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Die ersten Julitage brachten für Halg große Sorgen. Es war ihm ein Nebenbuhler erstanden. Jener Emigrant, namens Patterson, welcher ihm um teueres Geld die Kleidungsstücke verkauft hatte, auf die er so stolz war, hatte Beziehungen mit der Familie Ceroni angeknüpft und erschöpfte sich in Aufmerksamkeiten für Graziella.
Halg war ganz verzweifelt über dieses unvorhergesehene Hindernis. Wie konnte er, ein Jüngling von achtzehn Jahren, ein Halbwilder, im Wettbewerbe mit einem Manne bestehen, welcher nach der Auffassung des armen Indianers über fabelhafte Reichtümer verfügte? Konnte Graziella in ihrer Wahl zögern, trotz der Zuneigung, die sie für ihn hegte?
In der Tat zögerte Graziella nicht in ihrer Wahl, aber es war nicht der andere, den sie vorzog, wie Halg befürchtete. Seine Jugend, seine Unschuld, die treuherzige Zärtlichkeit des Indianers überwogen leicht alle Vorteile seines Mitbewerbers.
Wenn der Irländer fortfuhr, seine Gegenwart aufzudrängen, so geschah es aus dem Grunde, daß er nicht feinfühlig genug war, die Kälte und Zurückhaltung zu verstehen, die Graziella und ihre Mutter ihm gegenüber deutlich zur Schau trugen. Sie antworteten kaum, wenn er das Wort an sie richtete und übersahen oft seine Gegenwart vollständig.
Patterson beunruhigte sich deshalb nicht. Er verfolgte seinen Feldzugsplan mit derselben zähen Ausdauer, die ihm bisher den Erfolg all seiner Unternehmungen gesichert hatte. Außerdem hatte er einen Verbündeten im feindlichen Lager in der Person Lazare Ceronis.
Wenn ihn die beiden Frauen schlecht aufnahmen, so wurde er dafür von dem Vater mit offenen Armen empfangen, welcher mit seinen Absichten, um die einzige Tochter zu werben, ganz einverstanden schien. Er und Patterson verstanden sich vollkommen. Manchmal suchten sie die Einsamkeit auf, um allerlei geheimnisvolle Beratungen zu pflegen, von denen niemand Kunde erhielt. Welche gemeinsame Interessen konnten wohl dieser unverbesserliche Trunkenbold und der listige Bauer zu besprechen haben? Der Verschwender und der Geizhals?
Diese Konferenzen bildeten für den armen Halg eine Quelle bittersten Kummers, den die Aufführung Lazares noch vergrößerte. Der Elende fuhr fort zu trinken, die fürchterlichen Familienszenen wiederholten sich in immer kürzeren Zwischenpausen. Halg unterließ es niemals, den Kaw-djer stets davon zu benachrichtigen und dieser teilte die Tatsache Hartlepool mit; aber weder der Kaw-djer noch Hartlepool konnten entdecken, wie Lazare Ceroni sich den Alkohol verschaffte, den es auf der Insel Hoste nicht gab – ausgenommen in den Vorräten des »Jonathan«.
Das Zelt aber, das die Mundvorräte enthielt, wurde Tag und Nacht von je zwei Mann der sechzehn Überlebenden der Besatzung des »Jonathan«, welche sich alle drei Stunden ablösten, beaufsichtigt. Diese ertrugen übrigens geduldig – selbst Kennedy und Sirdey – und ohne zu klagen die Langeweile der täglichen drei Wachtstunden. Keiner hatte je den leisesten Ausdruck der Unzufriedenheit hören lassen; sie gehorchten Hartlepool mit derselben Pünktlichkeit wie seinerzeit auf hoher See an Bord des »Jonathan«. Der Geist der Disziplin lebte in ihnen weiter; so bildeten sie der Zahl nach eine verschwindend kleine Gruppe, die aber stark genannt werden konnte durch die Einigkeit, die sie beseelte; auch der Beistand und die Gesinnung Dicks und Sands waren durchaus nicht zu unterschätzen.
Vorläufig dachte man nicht daran, den guten Willen der beiden Knaben auf die Probe zu stellen. Ihr jugendliches Alter schloß sie vom Wachtdienste aus, sie erfreuten sich unbeschränkter Freiheit, die sie benützten, sich nach Herzenslust zu belustigen. Die auf der Insel Hoste verbrachte Zeit bildete einen abgeschlossenen Lebensabschnitt in ihrem jugendlichen Dasein und blieb für sie wohl eine Zeit schönster Erinnerungen und steter Vergnügungen aller Art. Sie wechselten je nach den Umständen mit ihren Belustigungen ab. Wenn der Schnee in dichten Flocken zu Boden fiel, dann gruben sie darin Verstecke aus, in denen es sich herrlich spielen ließ; fiel die Temperatur unter den Gefrierpunkt herab, dann war die Zeit des Schleifens auf den gefrorenen Flächen gekommen oder sie setzten sich rittlings auf ein Brett, das als Schlitten diente, sausten damit die Abhänge hinunter und jubelten laut, wenn sie auf dieser windesschnellen Fahrt zu Fall kamen. Wenn wieder die Sonne am Himmel erstrahlte, dann verbanden sie sich mit anderen Altersgenossen, tummelten sich in der Umgebung des Lagers und erfanden stets neue Spiele, die ihnen um so mehr Unterhaltung und Befriedigung boten, je wilder sie waren.
Eines Tages, als sie mit drei oder vier Kindern am Meerufer tollten, ließ sie der Zufall eine natürliche Grotte entdecken, welche in den Klippen eingesprengt war, im Rücken des Vorgebirges, das im Osten die Scotchwell-Bai begrenzte. Diese Grotte, deren Eingang gegen Süden gerichtet war, und die infolgedessen gegenüber der Stelle lag, an der der »Jonathan« gescheitert war, lenkte sofort das Augenmerk der Knaben durch eine Eigentümlichkeit auf sich, welche sie besonders interessant machte. Eine Spalte öffnete sich in der einen Höhlenwand, die sich zwei bis drei Meter weit fortzog und dann zu einer zweiten, ganz unterirdischen Höhle erweiterte, von der eine gekrümmte Galerie längs der Felswand zu einer anderen, höhergelegenen Grotte führte, die nach dem Nordabhang der Klippe eine Öffnung zeigt. Von hier aus war das Lager zu übersehen und man konnte dahin gelangen, wenn man sich den felsigen Abhang hinabgleiten ließ.
Diese Entdeckung erfüllte die Herzen der kleinen Forscher mit Jubel. Sie hüteten sich, davon etwas verlauten zu lassen. Dieser Kranz von Grotten war ihr Reich, ihr alleiniges Eigentum, dessen Besitz sie in schweigendem Entzücken genossen. In größter Heimlichkeit begaben sie sich dahin, um dort ihre Spiele abzuhalten. Bald waren sie wilde Indianer, dann stellten sie Robinson vor, ein anderes Mal spielten sie wieder Räuber – alles mit der gleichen Begeisterung. Die unterirdischen Gewölbe widerhallten von ihren fröhlichen Rufen und die Galerie, welche die beiden Stockwerke verband, erdröhnte unter den Schritten der spielenden Kinder.
Das Passieren dieser Galerie war durchaus nicht gefahrlos. An einer Stelle war sie dem Einsturz nahe, hier war die höchstens einen Meter hohe Decke nur durch einen einzigen Stein festgehalten, dessen Basis auf einem anderen, geneigten Felsblock ruhte. Die geringste Kraftäußerung hätte ihn aus seiner Lage zu bringen vermocht. Daraus folgerte die Notwendigkeit, sich mit äußerster Vorsicht und nur auf den Knien rutschend in dem schmalen Raum zwischen dem Stützblock und der Mauer der Galerie fortzubewegen. Aber so groß die Gefahr auch in Wirklichkeit war, sie erschreckte die Kinder nicht, vielmehr erhöhte sie den Reiz ihrer Spiele.
