Freiheit!

Anfangs Juni setzte der Winter im Magalhães-Archipel in voller Strenge ein; die Kälte erreichte zwar keinen übermäßig hohen Grad, aber eisige Stürme tobten und fürchterliche Unwetter gingen in diesen Breiten nieder, die Neue Insel verschwand fast unter den stetig anwachsenden Schneemassen.

Und so blieb es während der Monate Juni, Juli und August. In der ersten Hälfte des September wurde die Temperatur bedeutend milder und die falkländischen Küstenfahrzeuge zeigten sich wieder in diesen Gewässern. Am 19. September verließ Karroly an Bord eines amerikanischen Dampfers, der in den Beagle-Kanal eingelaufen war und die Lotsenflagge gehißt hatte, die Neue Insel; seine Abwesenheit war auf acht Tage berechnet; Halg und der Kaw-djer blieben allein zurück. Als die Schaluppe den Indianer heimgebracht hatte, erkundigte sich der Kaw-djer seiner Gewohnheit gemäß nach den Einzelheiten der Reise.

»Es ist nichts Außergewöhnliches vorgefallen, antwortete Karroly; wir hatten ruhiges Meer und günstigen Wind.

– Wo hast du das Schiff verlassen?

– Am Darwin-Sund, an der äußersten Spitze der Stewart-Insel; dort kreuzten wir einen Avisodampfer, der uns entgegenkam.

– Wohin fuhr er?

– Nach dem Feuerland. Auf dem Heimweg sah ich ihn wieder; er hatte in einer Bucht Anker geworfen und schiffte Soldaten aus.

– Soldaten? rief der Kaw-djer im höchsten Erstaunen. Welcher Nation gehören sie an?

– Sie sind aus Chile und Argentina.

– Was machen sie?

– Nach ihrer Aussage waren sie zum Schutze zweier Kommissäre beordert, welche das Feuerland und die Nachbarinseln durchforschen sollen.

– Woher kommen die Kommissäre?

– Von Punta-Arenas; der Gouverneur hat ihnen das Avisoschiff zur Verfügung gestellt.«

Der Kaw-djer fragte nicht weiter; er blieb nachdenklich. Was bedeutete die Ankunft der Kommissäre? Was war der eigentliche Zweck ihrer Anwesenheit im Magalhães-Archipel. Handelte es sich um das oro- oder hydrographische Studium des Landes oder war das Ziel ihrer Tätigkeit die Feststellung der Küstenlinie, eine genaue Aufnahme der Meeresstraßen im Interesse der Schiffahrt?

Der Kaw-djer war tief in Gedanken versunken. Er konnte sich eines unbestimmten Gefühles der Unruhe nicht erwehren. Vielleicht sollte sich diese Rekognoszierung auf die ganze Inselgruppe erstrecken; möglicherweise würde der Avisodampfer auch in den Gewässern der Neuen Insel Anker werfen!

Was ihn veranlaßte, der Sache eine gewisse Wichtigkeit beizumessen, war der Umstand, daß die Expedition durch die Regierungen von Chile und Argentina ausgesendet worden war. Herrschte denn Eintracht zwischen den beiden Republiken, welche bis zu diesem Tage die drohende Streitfrage nicht beigelegt hatten: welchem Staate diese Länder einer weltentlegenen Region, nach denen beide Verlangen trugen, deren Besitz sie – mit Unrecht – beanspruchten, zufallen sollten.

Während dieser kurzen Fragen und Antworten hatte der Kaw-djer die Höhe des Hügels erreicht, an dessem Fuße das Häuschen erbaut war.

Von hier aus hatte er einen weiten Ausblick auf das Meer, und unwillkürlich schweiften seine Blicke nach Süden, wo die letzten Gipfel des amerikanischen Kontinentes aus dem Wasser ragten und die Inselgruppe des Kap Hoorn bildeten. Soll er dorthin gehen, um ein Stück freies Land zu finden? ... Soll er noch weiter wandern? ... Im Geiste übersetzte er den Polarkreis und verlor sich in den schneeigen Regionen der antarktischen Welt, die, von den Schleiern eines undurchdringlichen Geheimnisses verhüllt, auch dem kühnsten Forscher ein versagendes »Nein« entgegenruft ...

