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Die Morgenröte des 31. März erstrahlte am östlichen Himmel, ohne daß der durch die Vorfälle der letzten Nacht heftig bewegte Kaw-djer ein Auge geschlossen hätte. Welch schreckliche Stunden lagen hinter ihm! Er hatte die menschliche Seele von ihrer schlechtesten und erhabensten Seite kennen gelernt, – Regungen ungezügelten Hasses und edelster Selbstlosigkeit beobachten können.
Ehe er sich mit den Schuldigen beschäftigte, hatte seine ganze Sorge den unglücklichen Opfern der Katastrophe gegolten. Zwei eiligst hergestellte Tragbahren hatten sie rasch ins Regierungsgebäude geschafft.
Als Sand völlig entkleidet auf seinem Lager lag, schien sein Zustand noch besorgniserregender. Es gab überhaupt keine Beine mehr – alles war Brei. Der Anblick dieses jungen, zermalmten Körpers war so herzbewegend, daß Hartlepool vom Schmerze übermannt wurde und dicke Tränen über seine von Wind und Wetter gebräunten Wangen herabkollerten.
Mit mütterlicher Zartheit verband der Kaw-djer diese Fleischfetzen und Knochensplitter. Sand konnte sich nie, nie wieder seiner Beine bedienen und war verdammt, bis zum letzten Lebenstage als Krüppel seine Tage zu verbringen. Daran war nichts zu ändern – wenn man nur eine Amputation vermeiden konnte, die bei diesem zarten Organismus sehr gefährlich sein mußte.
Als der Verband angelegt war, goß der Kaw-djer dem Kind einige stärkende Tropfen zwischen die farblosen Lippen; es stieß einige schwache Klagelaute aus und murmelte unverständliche Worte.
Dick, mit dem sich der Kaw-djer in zweiter Linie beschäftigte, schien gleichfalls in Lebensgefahr. Er lag mit geschlossenen Augen da, sein Gesicht war ziegelrot und von nervösen Zuckungen verzerrt, der Atem ging kurz und pfeifend; er hatte die Zähne fest zusammengebissen und ein heftiges Fieber schüttelte ihn. Als der Kaw-djer die verschiedenen Symptome wahrnahm, schüttelte er besorgt das Haupt. Wenn auch Dick im Besitze seiner gesunden Glieder war und weniger erschreckend aussah – sein Zustand war viel bedenklicher als bei Sand.
Als die beiden Kinder zu Bett gebracht waren, begab sich der Kaw-djer trotz der vorgerückten Stunde zu Harry Rhodes und setzte ihn von den jüngsten Ereignissen in Kenntnis. Harry Rhodes war entsetzt von dem Gehörten und gleich bereit, mit den Seinigen zu helfen. Es wurde bestimmt, daß Frau Rhodes mit Clary, Tullia und Graziella abwechselnd an den Schmerzenslagern der beiden Kinder wachen sollten, die jungen Mädchen bei Tage, die Mütter während der Nacht. Frau Rhodes übernahm die erste Nachtwache und ging gleich mit dem Kaw-djer fort.
Jetzt erst, nachdem das Notwendigste geschehen, suchte auch er einige Stunden der Ruhe, die ihm aber versagt bleiben sollten. Sein Herz wurde von zu vielen Eindrücken bestürmt und ein schweres Problem stand vor seinem Gewissen auf.
Von den fünf Mördern waren drei vom Tode ereilt worden. Wenn der eine, Sirdey, auch verschwunden war und im Inneren der Insel herumirrte, mußte er unbedingt gefunden werden, und der fünfte, Kennedy, erwartete im wohlverwahrten Kerker sein Todesurteil. Nachdem dieser Anschlag den Tod dreier Menschen, einen Fluchtversuch und die Lebensgefahr zweier Kinder zur Folge gehabt hatte, konnte er diesmal unmöglich totgeschwiegen werden. Auch wußten schon zu viele Personen darum, als daß das Stillschweigen bewahrt werden konnte. Also mußte gehandelt werden. Aber wie?