So brachten Dick und Sand fröhlich ihre Zeit hin. Sie kümmerten sich um nichts, auch nicht um ihren Feind, Fred Moore, welchen sie manchmal von ferne erblickten und vor dem sie ohne alle falsche Scham die Flucht ergriffen. Übrigens verfolgte sie der Emigrant nicht mehr. Sein Zorn hatte sich gelegt und seine Rachegedanken sparte er für jemand anderen auf.
Jedenfalls kümmerten sich die Kinder nicht um Fred Moore und seine Rachegefühle; sie lebten nur für ihre Spiele und sie bedauerten lebhaft die kurze Dauer der Tage.
Wenn man eine diesbezügliche Anfrage an die Emigranten gestellt haben würde, wären Dick und Sand wohl die einzigen Verfechter dieses Standpunktes gewesen. Wenn ihnen die Zeit zu kurz däuchte, wurde sie den anderen zu lang in ihren engen Behausungen.
Natürlich sind Lewis Dorick samt Konsorten auszunehmen. Diese Gruppe Menschen fanden die Art des Überwinterns äußerst angenehm. Die Schlauköpfe waren der Lösung der sozialen Frage sehr nahe gekommen. Sie lebten wie in einem eroberten Lande, ließen es sich wohlergehen und sammelten Vorräte für kommende schlechtere Zeiten. Es konnte nur die Langmut und Geduld ihrer Opfer Anlaß zur Verwunderung geben. Diese armen Ausgebeuteten waren den gewissenlosen Räubern an Zahl bei weitem überlegen, aber darüber gaben sie sich keine Rechenschaft und der Gedanke, ihre zerstreuten Kräfte zu vereinigen, war ihnen nie gekommen. Dorick und sein Anhang hielten im Gegenteil fest zusammen und hatten eine wahre Schreckensherrschaft organisiert.
Niemand wagte den Forderungen der Tyrannen zu widerstehen.
Durch weniger tadelnswerte Mittel hatten etwa fünfzig andere Emigranten Rettung vor der tötenden Langeweile dieses tatenlosen Lebens gefunden. Unter der Leitung Karrolys erheiterten sie ihre Mußestunden durch die Jagd auf Seewölfe.
Der Wolfsjäger hat ein schwieriges Amt. Erst muß er geduldig warten, bis sich diese äußerst vorsichtigen Wassertiere ans Ufer wagen, dann heißt es die Ahnungslosen leise zu umzingeln und ihnen den Weg zur Flucht abzuschneiden. Auch nicht gefahrlos ist das Unternehmen, denn die Tiere wählen stets die steilsten, unzugänglichsten Stellen zu ihrem Tummelplatz.
Dank der guten Unterweisung und Führung Karrolys waren die Jäger von glänzendem Erfolg begünstigt. Sie machten eine bedeutende Beute von Meerwölfen, deren Fett zu Beleuchtungs- und Heizzwecken nützliche Verwendung finden konnte und deren Felle von großem Wert für die Zukunft waren.
Diese wenigen energischen, tatenlustigen Männer waren Ausnahmen; die meisten Emigranten zogen vor, frierend und jammernd in ihren Häusern zu sitzen. Die Temperatur war nicht übermäßig gesunken. Während der kältesten Periode, vom 15. Juli bis zum 15. August, war der tiefste Thermometerstand zwölf Grade und die mittlere Temperatur fünf Grade unter Null. Die Behauptung des Kaw-djer erwies sich demnach als wahr; das Klima war in diesen Breiten kein besonders rauhes zu nennen, wäre nur nicht das lang anhaltende, schlechte Wetter und die durchdringende Feuchtigkeit gewesen.
Diese fortgesetzte Feuchtigkeit hatte beklagenswerte Folgen in hygienischer Hinsicht. Die Krankheitsfälle wurden immer häufiger. Gewöhnlich gelang es dem Kaw-djer, sie zu bekämpfen, aber wenn besonders geschwächte Organismen ergriffen wurden, die ganz widerstandsunfähig waren, scheiterte seine Kunst. Aus diesem Grunde brachte der Winter acht Todesfälle, die Lewis Dorick sehr betrüben mußten, denn die Opfer der Krankheit waren meist solche Leute, die am bereitwilligsten seinen Forderungen entgegengekommen waren.
Auch der arme Marcel Norely starb plötzlich. Dick und Sand waren untröstlich; der kleine Krüppel ertrug das rauhe Klima nicht. Ohne Klagen, ohne Leiden, ohne Todeskampf war er eines Abends lächelnd ins Jenseits hinübergeschlummert.
Die Überlebenden nahmen sich die Todesfälle nicht sehr zu Herzen. Auch blieben sie ziemlich unbemerkt in der Menge, und dann ist jeder froh, dem Unglück, das den Nächsten betrifft, entronnen zu sein. Die Anzeige eines neuen Todesfalles rüttelte sie nur kurze Zeit aus ihrer Lethargie auf. Sie schienen aller Lebenskraft beraubt zu sein, nur in ihren ebenso lächerlichen als heftigen und häufigen Streitereien äußerte sie sich noch. Die fortgesetzte Wiederholung dieser Szenen gab dem Kaw-djer zu bitteren Betrachtungen Anlaß. Er war zu hellsehend, um nicht alles zu verstehen, und zu aufrichtig, um nicht an die logischen Folgen seiner Beobachtungen zu denken. Diese zufällige Vereinigung von Menschen, welche sich aus allen Teilen der Welt zusammengefunden hatten, beherrschte als Hauptleidenschaft – der Haß. Nicht jener immer tadelnswerte, aber doch logische Haß, welcher im Herzen derjenigen ersteht, die schweres Unrecht erlitten haben, böswillig geschädigt worden sind; hier handelte es sich um einen versteckten, gegenseitigen, erbarmungslosen Haß, der in dieser ganz außergewöhnlichen Lebenslage, wo alle zu den gleichen Entbehrungen verdammt waren, alle ein so freudenarmes Dasein führten, in elementarer Gewalt aufloderte, meist nur um geringfügiger Kleinigkeiten willen; es scheint, daß die Natur beim Schaffen der Lebenskeime einen jeden mit einem dunklen, gebieterischen Trieb der Zerstörung begabt, der dann alles Geschaffene der Vernichtung anheimfallen läßt.
Auch konnte der Kaw-djer den Mangel eines jeglichen Interesses bei vielen seiner Gefährten nicht begreifen. Wie wenige hatten den Mut gehabt, gegen den Müßiggang zu reagieren: die vier Familien, welche abgesondert von den übrigen im Inneren der Insel lebten, und die geringe Anzahl derjenigen, welche der Jagd auf Seewölfe nachgingen. Alle anderen ließen sich tatenlos dahintreiben, wie da die Tage kamen und gingen. Sie hatten eine Behausung und genügenden Lebensunterhalt – nach mehr fragten sie nicht. Sie kannten nicht das Bedürfnis, in ehrlicher Arbeit die Materie unter ihren Willen zu zwingen, wodurch dieser gestählt wird im Kampfe mit dem Schicksal; sie äußerten niemals den Wunsch, um den Preis einer Willensbetätigung ihre Lage zu verbessern, zu verschönern; sie hatten keinen Gedanken für die Zukunft. Es waren fügsame Sklavenseelen, bereit, an sie persönlich gerichtete Befehle auszuführen, aber zu einer eigenen Initiative schwangen sie sich nie auf und überließen die Sorge, in wichtigen Dingen für sie zu entscheiden, immer anderen.