Groß wäre der Schmerz des Kaw-djer gewesen, hätte er geahnt, wie gerechtfertigt seine schlimmsten Befürchtungen waren!

Der »Grazias a Dios«, der Avisodampfer der chilenischen Regierung, führte in der Tat zwei Kommissäre an Bord: Herrn Idiaste aus Chile und Herrn Herrera als Vertreter der Republik Argentina, deren jeder von seiner Regierung beauftragt worden war, die Teilung des Magalhães-Archipels vorzubereiten, der Zankapfel sollte halbiert werden und jeder Staat wollte sich mit einem Stück des Landes begnügen, dessen ganzen Besitz er angestrebt hatte.

Diese Streitfrage hatte schon seit einer Reihe von Jahren zu endlosen Auseinandersetzungen Anlaß gegeben und es war bis jetzt nicht gelungen, einen beide Teile befriedigenden Ausgleich zu finden. Solch eine gespannte Situation konnte aber bei längerer Dauer leicht zu ernsteren Konflikten führen. Vom kommerziellen Standpunkt sowohl als auch vom politischen war es ein Gebot der Notwendigkeit, die Zwistigkeiten beizulegen, um so mehr, als das alles verschlingende England in bedrohlicher Nähe war. Von den Falklandsinseln aus mochte es nicht allzu schwer sein, die Inseln des Magalhães-Archipels in inniger Umarmung an sich zu ziehen! Die britischen Küstenfahrer waren gar häufig in diesen Gewässern zu sehen und die englischen Missionäre taten ihr Möglichstes, um bei den Feuerländern immer mehr Macht und Ansehen zu erringen. Es war sehr zu fürchten, daß eines schönen Tages an irgendeinem Punkte der Insel die britische Flagge gehißt wurde und nichts ist schwerer zu Fall zu bringen als das Banner Großbritanniens. Es war höchste Zeit, diesem bedenklichen Zustande ein Ende zu machen!

Nachdem die beiden Herren, Idiaste und Herrera, sich ihres Auftrages entledigt, die Kundschaftsreise beendet hatten, kehrten sie in ihre Heimat zurück; der eine nach Santiago, der andere nach Buenos-Aires. Einen Monat später, am 17. Januar 1881, wurde in der letztgenannten Stadt ein Teilungsvertrag von beiden Republiken unterzeichnet, welcher das bisher ungelöste Problem, das beiderseits so viel Bitterkeit wachgerufen hatte, zu einem befriedigenden Abschluß brachte.

Die Vertragsbedingungen bestimmten, daß Patagonien von der Republik Argentina annektiert werden sollte, mit Ausnahme des Territoriums, das durch den 52. Breitengrad und den 70. Meridian westlich von Greenwich begrenzt ist; dieses wurde Chile zugesprochen. Dafür verzichtete letzteres auf die Staaten-Insel und auf den östlich des 68. Längengrades gelegenen Teil des Feuerlandes. Alle anderen Inseln gehörten ausnahmslos zu Chile.

Dieser Ausgleich, der die Rechte der beiden Staaten feststellte, hatte den Magalhães-Archipel seiner Unabhängigkeit beraubt. Welche Gefühle werden das stolze Herz des Kaw-djer bewegen, wenn sein Fuß nicht mehr auf freier Erde wandern kann, sondern chilenischen Boden betreten muß?

Am 25. Februar gelangte der Vertrag zur Kenntnis auf der Neuen Insel; Karroly hatte die Botschaft mitgebracht, als er von einer Lotsenfahrt zurückkam.

Der Kaw-djer konnte eine Bewegung der Entrüstung nicht zurückhalten; er sprach kein Wort, aber in seinen Augen flammte es zornig auf und grimmiger Haß war in dem Blicke zu lesen, den er nach Norden richtete, während seine geballte Faust sich drohend erhob.