Die Handlungsweise dieser Menschen wies keinen gemeinsamen Zug mit der des Kaw-djer auf, aber sie waren von den gleichen Prinzipien ausgegangen. Diese Leute hatten, wie er selbst, großen Abscheu vor jeder Einschränkung ihrer Freiheit, vor jedem Zwang und wollten sich nicht fügen. Die Verschiedenheit des Temperamentes hatte das übrige getan. Sie wollten die Tyrannei vernichten, während er sich damit zufrieden gegeben hatte, sie zu fliehen. Ihr Freiheitsbedürfnis entsprang derselben Quelle, wenn es sich auch verschieden äußerte, und diese Männer waren schließlich nur Empörer, wie er selbst auch ein Empörer gewesen war. Er erkannte sich in mancher Hinsicht in ihnen wieder; hatte er jetzt, da er ihnen als der Stärkere überlegen war, ein Recht, sie zu bestrafen?
Kaum hatte sich der Kaw-djer erhoben, so begab er sich ins Gefängnis, wo Kennedy, auf eine Bank hingestreckt, die Nacht verbracht hatte. Er stand beim Eintritt des Gouverneurs auf; nicht genug mit diesem Beweise seiner Achtung, er nahm auch die Mütze ab. Dazu mußte der ehemalige Matrose beide Hände gleichzeitig aufheben, weil sie durch eine kurze, starke Kette gefesselt waren. Dann wartete er, mit gesenkten Blicken, auf das Kommende.
Kennedy sah so wie ein in der Falle gefangenes Tier aus. Um ihn herum war Luft, Raum, Freiheit ... Jetzt hatte er kein Anrecht mehr auf diese natürlichen Güter der Menschheit; er hatte andere Menschen darum berauben wollen und jetzt beraubten ihn diese anderen Menschen.
Sein Anblick war dem Kaw-djer unerträglich.
»Hartlepool!« rief er, zum Posten gewendet.
Hartlepool erschien.
»Nehmen Sie ihm die Kette ab! sagte er und deutete auf die gefesselten Hände des Gefangenen.
– Aber, Herr ... begann Hartlepool.
– Ich bitte! ... unterbrach ihn der Kaw-djer in einem Ton, der keine Widerrede duldete.
Als Kennedy frei war, redete er ihn an:
»Du hast mich töten wollen. Warum? fragte er.
Kennedy, ohne die Augen aufzuschlagen, zuckte die Achseln, wandte sich linkisch nach allen Seiten, drehte seine Mütze verlegen zwischen den Fingern und wollte durch diese Gebärdensprache andeuten, daß er es nicht wisse.
Der Kaw-djer betrachtete ihn einen Augenblick schweigend, dann öffnete er die ins Polizeizimmer führende Türe und sagte:
»Du kannst gehen!«
Kennedy sah ihn ungläubig an.
»Du kannst gehen!« wiederholte er ruhig.
Ohne sich nochmals bitten zu lassen, eilte der Matrose mit gekrümmtem Rücken hinaus. Hinter ihm schloß der Kaw-djer die Türe und begab sich zu den kleinen Kranken, während er Hartlepool seinem Erstaunen überließ.
Der Zustand Sands war der gleiche, aber mit Dick stand es bedeutend schlechter. Er lag im schweren Delirium, warf sich aufgeregt auf seinem Lager hin und her und sprach wirres Zeug. Jeder Zweifel war ausgeschlossen, das Kind hatte eine Gehirnhautentzündung in so bedenklichem Grade, daß ein letaler Ausgang nicht ausgeschlossen war. Die gewöhnliche Behandlung konnte hier nicht angewendet werden. Wo hätte man Eis hergenommen, um seine glühende Stirne zu kühlen? So weit war der Fortschritt auf der Insel Hoste noch nicht gediehen, daß außer dem Winterhalbjahr Eis zu haben gewesen wäre.