Der Kaw-djer verstand sehr gut, daß diese allgemeine Schlaffheit, Feigheit die Ursache war, warum andere, energische Naturen eine fast unbeschränkte Gewalt an sich zu reißen gewußt hatten und diese überwiegende Majorität beherrschen konnten; warum einige skrupellose Individuen diese gedankenlose, willensschwache Menschenherde in so unverantwortlicher Weise ausbeuten konnten.
So also war die menschliche Natur! Waren da nicht doch Gesetze notwendig, diese unvollkommenen Gesetze, die den Menschen zum Denken, zur Anspannung, Betätigung seiner Verstandeskräfte zum Zwecke der Überwindung der rohen Gewalten zwingen, welche dem Despotismus der einen wie dem Sklaventum der anderen vernünftige Grenzen ziehen und die bösen Instinkte nach Tunlichkeit im Zaum halten? Sobald aber die Nützlichkeit und Notwendigkeit der Gesetze gegeben ist, muß dann nicht folgerichtig die Autorität anerkannt werden, welche berechtigt ist, Gesetze vorzuschreiben, in Kraft zu erhalten und über ihre Durchführung zu wachen, Übertretungen zu bestrafen?
Der Kaw-djer war noch nicht so weit gekommen, diese Fragen bedingungslos zu bejahen, aber daß er sich damit beschäftigte, sie in ernstliche Erwägung zog, beweist, welche Wandlung in ihm, seinem Gedankenleben vorgegangen war.
Er mußte eingestehen, daß der lebende, handelnde Mensch von Fleisch und Blut und das Idealbild, das er sich von dieser Krone der Schöpfung gemacht hatte, zwei grundverschiedene Wesen waren.
Folglich konnte man ruhig zugeben, daß – um den einzelnen gegen sich selbst, seine Schwachheit, seine Gier und seine anderen Laster zu beschützen – Gesetze aufgestellt wurden, die ja eigentlich nichts anderes waren als der Ausfluß des Volkswillens; jeder verlangte Schutz in seinem eigensten Interesse; wie in der Mechanik die Resultierende die verschiedenen Einzelkräfte ersetzt, so waren die Gesetze eigentlich nichts anderes als die Zusammenfassung und Präzisierung der einzelnen Willensäußerungen.
So lange der Kaw-djer vor seinem Exil in dem Magalhães-Archipel die Alte Welt bewohnt hatte und sich von allen Seiten in die Maschen eines unentwirrbaren Netzes von Vorschriften verwickelt sah, aus denen es kein Entrinnen gab, hatte er diese Unmasse von Gesetzen, Vorschriften, Paragraphen, Dekreten nur als unleidlichen Zwang empfunden; die Zusammenhangslosigkeit, häufiger Widerspruch und der oft auf bloße Quälerei abzielende Charakter hatten ihn die höheren Motive übersehen lassen. Jetzt, wo er mit einem dem primitiven Urzustande nahe liegenden Volke zusammengetroffen war, konnte er an lebenden Beispielen studieren. Wie der Chemiker, über seinen Ofen gebeugt, die Ergebnisse wahrnimmt, so hatte der Kaw-djer Gelegenheit, die unaufhörliche Reaktion zu beobachten, die im Schmelztiegel des Lebens vor sich geht. Durch die gemachten Erfahrungen erleuchtet, dämmerte in ihm eine Ahnung dieser Notwendigkeit auf, aber nicht, ohne sein tiefinnerstes Wesen ganz zu erschüttern. Der frühere Mensch mit seinen ihm liebgewordenen Ideen verlangte sein Recht. Seine nach Freiheit dürstende Natur bäumte sich gegen seinen Verstand auf. Das Problem stand unausgesetzt vor seinem geistigen Auge und in seinem Inneren tobte ein ununterbrochener, grausamer Kampf von Beweisgründen dafür und dagegen, der ihn müde und elend machte und unbefriedigt ließ.
Einen noch größeren Grund des Staunens als die Unvollkommenheit der menschlichen Natur bildete für den Kaw-djer die gänzliche Unfähigkeit der meisten, mit ihren Gewohnheiten zu brechen.
Aus dieser einsamen Küste an den Grenzen der Welt hatten die Schiffbrüchigen ihren früheren Ideen nicht entsagt. Diejenigen Grundsätze, Konventionen und Vorurteile, die ihr Leben früher beeinflußt hatten, traten auch hier noch in Geltung. Ihre Anschauungen über das Eigentumsrecht waren ihnen beispielsweise ein Glaubensartikel geblieben. Es gab auch nicht einen unter ihnen, welcher es nicht ganz natürlich gefunden hätte, zu behaupten: »Das gehört mir!« – und niemand hatte Verständnis für das Lächerliche einer solchen Redensart, wie dies einem freiheitlich gesinnten Philosophen sogleich in die Augen sprang. Welche Anmaßung lag darin, wenn so ein gebrechliches, vergängliches Wesen irgendeinen Bruchteil des Weltganzen als seinen ausschließlichen Besitz zu erklären wagte! Aber wenn diese Anmaßung dem Kaw-djer absurd und unglaublich vorkam, so wurzelte sie nichtdestoweniger tief und fest in diesen Köpfen, sie ließen sich davon nicht abbringen! Niemand war dazu zu bewegen, sich des wertlosesten Gegenstandes »aus seinem Besitze« zugunsten eines anderen zu entäußern, ausgenommen den Fall, daß er auf dem Tauschwege ein gleich wertvolles, gleich nützliches Objekt dafür erhielt. Es handelte sich dann immer um einen Verkauf. Das Wort »geben« schien aus ihrem Wörterbuche gestrichen und der Begriff aus ihrem Herzen. Der Kaw-djer dachte daran, was seine Freunde, die Feuerlands-Insulaner, die in Horden unstet die magallanischen Ländereien durchschweiften und nie etwas anderes als das nackte Leben besessen hatten, von solchen Theorien halten würden.
Bei diesen Wechselgeschäften, besser gesagt Verkäufen, die zu jeder Stunde abgehalten wurden, kam es vor, daß derjenige Teil, welcher den verlangten Gegenstand hergab, nicht durch eine Dienstleistung oder ein gleiches Wertobjekt bezahlt wurde. Dann wurde der Handel in klingender Münze abgeschlossen.
Der Kaw-djer bewunderte aufrichtig die anhaltende Herrschaft des Geldes. Dieses Metall hat doch nur einen angenommenen Wert, man kann es nicht essen, es schützt nicht gegen Frost und Nässe, und trotzdem wird es ebenso geschätzt, wenn nicht mehr, als die greifbaren Güter, die diese Vorteile besitzen. Welch ein sonderbares und wundervolles Phänomen! Die ganze Menschheit neigt sich, in ungetrübter Übereinstimmung, vor einer an und für sich ganz nutzlosen Materie, der nur das allgemeine Übereinkommen bestimmten Wert verleiht! Sind in diesem Falle die Menschen nicht wie unvernünftige Kinder, die in ihren Spielen mit der ernstesten Miene kleine Kieselsteine verkaufen, welchen ihre Einbildungskraft fabelhaften Wert verliehen hat? Und das Spiel würde ein rasches Ende nehmen, wenn eines der Kinder daran denken und erklären würde, daß die gedachten Kostbarkeiten doch nur wertlose Kieselsteine seien!