Unfähig, den inneren Aufruhr zu dämpfen und seiner Bewegung Herr zu werden, schritt er unruhig auf und ab; dabei war ihm, als entschwände der Boden unter seinen Tritten, als böte er ihm nicht mehr die frühere feste Stütze.

Endlich war es ihm gelungen, den Sturm der Leidenschaften zu beherrschen, der in seinem Inneren tobte; seine eben noch ingrimmig verzerrten Züge glätteten sich und nahmen den ihnen gewöhnlichen Ausdruck gleichgültiger Kälte an. Er trat auf Karroly zu und fragte in ruhigem Tone:

»Ist die Nachricht sicher wahr?

– Ja, antwortete der Indianer. Ich habe sie in Punta-Arenas vernommen. Zwei Flaggen sollen am Eingange der Meerenge vor dem Feuerland gehißt sein; die argentinische am Kap Espiritu Santo und die Flagge von Chile am Kap Orange.

– Und alle Inseln südlich vom Beagle-Kanal, erkundigte sich der Kaw-djer, gehören jetzt zu Chile?

– Alle.

– Auch die Neue Insel!

– Ja.

– Es mußte wohl so kommen,« sagte der Kaw-djer leise und seine Stimme zitterte unter der heftigen inneren Erregung. Dann eilte er dem Hause zu und schloß sich in sein Gemach ein.

Wer war eigentlich dieser Mann? Welche zwingenden Gründe mochten ihn veranlaßt haben, den einen oder anderen Kontinent zu verlassen und sich in der Einsamkeit des Magalhães-Archipels lebendig zu begraben? Warum verachtete er die gesamte Menschheit und warum widmete er seine ganze Lebenskraft diesen Feuerländern, verschwendete er an die wenigen Stämme armer Eingeborner die reichen Schätze seines aufopferungsfähigen Herzens?

Der erste dunkle Punkt wird durch das Abwickeln jener Ereignisse erhellt werden, die den Inhalt dieser Erzählung bilden sollen. Die anderen Fragen finden ihre Erklärung, wenn man das Vorleben des Kaw-djer betrachtet.

Er war ein Mann von tiefem Wissen und hatte sich mit gleichem Ernste und gleicher Gründlichkeit sowohl auf sozialpolitische als auch naturwissenschaftliche Studien geworfen; er war ein Mann der Tat, voll Kraft und Ausdauer; aber – wie viele andere Gelehrte – verfiel er in den doppelten großen Fehler: Grundsätze für unfehlbar zu halten und als unumstößlich sicher aufzustellen, die schließlich nur ein Anrecht auf die Bezeichnung »Hypothese« hatten, und diese Grundsätze in die Tat umwandeln, rücksichtslos durchführen zu wollen bis zu den äußersten Grenzen der Möglichkeit. Die Namen einiger dieser berühmten, gefürchteten Reformatoren sind ja in aller Gedächtnis!

Der Sozialismus, dessen Bestreben kein geringeres Ziel ins Auge faßt als eine gründliche Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft, der bestehenden Zustände, ist keine Erfindung der allerneuesten Zeit. Nach einer bedeutenden Anzahl im Dunkel der Vergangenheit verschwindender Namen tauchen Saint-Simon, Fourrier, Proudhon und andere als Vorläufer des Kollektivismus auf. Andere, einer neuen Epoche angehörende Ideologen wie Lassalle und Karl Marx, haben die alten Ideen wieder aufgegriffen, sie mehr oder weniger abgeändert und schärfer begrenzt; als Basis aber und Ausgangspunkte aller Operationen wurde eine Reihe hochtönender Schlagwörter aufgestellt, wie: Sozialisation aller Erzeugnisse, Abschaffung des Kapitals, Vernichtung der Konkurrenz, Substitution des persönlichen zugunsten des gemeinsamen Besitzes.

Keiner von ihnen rechnet aber mit den Notwendigkeiten und Zufälligkeiten des Lebens. Ihre Lehre verlangt gebieterisch die augenblickliche und durchgreifende Ausführung. Sie fordern allgemeine Besitzentäußerung und universellen Kommunismus.