Dieses Eis, dessen Mangel der Kaw-djer sehr beklagte, sollte die Natur in Bälde in unverhofften Mengen liefern. Der folgende Winter zeichnete sich durch außerordentliche Strenge aus und kam sehr früh ins Land. In den ersten Apriltagen begann er mit heftigen Stürmen, die während eines Monates ununterbrochen wüteten. Diesen Stürmen folgte unmittelbar ein plötzliches Sinken der Temperatur, das mit so ausgiebigen Schneefällen verbunden war, wie sie der Kaw-djer noch niemals in diesen Breiten erlebt hatte, seitdem er sein Heim im Magalhães-Archipel aufgeschlagen hatte. So weit es in der Macht der Menschen lag, kämpften sie tapfer gegen den Schnee an, aber im Juni fielen die weißen Flocken in so dichten Ballen, daß sie sich für besiegt erklärten. Trotz aller Anstrengungen erreichte die Schneedecke eine Höhe von mehr als drei Metern und Liberia war wie mit einem weißen Leichentuch bedeckt. Anstatt der Türen bediente man sich der Fenster der ersten Stockwerke. In den niederen Häusern wurde ein Loch im Dache angebracht, das als Ausgang diente. Das öffentliche Leben stand natürlich still und die gesellschaftlichen Verbindungen waren auf ein Minimum beschränkt, das zum Lebensunterhalt der einzelnen unbedingt notwendig war.
Diese strenge Klausur hatte natürlich üble Folgen für den Gesundheitszustand. Wieder brachen einige epidemische Krankheiten aus und der Kaw-djer mußte dem einzigen Arzte auf der Insel, welcher nicht mehr genügte, zu Hilfe kommen.
Zum Glück für seine Seelenruhe brauchte er jetzt weder für Sand noch für Dick ängstlich besorgt zu sein. Von den beiden war Sand der erste, welcher seiner Heilung zusteuerte. Schon zehn Tage nach dem Vorfall, dem er zum Opfer gefallen war, konnte ihn der Kaw-djer außer Gefahr erklären und mit Bestimmtheit sagen, daß keine Amputation zu befürchten stand. Während der folgenden Tage machte die Vernarbung rasche Fortschritte, mit jener Schnelligkeit, welche das Vorrecht der jungen Gewebe ist. Nach zwei Monaten durfte Sand das Bett verlassen.
Das Bett verlassen? ... Der Ausdruck ist nicht glücklich gewählt. Sand konnte nicht, wird niemals sein Bett verlassen, noch sich jemals ohne fremde Hilfe bewegen können. Seine abgestorbenen Beine konnten nie wieder den Körper tragen, der für immer zur Unbeweglichkeit verdammt war.
Den kleinen Knaben schien dieser Umstand nicht übermäßig zu betrüben. Das erste Wort, als er zum Bewußtsein erwachte, war eine Frage nach Dicks Ergehen, für den er sich so heldenmütig geopfert hatte. Er dachte nicht daran, sich zu beklagen. Ein leises Lächeln erhellte sein bleiches Gesichtchen, als man ihm versichert hatte, daß Dick heil und gesund sei; aber das genügte ihm bald nicht mehr; als ihm die Kräfte zurückkamen, verlangte er mit eigensinniger Beharrlichkeit nach seinem Freunde.
Lange konnte man seinen Wunsch nicht erfüllen. Länger als einen Monat lag Dick im Delirium. Seine Stirne glühte, rauchte fast, trotz des Eises, das der Kaw-djer jetzt zur Verfügung hatte. Als dann diese Sorgenzeit vorbei war, fühlte sich der Kranke so schwach, daß sein Leben wieder gefährdet schien und nur an einem dünnen Faden hing.