Der Kaw-djer leugnete nicht geradezu – die Berechtigung des persönlichen Eigentumes angenommen – die Bequemlichkeit, die aus der Annahme eines willkürlich bestimmbaren, repräsentativen Wertes erwuchs. Aber diese Annehmlichkeit brachte seiner Ansicht nach einen bedeutenden Nachteil mit sich, der durch alle Vorteile nicht aufgehoben werden konnte: Das Geld gestattet – bei Anerkennung eines individuellen Eigentumes – die fortwährende Formierung und Anhäufung von Einzelvermögen! Ohne den Besitz des Geldes wären die Menschen zwar in kleinlichen Verhältnissen, aber es würde nicht solch ungerechte Ungleichheit herrschen. Das gelbe Metall ist die Ursache, daß eine und dieselbe Persönlichkeit über Reichtum, Macht, Ansehen und Vergnügungen verfügt, während ungezählte andere, denen nur wenige Goldparzellen zugefallen sind, sich dem Szepter der Glücklicheren beugen müssen und für deren Vergnügungen zu sorgen haben, ohne daran teilnehmen zu können.
Aber darin irrte sich der Kaw-djer wohl. Das Geld ist nur Mittel zum Zweck, um das Streben nach Besitzvergrößerung, das in der Natur des Menschen liegt, zu unterstützen.
Mangels dieses Mittels hätte er ein anderes ausfindig gemacht, welches Vor- und Nachteile in eben demselben Verhältnis aufweisen würde. Jedenfalls wäre er auch dann gewesen, was er noch jetzt ist: ein wenig logisch veranlagtes, veränderliches Geschöpf, in dem sich zu ziemlich gleichen Teilen gute und böse Eigenschaften paaren.
Das waren einige der vielen hundert Ideen für und wider, denen der Kaw-djer nachgrübelte und die in seinem Kopfe herumstritten wie Soldaten auf einem Schlachtfeld. Die Zeiten waren vorüber, wo der Glaube auf das Recht der Menschen an unbeschränkte Freiheit ihm wie ein Dogma vorschwebte. Jetzt war er schwankend geworden in bezug auf seine freiheitlichen Grundsätze, den Nimbus unantastbarer Selbstverständlichkeit hatten sie ein für allemal eingebüßt. So weit war es mit ihm gekommen, daß er in seinem Inneren die Notwendigkeit der Autorität und einer gesellschaftlichen Hierarchie erwog!
Die kommenden Ereignisse waren ganz darnach angetan, ihm neuerliche Beweise zugunsten der Notwendigkeit einer Autorität zu bringen, als sie ihm zeigten, daß es unter den Menschen, wie unter Tieren, wahre Bestien gibt, deren gefährlichen Anlagen kein Spielraum gelassen werden darf. Solche Menschen würden – um ihren ungezügelten Leidenschaften fröhnen zu können – Schrecken und Tod um sich verbreiten, wenn das Gesetz ihnen nicht gebieterisch »Halt« entgegenriefe! Ein Drama dieser Art, um so schrecklicher, weil der Hunger, diese elementare Forderung eines jeden lebenden Organismus, die Triebfeder war, spielte sich gerade zu der Zeit in dem Häuschen ab, das Patterson in Gesellschaft Longs und Blakers bewohnte; dieser letztere hatte von der Natur jenen unstillbaren Appetit als trauriges Erbteil bekommen, der in der Pathologie mit dem Namen Bulismus bezeichnet ist.
Wie alle anderen hatte Blaker bei der Verteilung der Lebensmittel seinen vollen Anteil bekommen; aber dank seiner krankhaften Eßlust war er in weniger als zwei Monaten mit dem Quantum fertig, das auf das Auskommen während vier Monaten berechnet war. Der arme Teufel lernte wie früher – und mehr als früher – die Torturen des Hungers kennen. Wäre er weniger schüchterner Natur gewesen, so hätte er leicht ein Heilmittel für sein Leiden gefunden. Ein Wort der Bitte an den Kaw-djer oder Hartlepool hätte genügt, um ihm einen neuen Zuschuß der Nahrung zu erwirken. Aber der geistig nicht sehr begabte Blaker kam nicht auf diese einfache Lösung, die ihm als ein verwegenes Vorgehen erschien. Von Kindesbeinen an hatte er sich nur in den allerärmsten Kreisen bewegt, so daß ihn sein Elend nicht mehr in Erstaunen setzte; er kannte die mehr denn passive Resignation, welche die letzte Zuflucht aller Unglücklichen ist. Nach und nach hatte er die Gewohnheit angenommen, wie ein gefühlloser Strohmann allen höheren Gewalten zu gehorchen; er gab sich gar nicht mehr die Mühe, über deren Wesen nachzudenken und niemals wäre ihm die tollkühne Hoffnung gekommen, in irgendeiner Weise in der Art der Verteilung der Lebensmittel eine Veränderung herbeiführen zu wollen, denn auch diese Verteilung war das Endergebnis des Waltens höherer Mächte.
Lieber infolge der Entkräftung langsam sterben, als ein Wort der Klage laut werden lassen. Und dazu wäre es gekommen, hätte sich nicht Patterson seiner angenommen.
Dem Irländer war es nicht entgangen, mit welcher Schnelligkeit die dem Gefährten zur Verfügung gestellten Nahrungsmittel verschwanden und mit dieser Wahrnehmung sah er gleichzeitig die Möglichkeit eines vorteilhaften Handelsgeschäftes aufdämmern. Während Blaker mit Gier alles verschlang, sparte sich Patterson die Bissen vom Munde ab. Sein Geiz brachte ihn so weit, daß er kaum das Nötigste genoß und sich nicht schämte, die von den anderen weggeworfenen Reste zu sammeln.
Es kam der Tag, wo Blaker nichts mehr zu verzehren hatte. Auf diesen Augenblick hatte Patterson gewartet. Unter dem Deckmantel der Freundschaft bot er dem Gefährten einen Teil seiner Vorräte zum Verkaufe an; der Preis sollte nach gegenseitigem Übereinkommen bestimmt werden. Der Vorschlag wurde begeistert angenommen und der Handel ebenso schnell ausgeglichen als vorgeschlagen; er wiederholte sich des öfteren, so lange Blaker über Geld verfügte, wobei der Verkäufer unter dem Vorwand der sich immer mehr verringernden Lebensmittel mit dem Preise in die Höhe ging. Als Blakers Börse geleert war, änderte Patterson sein Benehmen. Er lieferte keinen Bissen mehr aus und blieb bei den flehentlichsten Blicken des Unglücklichen, den er zum Hungertod verurteilte, ganz ungerührt und erbarmungslos.
Blaker beklagte sich ebensowenig wie früher, für ihn gab es eben kein Entrinnen vor den feindlichen Gewalten. In einem Winkel zusammengekauert brachte er viele Stunden unbeweglich zu, die Hände auf den in Hungersqualen schmerzenden Magen gepreßt, in stummer Resignation; seine fürchterlichen Leiden standen in seinem schmerzverzogenen Gesichte zu lesen. Patterson betrachtete ihn mitleidslos. Was lag daran, wenn Blaker elend zugrunde ging; er besaß ohnehin nichts auf der Welt. Aber schließlich war der Schmerz mächtiger als die Resignation; nach achtundvierzig Stunden stummer Qual ging er wankend aus der Hütte, irrte im Lager umher und verschwand endlich ...
Als eines Abends der Kaw-djer in seine Ajoupa zurückkehrte, stieß sein Fuß im Dunkeln an ein Hindernis – es war ein ausgestreckter menschlicher Körper. Er beugte sich zu dem vermeintlichen Schläfer nieder und rüttelte ihn – die einzige Antwort war ein schmerzliches Stöhnen. Nachdem der Kaw-djer ihm eine stärkende Flüssigkeit eingeflößt hatte, erkundigte er sich:
»Was fehlt Ihnen?