Möge man diese Anschauung loben oder tadeln, eines muß man anerkennen: sie ist kühn! Aber in noch höherem Grade verdient diese Bezeichnung – die Theorie der Anarchisten.

Diese verwerfen vor allem die tyrannischen Bestimmungen, Statuten, die die Verwaltung und Leitung eines kollektivistischen Gesellschaftslebens als Gebot der Notwendigkeit vorschreiben muß; sie sanktionieren nur den absoluten, ungeschmälerten, unantastbaren Individualismus. Ihr Streben ist auf die Abschaffung jeder Autorität, die Zerstörung aller gesellschaftlichen Bande gerichtet.

Dieser letzterwähnten Menschenklasse gehörte der Kaw-djer an. Seine wilde, ungezügelte und unversöhnliche Seele war unfähig, sich einem anderen Willen zu beugen, die Fesseln des Gehorsams zu tragen und bäumte sich gegen den Zwang der Gesetze auf, dieser Vorschriften, durch welche man die gegenseitigen Beziehungen der Menschen zu regeln und zu sichern versucht und die ja unleugbar mancherlei Unvollkommenheiten aufzuweisen haben. Der Kaw-djer war zwar niemals in den Scharen derjenigen anzutreffen gewesen, die in rücksichtsloser Heftigkeit ihre Überzeugung propagieren wollten; weder in Frankreich noch in Deutschland, England oder den Vereinigten Staaten war er Landes verwiesen worden; aber die angebliche Zivilisation dieser Länder hatte ihn mit tiefem Abscheu erfüllt und nur der eine Wunsch fand in seiner Seele Raum: um jeden Preis die Last einer jeden Autorität von sich abzuschütteln; und nun machte er sich auf die Suche nach einem Fleckchen Erde, wo es dem Menschen noch vergönnt war, in vollkommener Unabhängigkeit zu leben.

Er glaubte den gesuchten Ort inmitten dieses entlegenen Archipels gefunden zu haben, an der Grenze der bewohnten Welt. Das erträumte Glück schrankenloser Freiheit, er hoffte es an der äußersten Spitze Südamerikas, im Magalhães-Archipel, zu finden!

Aber durch den zwischen Chile und der Republik Argentina unterzeichneten Vertrag verlor auch diese Region die Unabhängigkeit, deren sie sich bis jetzt erfreut hatte: alles Territorium, das südlich des Beagle-Kanales lag, sollte den Statuten des Vertrages zufolge die chilenische Herrschaft anerkennen; kein Ort des Archipels konnte sich der Autorität des Gouverneurs, welcher in Punta-Arenas seine Residenz aufgeschlagen hatte, entziehen, auch nicht die Neue Insel, auf der der Kaw-djer nach langem Umherirren ein stilles Asyl gefunden hatte.

Es war wohl ein harter Schlag für ihn: so weit war er geflohen, nach so vielen Mühen und Anstrengungen hatte er sich ein Heim erkämpft, mit einer mehr als einfachen Lebensführung zufriedengegeben – und nun dieses Resultat!

Der Kaw-djer brauchte lange Zeit, um sein inneres Gleichgewicht wieder zu erlangen; die Wirkung der letzten Ereignisse auf ihn war mit dem Blitzstrahl zu vergleichen, der den in voller Kraft dastehenden Baum ins innerste Mark trifft und bis in die zartesten Wurzelfasern hinein erbeben macht. Seine Gedanken suchten die Zukunft, eine Zukunft, die ihm für seine Ruhe und Sicherheit nicht Gewähr leisten konnte. Beamte würden in der Gegend erscheinen und ihn auszuforschen suchen. Man wußte bereits, daß er diese Insel zu seinem Aufenthaltsorte erwählt hatte; es war ihm auch nicht unbekannt, daß zu öfteren Malen schon seine Gegenwart – die eines Fremden – auf dem Magalhães-Archipel, seine Beziehungen zu den Eingebornen, das Ansehen, in dem er bei den Wilden stand, der Regierung zu ernsten Besorgnissen Grund gegeben hatte. Der Gouverneur von Chile hatte versucht, ihn zum Sprechen zu bewegen, seine Herkunft, seinen Namen, seine Absichten in Erfahrung zu bringen ... Nun würde das alte Spiel wieder anheben; man würde seinem Leben, seinen Gewohnheiten nachgehen, ihn vielleicht zwingen, das Inkognito zu lüften, an dem er unter allen Umständen festhalten wollte. –