Aber von diesem Tage an machte die Rekonvaleszenz auch bei ihm rasche Fortschritte. Die beste Arznei war für ihn die Kunde, daß Sand gerettet worden war. Bei dieser Freudenbotschaft verklärte sich Dicks Gesicht mit einem fast himmlischen Glanze und er schlief diese Nacht – die erste seit langer Zeit – einen ruhigen, gesunden Schlaf.
Am nächsten Morgen durfte er mit Sand sprechen, welcher nun auch überzeugt war, daß man ihn nicht betrogen hatte, und von aller Sorge befreit war. Sein persönliches Unglück schien ihn nicht weiter zu berühren. Jetzt, da er über das Schicksal Dicks beruhigt war, verlangte er nach seiner Geige und als er das geliebte Instrument in den Armen hielt, war er ganz beglückt.
Einige Tage später mußte den Bitten der beiden Kinder nachgegeben werden; man ließ sie ein Zimmer teilen. Jetzt vergingen die Stunden mit der Schnelligkeit eines Traumes. Ihre kleinen Betten waren nebeneinandergestellt. Dick las, während sein Freund die Geige spielte, und dann sahen sie sich wieder an, wenn sie ausruhen wollten. Sie fühlten sich vollkommen glücklich.
Es war ein trüber Tag, als Sand zum ersten Male das Bett verließ. Der Anblick seines verstümmelten Freundes versenkte Dick, welcher schon seit einer Woche herumging, in ein Meer von Traurigkeit. Der Eindruck, den er davontrug, war ebenso niederdrückend als dauernd. Als ob ihn ein Zauberstab berührt hätte, war er mit einem Male verwandelt, ernster, überlegender, weniger keck und streitlustig.
Man war im Anfang des Monates Mai; das war die Zeit, als der Schnee die Bewohner von Liberia in ihre Häuser blockierte. Einen Monat später hatte man die kälteste Zeit dieses kalten Winters zu ertragen, vor dem Frühling war kein Tauwetter mehr zu erhoffen.
Der Kaw-djer war bemüht, die entnervenden Folgen dieser langen Einsperrung zu bekämpfen.
Er organisierte Spiele im Freien. Durch eine Ausgrabung im Ufer des Flusses – eine Arbeit, die viele Arme in Bewegung gesetzt hatte – hatte man dem unter dem Eise befindlichen Wasser einen Abfluß verschafft; es ergoß sich über den Sumpf und so war ein Platz zum Schlittschuhlaufen geschaffen, der nicht herrlicher erdacht werden konnte. Die Anhänger dieses in Amerika so beliebten Sports konnten sich dem Vergnügen nach Herzenslust hingeben. Für die anderen wurde das Fahren mit Schneeschuhen ausgedacht oder Schlittenfahrten längs der Abhänge der im Süden gelegenen Hügel in Szene gesetzt.
Bei diesen Sportübungen härteten sich die Hostelianer ab und gewöhnten sich an den strengen Winter. Sie hatten auf die fröhliche Stimmung und die gesundheitliche Lage den denkbar günstigsten Einfluß. So kam der 5. Oktober heran und mit diesem Tage setzte Tauwetter ein. Der Schnee, der die längs der Meeresküste sich hinziehende Ebene bedeckte, schmolz zuerst. Am folgenden Tage begann auch die Decke, die Liberia begraben hatte, zu schmelzen; bald waren die Straßen in reißende Bäche verwandelt, während der Fluß seine Eisdecke sprengte.
Nachdem sich diese Gewässer verlaufen hatten, begann es auf den Bergen zu tauen und wieder rollten schlammige Wasserströme durch die Straßen; als dann auch im Inneren der Insel der Prozeß sich fortsetzte, stieg der Fluß rasch an. In vierundzwanzig Stunden hatte er die Höhe seiner Ufer erreicht, bald würden sich die Wassermengen über die Stadt ergießen. Das mußte verhindert werden, wenn nicht das Werk so vieler Tage zerstört werden sollte.