– Ich habe Hunger,« antwortete Blaker mit schwacher Stimme.
Der Kaw-djer war starr.
»Hunger, wiederholte er, hat man Ihnen denn nicht wie allen anderen den Ihnen gebührenden Anteil an Mundvorrat gegeben?«
Da erzählte ihm Blaker mit stockender Stimme und in kurzen, abgebrochenen Sätzen seine traurige Geschichte. Er sprach von seiner Krankheit, die sich in unstillbarem Hunger äußerte; wie seine Vorräte vorzeitig zu Ende gewesen seien, auf welche Weise dann Patterson ihm zuerst ausgeholfen und warum er ihn seit drei Tagen habe verhungern lassen.
Der Kaw-djer hörte diesen unglaublichen Bericht in starrem Staunen an. Dieser Mensch hatte solch abscheuliche Handelsgeschäfte betrieben, trotz aller miterlebten Schreckenstage und Katastrophen solch einen empörenden Geiz zur Schau getragen? Ein Wucherer, welcher ihm geschenktes Gut um teueres Geld verkaufte, aller Scham bar, welcher sich erkühnte, erfrechte, mit dem Leben seiner Nächsten schnöden Handel zu treiben.
Der Kaw-djer behielt seine Empfindungen und sein Urteil für sich. Es war besser, die gemeine Gesinnung der Schuldigen totzuschweigen und unbestraft zu lassen, als durch Veröffentlichung des Vorgefallenen Unfrieden zu säen.
Er begnügte sich damit, Blaker einen neuen Vorrat verabfolgen zu lassen und ihm zu versichern, daß er in Zukunft so viel bekommen sollte, als er brauchen werde.
Aber der Name »Patterson« blieb seinem Gedächtnis eingeprägt und der Mensch, welcher diesen Namen trug, blieb für ihn das Prototyp der Verabscheuungswürdigkeit und seelischen Schlechtigkeit. Er verwunderte sich auch nicht mehr, als Halg drei Tage später denselben Namen in Verbindung mit einer ähnlichen, ebenso abscheuerregenden Geschichte nannte.
Der junge Mann kehrte von seinem täglichen Besuch bei Graziella zurück. Als er den Kaw-djer bemerkte, eilte er auf ihn zu.
– Ich weiß jetzt, sagte er ganz atemlos, wer Ceroni mit Alkohol versorgt.
– Endlich! sagte der Kaw-djer sehr befriedigt. Nun, und wer ist es?
– Patterson.
– Patterson! ...
– Ja, er ist es bestimmt. Ich habe vor wenigen Augenblicken selbst gesehen, wie er ihm Rum brachte. Jetzt verstehe ich, warum die beiden so gute Freunde sind.
– Irrst du dich gewiß nicht? fragte der Kaw-djer.
– Nein, ich bin meiner Sache sicher. Sehr merkwürdig finde ich, daß Patterson den Alkohol nicht herschenkt, sondern ihn um teueres Geld verkauft. Ich hörte den Streit mit an. Ceroni beklagte sich, daß alle seine Ersparnisse in Pattersons Taschen gewandert wären und er gar nichts mehr besäße. Der andere blieb die Antwort schuldig, schien aber nicht geneigt, die Lieferungen, da sie jetzt gratis geschehen müßten, fortzusetzen.«
Halg schwieg eine Weile, dann rief er zornig:
»Wenn Ceroni kein Geld mehr hat, ist er zu allem fähig. Was soll aus seiner Frau und Tochter werden?
– Es wird schon Rat geschafft werden, suchte ihn der Kaw-djer zu beruhigen, und nach kurzer Pause sagte er im Tone freundlichen Vorwurfes: Da wir nun einmal bei diesem Thema angelangt sind, bleiben wir dabei. Wenn ich auch nie darüber mit dir gesprochen habe, so sind mir deine Zukunftsträume nicht unbekannt. Wohin sollen sie dich führen, mein Junge?«
Halg schlug die Augen zu Boden und schwieg.
Der Kaw-djer fuhr fort:
»In kurzer Zeit, vielleicht schon in einem Monat, werden all diese fremden Menschen für immer aus unserem Leben verschwinden, Graziella so gut wie die anderen.
– Warum kann sie nicht bei uns bleiben? warf der junge Indianer ein und sah zum Kaw-djer empor.
– Und ihre Mutter?
– Ihre Mutter wird natürlich auch hier bleiben.
– Glaubst du, daß sie einwilligen wird, ihren Mann zu verlassen,« sagte der Kaw-djer.
Halg machte eine ungeduldige Bewegung.
»Sie muß einwilligen,« sagte er dumpf vor sich hin.
Der Kaw-djer schüttelte zweifelnd den Kopf.
»Graziella wird mir helfen, sie dazu zu bewegen. Sie hat schon ihren Entschluß gefaßt und sich für das Hierbleiben entschieden, wenn du es erlaubst. Sie ist des Zusammenlebens mit ihrem Vater müde und hat außerdem Furcht vor einigen der Emigranten.
– Furcht? wiederholte der Kaw-djer erstaunt.
– Ja. Vor allem fürchtet sie Patterson. Seit einem Monat verfolgt er sie auf Schritt und Tritt und den Rum hat er Ceroni hauptsächlich darum verkauft, um ihn für sich zu gewinnen. Seit ein paar Tagen kommt noch ein zweiter sie quälen, ein gewisser Sirk, einer von Doricks Anhängern. Dieser ist noch mehr zu scheuen!
– Was tut er denn?
– Graziella kann das Zelt nicht verlassen, ohne ihm zu begegnen. Er hat sie angesprochen und ist unhöflich gegen sie gewesen. Graziella hat ihm dies verwiesen, worauf er sie bedroht hat. Er ist ein gefährlicher Mensch. Graziella zittert vor ihm. Zum Glück bin ich da, um sie zu schützen.«
Der Kaw-djer lächelte innerlich über diesen Ausbruch jugendlicher Eitelkeit; er trachtete seinen Zögling zu besänftigen:
»Beruhige dich, Halg, beruhige dich! Warten wir den Tag der Abreise ab, dann werden wir wissen, wie die Sachen stehen und wie wir uns zu verhalten haben. Aber bis dahin bewahre deine gewohnte Kaltblütigkeit. Der Zorn ist nicht nur nutzlos, sondern direkt von Nachteil. Erinnere dich daran, daß Gewalt nie gute Folgen zeitigt und daß sie nur dann am Platze ist, wenn man angegriffen wird und sich verteidigen muß; aber auch nur dann ist sie zu entschuldigen.«
Dieses Gespräch vermehrte die Sorgenlast des Kaw-djer. Es paßte ihm nicht recht, daß Halg sich in das Abenteuer eingelassen hatte und das Auftauchen von Rivalen machte die Angelegenheit noch verwickelter, da sie die Eifersucht des ersteren wachrufen und zu unliebsamen Szenen führen konnte.
Was die Alkoholfrage anbelangte, so hatte die Entdeckung Halgs die Schwierigkeit nur auf ein anderes Feld gelenkt, ohne sie zu beheben. Man war Ceronis Lieferanten auf die Spur gekommen. Aber wie verschafft sich Patterson den Alkohol, mit dem er Handel trieb? Er kannte ja Pattersons gemeine Natur, vielleicht hatte er sich irgendwo einen geheimen Vorrat reserviert? Diese Vermutung hatte wenig Wahrscheinlichkeit für sich. Angenommen, es wäre ihm trotz der Strenge der gehandhabten Schiffsordnung und der Wachsamkeit Kapitän Leccars möglich gewesen, eine verbotene Fracht bei der Abreise einzuschmuggeln, wie hätte er sie bei dem Schiffbruch und nachher verborgen halten können? Nein, er stahl den Rum aus den Vorräten des »Jonathan«. Aber auf welchem Wege, da die Wachen Tag und Nacht an ihren Posten waren? Ob Ceroni oder Patterson der Dieb war, die Schwierigkeit blieb ungelöst.