Einige Tage waren verflossen. Der Kaw-djer hatte kein Wort mehr fallen lassen über den Wechsel der Verhältnisse, die der Teilungsvertrag mit sich gebracht hatte, aber er war finster in sich gekehrt und verschlossener als früher. Was grübelte er? Dachte er daran, die Neue Insel auf immer zu verlassen, sich von seinem treuen Indianer, dem Knaben, für den er eine so innige Zuneigung empfand, zu trennen?

Wohin sollte er denn gehen? Wo war jener Winkel der Erde, wo er seine Unabhängigkeit wiederfand, ohne die er nicht leben zu können glaubte? Wenn er auch bis zu den allerletzten Felsblöcken des Archipels zurückwich, auf das Inselchen, welches das Kap Hoorn bildete, würde er sich dadurch der Autorität Chiles entziehen können?

Der Monat März war inzwischen herangekommen. Die schöne Jahreszeit dauerte noch einen Monat; gewöhnlich wurde sie vom Kaw-djer dazu benützt, allen Lagerplätzen der Feuerländer einen Besuch abzustatten, denn im Winter waren Reisen zu Wasser ein Ding der Unmöglichkeit. Diesmal aber traf er keinerlei Vorbereitungen, die Schaluppe instandzusetzen. Die Wel-kiej blieb ganz abgetakelt ruhig in ihrem geschützten Hafenplatz liegen. Am Nachmittag des 7. März sagte der Kaw-djer plötzlich zu Karroly:

»Halte für die ersten Morgenstunden die Schaluppe segelbereit!

– Soll es für eine mehrtägige Reise sein?

– Ja.«

Hatte sich der Kaw-djer dennoch zu seiner gewöhnlichen Rundfahrt zu den Stämmen der Feuerländer entschlossen? Wollte er doch wieder dieses halb chilenisch, halb argentinisch gewordene Feuerland betreten? ...

»Soll uns Halg begleiten? fragte Karroly.

– Ja.

– Und der Hund?

– Zol soll auch mitkommen!«

Beim Morgengrauen war die Wel-kiej reisefertig. Es herrschte Ostwind. Eine heftige Brandung peitschte die Klippen am Fuße des Hügels und das offene Meer im Norden warf hohe Wellen.

Wäre es die Absicht des Kaw-djer gewesen, seinen Kurs auf das Feuerland zu richten, dann hätte die Schaluppe eine sehr böse Fahrt gehabt, denn die Heftigkeit der Brise wuchs mit dem höheren Sonnenstand. Aber nein!

Nachdem die Neue Insel umschifft war, befahl der Kaw-djer, auf Navarin zuzusteuern, deren Doppelgipfel sich in verschwommenen Umrissen aus den westlichen Morgennebeln erhoben. Es ist dies eine der mittelgroßen Inseln des Magalhães-Archipels, an deren Südspitze die Wel-kiej bei Sonnenuntergang haltmachte, um in einer geschützten kleinen Bucht mit steil abfallenden Ufern die Nacht zu verbringen.

Am nächsten Morgen durchschnitt das Boot die Bucht in schiefer Richtung und suchte sich am Abend einen sicheren Ankerplatz nahe der Insel Wollaston.

Das Wetter verschlechterte sich, der Wind blies immer kräftiger und sprang nach Nordost um, dichte Wolken häuften sich am Horizont: der Ausbruch des Ungewitters konnte nicht mehr ferne sein. Die Befehle des Kaw-djer lauteten auf Beibehaltung der Südrichtung. Nun galt es, mit Umsicht jene Wasserstraßen zu wählen, wo das Meer weniger aufgeregt tobte. Dies tat Karroly, indem er beim Verlassen der Insel Wollaston deren Ostseite entlang fuhr und dann in den Kanal einbog, der die Inseln Hermite und Herschel trennt.