Der Kaw-djer bot alle Arme auf. Ein Heer von Wegarbeitern warf einen Damm auf, der die Form eines Winkels hatte und die Stadt beschützen sollte. Der eine Schenkel dieses Winkels verlief in schiefer Richtung gegen die südlichen Anhöhen, während der andere dem Laufe des Flusses folgte, jedoch in ziemlicher Entfernung. Einige Häuser, darunter dasjenige Pattersons, die dem Ufer zu nahe lagen, konnten nicht in den Schutz mit einbezogen werden. Dieses notwendige Opfer mußte gebracht werden.
Tag und Nacht wurde an dem Damm gearbeitet und in vierundzwanzig Stunden war er vollendet. Es war höchste Zeit. Aus dem Inneren der Insel nahte dem Meere eine wahre Sintflut. Der Damm zerteilte diese riesige Wasserfläche, zur Hälfte wurde sie gezwungen, sich dem Fluß zuzuwenden, der andere Teil mußte ins Meer abfließen.
Nach wenigen Stunden war Liberia eine Insel in einer Insel geworden. Nach allen Seiten war nichts zu sehen als Wasser, aus dem im Osten und Süden Berge aufstiegen und im Nordwesten die Häuser von Neudorf, die durch ihre hohe Lage geschützt waren. Jede Verbindung war abgeschnitten. Zwischen der Stadt und ihrem Vorort tosten brüllend die entfesselten Fluten des Flusses.
Auch acht Tage darnach machte die Überschwemmung noch keine Miene, zu fallen; da ereignete sich ein höchst betrübender Vorfall. Beim Hause Pattersons stürzte plötzlich die durch den wütenden Wogenanprall unterminierte Uferstelle ein und das Haus des Irländers verschwand in den Fluten. Dieser selbst und Long wurden von den unwiderstehlichen Wasserwirbeln verschlungen.
Gleich zu Beginn des Tauwetters war Patterson aufgefordert worden, seine Wohnung zu verlassen; er hatte sich energisch geweigert. Auch dann hatte er nicht nachgegeben, als er sich aus dem Schutzkreis des Dammes ausgeschlossen sah, ebensowenig, als die tiefer gelegenen Teile seines Feldes unter Wasser standen. Und er blieb bei seiner eigensinnigen Weigerung, als dieses die Schwelle seines Hauses erreicht hatte.
In wenigen Sekunden, unter den Augen einiger Zuschauer, welche von der Höhe des Dammes aus diese Szene ansehen mußten, ohnmächtig zu helfen, waren das Haus und seine Bewohner verschwunden.
Dieser doppelte Mord schien den Zorn der Elementargewalten besänftigt zu haben, das Wasser begann jetzt langsam zu fallen und am 5. November, genau einen Monat nach dem Eintritt des Tauwetters, war der Fluß wieder auf sein altes Bett beschränkt.
Aber welche Verwüstungen hatte das Naturereignis zur Folge! Die Straßen Liberias waren von tiefen Furchen durchzogen, als ob der Pflug über sie hingegangen wäre. Von den kleineren Gassen blieb oft nicht eine Spur zurück; eine dichte Schlammschicht machte die einen unkenntlich, andere waren wie vom Erdboden verschwunden.
Zunächst ging man daran, die Verbindung mit Neudorf wieder herzustellen. Nachdem diese Straße mitten durch das Sumpfland führte, hatte sie am meisten unter der Zerstörungswut des Wassers gelitten. Sie war erst, als letzte von allen Verkehrsadern, nach drei Wochen so weit, daß sie wieder betreten werden konnte.
Zur größten Überraschung war der erste Mensch, welcher sie benützte – Patterson! Die Fischer von Neudorf hatten ihn bemerkt, als er, verzweiflungsvoll an ein Stück Holz geklammert, mit rasender Geschwindigkeit dem Meere zutrieb, und ihn herausgezogen. So war der Irländer mit dem bloßen Schrecken, sonst aber gesund und heil davongekommen. Long wurde nicht vom gleichen Glück begünstigt. Alle Mühe, seinen Körper aufzufinden, war vergebens.