Auch die folgenden Tage brachten keine Aufklärung in dieses Problem. Es ließ sich nur konstatieren, daß Lazare Ceroni genau wie früher tagtäglich ohne Ausnahme betrunken war.
Die Zeit verstrich und es kam der 15. September heran. An diesem Tage waren die Reparaturen der Wel-kiej beendet. Jetzt, wo das Meer sich wieder von der günstigen Seite zeigte, war sie wieder segeltüchtig.
Die Tage wurden länger und deuteten auf das Frühlingsäquinoktium hin. In einer Woche mußte der Winter seine Herrschaft abtreten. Aber ehe er den Platz räumte, zeigte er sich noch von der allerschlimmsten Seite; während einer Woche suchte ein so heftiger Orkan die Insel Hoste heim, daß alle seine Vorgänger dadurch in den Schatten gestellt und die Emigranten noch einmal genötigt wurden, den Schutz ihrer Behausungen, zum letzten Mal, aufzusuchen. Diesem Unwetter folgten die schönsten Tage und die schlummernde Natur begann allerorts zu erwachen.
Anfangs Oktober wurde das Lager von einigen Feuerländern besucht. Diese Eingebornen waren sehr erstaunt, auf der Insel Hoste eine so zahlreiche Bevölkerung anzutreffen. Der Schiffbruch des »Jonathan«, der sich zu Beginn der Wintermonate ereignet hatte, war tatsächlich den Indianern des Archipels nicht bekannt geworden. Zweifellos wurde die Nachricht jetzt um so schneller verbreitet.
Die Emigranten standen mit den Familien der Yacanas bald im allerbesten Einvernehmen und waren ihres Lobes voll. Ob diese dasselbe von den Auswanderern sagen konnten, bleibe dahingestellt. Einige der »Zivilisierten«, eine geringe Anzahl glücklicherweise, und dazu gehörten die Brüder Moore, glaubten ihre Superiorität über diese nichtssagenden »Wilden« in einem rohen, brutalen Benehmen zeigen zu müssen. Einer von ihnen ging sogar noch weiter und schämte sich nicht, sich von der Habsucht hinreißen zu lassen, daß er die armselige Habe dieses Wandervölkleins begehrte. Der Kaw-djer mußte sogar eines Tages einschreiten, als der Angstschrei einer jungen Feuerländerin ihn herbeirief, welche von Sirk – denselben, welchen Halg als »gefährlich« bezeichnet hatte – bedroht wurde. Der elende Feigling wollte ihr gewaltsam die Kupferringe entreißen, die sie am Handgelenk trug, in der Meinung, sie seien aus Gold. Barsch zurechtgewiesen, zog er sich fluchend zurück. Das war also ausgerechnet schon der zweite Emigrant, der sich offen als Feind des Kaw-djer bekannte.
Dieser hatte mit großer Freude dem Besuch seiner indianischen Freunde entgegengesehen. Es waren seine treuen Anhänger und aus ihrem ganzen Benehmen, ihrer Dienstfertigkeit, dem Ausdruck ihrer Dankbarkeit konnte man sehen, welch große Liebe – fast konnte man sagen »Anbetung« – sie dem Kaw-djer entgegenbrachten. Eines Tages – es war am 15. Oktober – sagte ihm Harry Rhodes, wie tief ihn das Gebaren dieser armen Leute bewegte.
»Ich begreife vollkommen, meinte er, daß Sie dieses Land, wo Sie soviel Gutes wirken, auch liebgewonnen haben, und daß Sie den Zeitpunkt herbeisehnen, wo Sie wieder zu diesen Stämmen zurückkehren können. Sie sind ja ein Gott für die Indianer!
– Ein Gott? unterbrach ihn der Kaw-djer, warum ein Gott? Auch ein Mensch kann viel Gutes tun?«
Harry Rhodes, ohne weiter darauf einzugehen, fügte nur noch hinzu:
»Gut, wenn Ihnen das zu viel gesagt ist, will ich meine Gedanken in anderer Form zum Ausdruck bringen: es hätte nur von Ihrem Gutdünken abgehängt, der König des Magalhães-Archipels zu werden, damals, als er noch unabhängig war.
– Die Menschen, auch wenn es nur Wilde sind, erwiderte der Kaw-djer, brauchen keinen Gebieter. Jetzt allerdings – haben die Feuerländer auch einen Gebieter« ...
Der Kaw-djer hatte die letzten Worte nur im Flüsterton ausgesprochen. Er schien heute noch mehr seinen Gedanken nachzuhängen als sonst. Die wenigen mit Harry Rhodos gewechselten Worte brachten ihm die Ungewißheit seiner Zukunft vor Augen, nach der Trennung von dieser so ehrlichen, lieben Familie, die den dem Menschen so natürlichen Trieb für Geselligkeit in ihm erst geweckt hatte. Welch großer Kummer mußte es für ihn werden, diese Frau scheiden zu sehen, deren aufopferndes Wesen und werktätige Nächstenliebe er zu bewundern Gelegenheit gefunden hatte, diesen offenen, ehrlichen Mann, welcher sein Freund geworden war, die beiden Kinder, Edward und Clary, die er liebgewonnen hatte. Auch die Familie Rhodes würde die Trennung sehr beklagen und schmerzlich empfinden. Ihr einstimmiger Wunsch war der, der Kaw-djer möchte ihnen in die neue afrikanische Heimat folgen, wo man ihn ebenso schätzen, lieben und verehren würde wie auf der Insel Hoste. Aber Harry Rhodes hatte wenig Hoffnung, ihn umstimmen zu können. Er erriet, daß nur wichtige Gründe einen Mann wie den Kaw-djer bestimmt haben konnten, mit der menschlichen Gesellschaft zu brechen; bisher war es ihm noch nicht gelungen, den Schlüssel zu dieser eigenartigen, geheimnisvollen Existenz zu finden.
»Jetzt haben wir den Winter auch überstanden, sagte Frau Rhodes, bemüht, dem Gespräch eine andere Wendung zu geben, und er war wirklich nicht allzu strenge.
– Und wir bestätigen, fügte Harry Rhodes, sich an den Kaw-djer wendend, hinzu, daß die klimatischen Verhältnisse dieser Region ganz mit der Beschreibung übereinstimmen, die uns unser Freund seinerzeit gegeben hat. Viele von uns werden mit aufrichtigem Bedauern von der Insel Hoste scheiden.
– Warum sollen wir überhaupt fortgehen? rief der junge Edward. Wir können ja auch auf magallanischem Boden eine Kolonie gründen.
– So, sagte Harry Rhodes lächelnd, und was fangen wir mit unserer Konzession am Oranje-Fluß an. Und wie lösen wir unsere Verpflichtungen gegen die »Gesellschaft für Kolonisation«? Und was wird aus dem Kontrakt mit der portugiesischen Regierung?
– Richtig, pflichtete ihm der Kaw-djer etwas ironisch bei, es gibt ja auch die portugiesische Regierung zu berücksichtigen! ... Hier käme übrigens die chilenische Regierung in Betracht. Die eine ist der anderen würdig.
– Vor neun Monaten aber ... begann Harry Rhodes ...