Welchem Ziele steuerte der Kaw-djer zu? Wenn er den letzten Ausläufer des Festlandes, das Kap Hoorn, erreicht und vor sich den unendlichen Ozean haben wird – was wird er dann tun? ...

Am 15. März, nachmittags, erreichte die Schaluppe glücklich die äußerste Spitze dieser Inselwelt, nachdem sie harte und gefährliche Kämpfe mit dem empörten Elemente tapfer ausgehalten hatte. Der Kaw-djer sprang sogleich ans Land. Ohne von seinen Absichten eine Silbe verlauten zu lassen, schickte er den Hund zurück, der ihm gefolgt war, ließ Karroly und Halg am Ufer und richtete seine Schritte nach dem Kap.

Die Insel Hoorn ist nichts anderes als eine chaotische Anhäufung riesiger Felsblöcke, an deren Fuß mächtige, durch die Meeresströmung angeschwemmte Hölzer und gigantische Algen sich häufen.

Auf der einen Seite tost die Brandung und die spitz vorspringenden Klippen nehmen sich wie schwarze Punkte in der schneeigen Weiße der schäumenden Wasser aus.

Der Aufstieg zur Spitze des nicht allzu hohen Vorgebirges ist von der Nordseite aus nicht sehr anstrengend; dort findet man sanft verlaufende Abhänge, auf denen sogar streckenweise anbaufähiges Erdreich anzutreffen ist.

Der Kaw-djer stieg langsam aufwärts. Zu welchem Zweck? Was konnte er, auf dem höchsten Punkt angelangt, zu erblicken hoffen, außer der in die Unendlichkeit sich dehnenden Fläche des ewigen Weltmeeres?

Der Orkan hatte jetzt seinen Höhepunkt erreicht. Je höher der Kaw-djer stieg, desto schwerer wurde ihm das Ankämpfen gegen das wütende Toben der entfesselten Luftströmungen. Oft mußte er sich an die Felsen anklammern, um nicht fortgerissen zu werden und der mit Heftigkeit emporgeschleuderte Wellenstaub peitschte sein Gesicht. Karroly und Halg verfolgten von unten seine immer kleiner werdende Gestalt, sahen, wie er gegen Sturm und Wasser ankämpfen mußte.

Fast eine Stunde hatte er zu diesem beschwerlichen und gefährlichen Aufstieg gebraucht; nun war der Kulminationspunkt erreicht; am äußersten Rand des Felsens blieb der Kaw-djer stehen, furchtlos, regungslos, den Blick nach Süden gerichtet.

Schon bedeckte die aufsteigende Nacht den östlichen Himmel mit ihren Schatten, aber der westliche Horizont war noch hell, durchleuchtet von den letzten Strahlen des Tagesgestirnes. Mächtige, vom Orkan zerrissene Wolkenmassen und über den hochgehenden Wogen schwebende Nebelschwaden rasten, vom Sturme gejagt, über den Abendhimmel dahin, und nichts war zu sehen, wohin das Auge reichte, als das Meer.

Was wollte der Mann, dessen Seele von so schmerzlichen Empfindungen zerwühlt war? Leitete ihn ein Ziel, eine Hoffnung? ... Oder hatte ihn – nach dem Scheitern seiner Pläne, nachdem er die Unmöglichkeit einer Erfüllung seiner Bestrebungen eingesehen – das Sehnen nach der ewigen, ungestörten Ruhe des Todes hierher an das Ende der Welt geführt? ...

Die Zeit verstrich, Minute um Minute verrann; eine bleierne Dunkelheit senkte sich immer tiefer herab. Der Blick konnte nichts mehr unterscheiden, denn die undurchdringliche Finsternis verschlang alles ...

Und es war Nacht ...

Plötzlich erhellte ein schwacher Blitz die schwarzen Himmelswände und ein im Sausen des Orkans ersterbender Donner verkündete, daß ein Kanonenschuß abgefeuert worden war.

Es war der Hilferuf eines Schiffes in höchster Not.


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