– Vor neun Monaten, unterbrach ihn der Kaw-djer, wären Sie auf freier Erde gestrandet; jetzt hat ihr ein verdammungswürdiger Vertrag die Unabhängigkeit gestohlen. –
Der Kaw-djer stand mit hocherhobenem Haupte und auf der Brust gekreuzten Armen da und ließ seine Blicke nach Osten schweifen, als hätte er das Schiff zu sehen erwartet, das, aus dem stillen Ozean kommend, die Spitze der Halbinsel Hardy umfahren mußte, das Schiff, das der Gouverneur von Punta-Arenas zu senden versprochen hatte.
Der vorherbestimmte Zeitpunkt war herangekommen. Schon hatte die zweite Hälfte des Monates Oktober begonnen und noch immer war kein Fahrzeug auf dem Meere zu erblicken.
Die Schiffbrüchigen gaben – und mit Recht – Zeichen der Unruhe ob dieser Verspätung. Zwar mangelte es ihnen an nichts. Für viele Monate hinaus reichten die Konservenschätze der Ladung des »Jonathan« noch aus. Aber die Emigranten waren eben noch nicht an ihrem Bestimmungsort angelangt, einen zweiten Winter wollten sie nicht mehr auf der Insel verbringen und schon wurden Stimmen laut, die davon sprachen, die Schaluppe nochmals nach Punta-Arenas zu schicken.
Während der Kaw-djer in Gedanken vertieft dastand, kamen Lewis Dorick und etwa zehn seiner gewöhnlichen Genossen, lärmend und herausfordernd vorüber, sie waren eben von einem Ausflug in das Innere der Insel zurückgekehrt. Sie hatten nie die feindliche Gesinnung verheimlicht, die sie für die sonst allgemein geachtete Familie Rhodes und den Kaw-djer hegten, trotzdem sie den großen Einfluß des letzteren nicht leugnen konnten. Harry Rhodes wußte es, auch dem Kaw-djer war diese Gesinnung kein Geheimnis.
»Diese Leute, sagte der erstere, würde ich ohne Bedauern hier zurücklassen. Von ihnen haben wir nichts Gutes zu erwarten. Sie werden in unserer neuen Niederlassung nur Unfrieden stiften. Sie wollen keine Autorität anerkennen und streben die Aufhebung aller sozialen Ordnung an. Als ob Ordnung und Autorität nicht ein naturgemäßes Erfordernis einer jeden Vereinigung von Menschen wäre!«
Der Kaw-djer antwortete nicht, vielleicht war er so in seine Gedanken vertieft, daß er die Worte gar nicht vernommen hatte, vielleicht wollte er auch nicht antworten.
So kehrte das Gespräch trotz aller Anstrengungen stets wieder zum selben Punkt zurück, immer kam die soziale Frage zur Verhandlung, über die man sich nie einigte.
Harry Rhodes, welchem das schweigsame Verhalten des Kaw-djer auffiel, bedauerte, so ungeschickterweise den wunden Punkte wieder berührt zu haben, als Hartlepool ins Zelt trat und die Gedanken in eine andere Richtung lenkte.
»Ich möchte mit Ihnen sprechen, Herr, sagte er zum Kaw-djer.
– Wir wollen nicht stören ... meinte Harry Rhodes.
– Sie stören durchaus nicht, sagte der Kaw-djer und fragte den Hochbootsmann:
– Was haben Sie mir mitzuteilen, Hartlepool?
– Ich wollte Ihnen nur sagen, daß ich wegen des Alkohols genau orientiert bin, antwortete er.
– Also ist es doch Rum aus den Vorräten des »Jonathan« gewesen, der Ceroni verkauft worden ist?
– Ja.
– Natürlich gibt es da Mitschuldige!
– Zwei, Kennedy und Sirdey.
– Täuschen Sie sich nicht?
– Jeder Irrtum ist ausgeschlossen.
– Welchen Beweis haben Sie?
– Diesen: Als Sie mir kürzlich von Patterson sprachen, bin ich mißtrauisch geworden. Ceroni ist nicht imstande, aus eigenen Mitteln einen Plan auszuhecken, aber Patterson ist ein durchtriebener Bursche. Ich habe ihn daher überwachen lassen ...
– Durch wen? unterbrach ihn der Kaw-djer mit gerunzelter Stirne, der Gedanke des Ausspioniertwerdens empörte ihn.
– Durch die beiden Schiffsjungen, erwiderte Hartlepool; die beiden sind nicht auf den Kopf gefallen und haben die Schuldigen herausgefunden. Sie haben gestern Kennedy und diesen Morgen Sirdey auf frischer Tat ertappt, als sie einen Augenblick der Unachtsamkeit des Kameraden, der mit ihnen die Wache teilte, rasch dazu benutzten, um ein Quantum Rum in die Feldflasche Pattersons zu gießen.
Die Erinnerung an das Martyrium Tullias und Graziellas und auch der Gedanke an Halg ließen den Kaw-djer auf seine Freiheitsideen vergessen.
»Das sind Verräter, sagte er, gegen die mit größter Strenge vorgegangen werden muß.
– Das ist auch meine Ansicht, pflichtete Hartlepool bei, und deshalb bin ich gekommen, Sie zu holen.
– Mich? ... Warum machen Sie nicht selbst das Nötige ab?«
Hartlepool schüttelte den Kopf als Mann, welcher seine Leute kannte.
»Seitdem es keinen »Jonathan« mehr gibt, habe ich nur die Autorität, die man mir gutwillig zuerkennt, erklärte er. Die beiden würden mich gar nicht anhören!
– Warum werden sie mich eher anhören?
– Weil sie Sie fürchten.«
Der Kaw-djer war sehr bestürzt über diese Antwort. Es gab Menschen, welche ihn fürchteten? Der Grund konnte nur in seiner Überlegenheit liegen. Immer dasselbe: Die Gewalt, die Überlegenheit als Basis der ersten gesellschaftlichen Beziehungen!
»Ich gehe hin,« sagte er mit düsterer Miene.
Er richtete seine Schritte nach dem Zelt, das die Ladung des »Jonathan« barg. Kennedy hatte gerade seine Wache angetreten.
»Sie haben das Vertrauen getäuscht, das man in Sie gesetzt hat ... sagte der Kaw-djer streng.
– Aber Herr ... stammelte Kennedy.
– Sie haben betrogen, fügte der Kaw-djer in kaltem Ton hinzu; von diesem Augenblick an gehören Sie und Sirdey nicht mehr zur Besatzung des »Jonathan«.
– Aber ... wollte Kennedy sich entschuldigen.
– Ich hoffe, Sie werden mich nicht zwingen, meine Worte zu wiederholen.
– Es ist schon gut, Herr ... es ist gut ... stotterte Kennedy, indem er respektvoll seine Mütze zog.
In demselben Augenblicke wurde hinter dem Kaw-djer eine Stimme laut:
»Mit welchem Recht erteilen Sie diesem Mann Befehle?«
Der Kaw-djer wandte sich um und erblickte Lewis Dorick, welcher in Gesellschaft Fred Moores Zeuge der Bestrafung Kennedys gewesen war.
»Und welches Recht haben Sie denn, mich ob meiner Handlungen zur Rechenschaft zu ziehen?« fragte er von oben herab.
Als Kennedy diese unerwartete Unterstützung kam, änderte er sein Benehmen, setzte seine Mütze auf und lachte frech vor sich hin.
»Wenn ich das Recht nicht habe, nehme ich es mir einfach, entgegnete Lewis Dorick. Wir dulden nicht, daß sich auf der Insel Hoste jemand zum Befehlshaber aufwirft.«
War es möglich? ... Dieser Mensch beschuldigte den Kaw-djer, den Befehlshaber spielen zu wollen!
»Nun ja, das ist ja so die Art und Weise des hohen Herrn, fiel Fred Moore ein, indem er besonderen Nachdruck auf das letzte Wort legte. Der Herr nimmt ja eine ganz andere Stellung ein als wir anderen Sterblichen; ist ja viel mehr als wir, er befiehlt, er trifft Entscheidungen ... Der Herr glaubt vielleicht, hier Kaiser zu sein?«
Der Kreis verdichtete sich um den Kaw-djer.
»Dieser Mann, sagte Dorick mit schneidender Stimme, braucht niemandem Gehorsam zu leisten. Wenn er will, kann er sich auch weiterhin zur Besatzung des »Jonathan« rechnen.«
Der Kaw-djer schwieg, aber er ballte die Faust, als seine Gegner einen Schritt näher an ihn herantraten.
Würde es zu einem Angriff kommen, würde er sich durch Zuhilfenahme roher Kraft verteidigen müssen. Er fürchtete die Feinde nicht. Es waren ihrer drei – auch zehn hätten ihn nicht erschreckt. Aber welche Schande, sich als denkendes Wesen derselben Verteidigungsmittel bedienen zu müssen wie das auf tiefer Entwicklungsstufe stehende Tier!
Aber diese Schmach blieb dem Kaw-djer erspart. Harry Rhodes und Hartlepool waren ihm gefolgt, bereit, im Notfalle helfend einzugreifen. Als sie sich von ferne näherten, verschwanden Dorick, Moore und Kennedy vom Schauplatz.
Traurig blickte ihnen der Kaw-djer nach – da tönten laute Rufe und Schimpfworte vom Flußufer herüber. Die drei Männer eilten nach dieser Richtung und trafen auf einen dichten Menschenknäuel, aus dessen Mitte fortgesetzt Schreie drangen. Fast alle Emigranten schienen an dieser Stelle versammelt zu sein und über den Köpfen der aufgeregten Menge sah man drohende Fäuste sich erheben.
Was war denn die Ursache dieser Aufregung, die fast wie Aufruhr aussah?
Es war keine Ursache vorhanden oder, besser gesagt, der Grund war ein so geringfügiger, weit hergeholter, daß keiner der Erregten ihn hätte anzugeben vermocht.
Vor sechs Wochen hatten die Zwistigkeiten mit einem Streit um ein Küchengerät begonnen. Eine der Frauen behauptete, es einer anderen geliehen, und diese beschwor hoch und teuer, es zurückgegeben zu haben. Wer von beiden recht hatte, vermochte niemand zu sagen.
Über diese hochwichtige Angelegenheit brach ein heftiger Streit zwischen den zwei Frauen los, sie schmähten so lange, bis ihnen buchstäblich der Atem ausging. Drei Tage später wurde er von neuem aufgenommen, in ernsterer Form diesmal, da die Männer der beiden Kriegführenden sich nun auch der Sache annahmen. Damals schon hatte man die eigentliche Ursache des Rechtsstreites vergessen gehabt, den Ursprung der Wortgefechte; aber die Feindseligkeit bestand nun einmal. Unter ihrem Einfluß, aus bloßem Bedürfnis, zu schaden, zu verletzen, hatten sich die vier Gegner gegenseitig alle auf der Welt existierenden Schlechtigkeiten zum Vorwurf gemacht, sich der gemeinsten Handlungen beschuldigt, indem sie die längst begrabene Vergangenheit aufwühlten und auch eine gelegentliche Erfindung nicht verschmähten.
Je grausamer eine derartige Entdeckung war, mit desto größerer Genugtuung erfüllte sie den Entdecker und jeder war stolz auf seine Geschicklichkeit, dem anderen wehe tun zu können. »Nun, und ich? ... Ihr habt ja gehört, wie ich ihm gesagt habe ...« Diese Form der Rede sollte in späteren Gesprächen gar oft Wiederholung finden.
Damit war das Scharmützel vorläufig auch beendet, aber die ruhelosen Zungen arbeiteten weiter. Die beiden Parteien klagten ihre Leiden ihren jeweiligen Freunden und gingen ganz regelrecht auf das progressive Vorgehen ein, so daß sie von spöttischen Bemerkungen zu böswilligen Einflüsterungen, Lästerungen und Verleumdungen kamen. Diese Gespräche wurden wieder den Interessenten zugetragen und das hatte den Sturm entfesselt. Die Männer waren handgemein und einer war zu Boden geworfen worden. Am folgenden Tage erachtete es der Sohn des Besiegten für seine Pflicht, den Vater zu rächen, es war zu einer zweiten, ernsteren Schlägerei gekommen als am Vortage. Die Mitbewohner der beiden Häuser, die die kriegführenden Parteien beherbergten, konnten der Versuchung, sich am Kampfe zu beteiligen, nicht widerstehen.
Der Krieg war jetzt offen erklärt und jede Gruppe machte lebhaft Propaganda, um Teilnehmer zu werben.
Jetzt gehörte die Mehrzahl der Emigranten zu dem einen oder dem anderen der beiden Feindeslager. Je mehr die Armeen anwuchsen, desto ernster wurde die Situation. Kein Mensch dachte mehr an die lächerliche Entstehungsursache der feindlichen Stimmung. Man stritt jetzt um die Entscheidung, wohin das kommende Schiff segeln sollte.
Sollte man wirklich nach dem unbekannten Afrika segeln? War es nicht vernünftiger, nach Amerika zurückzukehren. Die verschiedenen Meinungen und Auseinandersetzungen über diesen Punkt bildeten jetzt das Material des Streites. Welch einen gewundenen Pfad war man gewandelt, um von einem einfachen Küchengerät zu dieser wichtigen Debatte zu gelangen! Unergründliches Geheimnis! Außerdem war man überzeugt, daß die Meinungsverschiedenheiten sich stets um denselben Punkt gedreht hatten; jede der beiden Thesen wurde jetzt leidenschaftlich verfochten. Bei jeder Begegnung, beim Gruße, beim Scheiden fand sich immer Gelegenheit, dem Gegner, gleich spitzer Projektile, in aller Eile einige Gründe für und wider an den Kopf zu werfen, während die fünf Japaner, in einer friedlichen Gruppe einige Meter von der heftig agierenden Menge entfernt, in stummem Staunen nach ihren fieberhaft erregten Gefährten blickten.
Ferdinand Beauval war in gehobener Stimmung, er fühlte sich wieder so recht in seinem Fahrwasser – aber der Versuch, zu Worte zu kommen, war vergeblich. Er ging von einem zum anderen, er vervielfältigte sich – alles umsonst. Man hörte ihn nicht an. Kein Mensch gab sich die Mühe, auf den anderen zu hören. Es wurden viele Monologe gehalten, aber jede einzelne Gedankenäußerung verschmolz mit den anderen zu einem harmonischen Ganzen, dessen Tonstärke von Minute zu Minute anschwoll. Das Gewitter war nicht mehr weit, der Blitz mußte einschlagen. Der erste Faustschlag würde ipso facto alle Fäuste in Tätigkeit setzen und die Szene drohte in einen allgemeinen Faustkampf auszuarten ...
Ein kleiner Regen schlägt oft den stärksten Wind nieder – lautet ein Sprichwort, das hier Anwendung finden könnte. Ein einziger Mensch genügte, um diese überhitzten Köpfe zu beruhigen. Dieser Mensch, einer der Emigranten, welcher Seewölfe gejagt hatte, kam mit der äußersten Schnelligkeit, die seine Beine leisten konnte, herbeigelaufen zu der aufgeregten Menge. Und noch während des Laufens schrie er ihnen unter heftigen Gestikulationen, so laut er konnte, die Worte zu:
»Ein Schiff! ... Ein Schiff in Sicht!«