Diese Aufklärungen gaben später die Fischer von Neudorf; Patterson ließ auch nicht ein Wort fallen, sondern begab sich geradewegs nach der Stelle, wo sein verunglücktes Haus gestanden war. Als er sah, daß auch nicht ein Balken davon stehen geblieben war, packte ihn die Verzweiflung. Mit ihm war alles verschwunden, was er auf dieser Welt sein eigen nannte. Alles, was er auf die Insel Hoste mitgebracht, was er hier angehäuft hatte, die Früchte angestrengter Arbeiten, ungezählter Entbehrungen, mitleidloser Härte gegen sich selbst und andere – alles war auf immer verloren. Nichts mehr blieb ihm übrig. Er, der das Geld über alles liebte, dessen einzige Leidenschaft in seinem Besitz, dem steten Anhäufen dieses kostbaren Gutes bestand, er war jetzt der ärmste unter den Armen, die ihn umgaben. Mittellos stand er da, bar an allem, so, wie er auf die Welt gekommen war; er mußte das Leben von vorne beginnen.
Seine Verzweiflung war groß und ehrlich, aber er ließ kein Wort der Klage laut werden. Schweigend überlegte er zunächst, die finsteren Blicke auf den Fluß gerichtet, der ihm alles entrissen hatte; dann suchte er ohne Zögern den Kaw-djer auf. Mit fast demütiger Höflichkeit, nachdem er sich wegen der Störung, die er verursachen müsse, entschuldigt hatte, erklärte er dem Kaw-djer, daß die Überschwemmung, nachdem sie ihm fast das Leben gekostet, ihn dem entsetzlichsten Elend preisgab.
Der Kaw-djer, dem der Bittsteller den heftigsten Widerwillen einflößte, antwortete in kaltem Tone:
»Das ist sehr bedauerlich, aber was kann ich in dieser Sache tun? Wollen Sie eine Unterstützung?«
Als Gegenstück zu seinem unstillbaren Geiz verfügte Patterson über eine gehörige Portion Stolz. Niemals in seinem Leben hatte er noch gebettelt. Wenn er auch in der Wahl seiner Mittel ohne alle Skrupel gewesen war, so hatte er doch dem Leben bis jetzt allein die Stirne geboten und sein langsam anwachsendes Vermögen hatte er nur sich allein verdankt.
»Ich brauche kein Almosen, sagte er und richtete seine zusammengesunkene Gestalt auf, aber ich verlange Gerechtigkeit.
– Gerechtigkeit? ... wiederholte der Kaw-djer erstaunt. Gegen wen rufen Sie den Rechtsschutz an?
– Gegen die Stadt Liberia, antwortete Patterson; gegen den hostelischen Staat!
– Ja, warum denn?« fragte der immer mehr erstaunte Kaw-djer.
Patterson hatte jetzt wieder seine unterwürfige Haltung angenommen und erklärte seinen Gedankengang in süßlichen Ausdrücken. Nach seiner Meinung war die Kolonie verantwortlich für sein Unglück; erstens, weil es sich um ein Elementarereignis, ein alle betreffendes Unglück handelte, dessen Schäden von allen zu gleichen Teilen getragen werden sollten, zweitens weil der Staat sich einer groben Gewissenlosigkeit schuldig gemacht habe, indem er den Damm nicht dicht am Flußufer verlaufen ließ, wodurch alle Häuser ohne Ausnahme beschützt worden wären.
Der Kaw-djer versuchte ihm zu beweisen, daß seine Anklagen auf Einbildungen beruhten; wäre der Damm unmittelbar am Ufer des Flusses erbaut worden, so wäre er gleichzeitig mit diesem eingestürzt und die ganze Stadt wäre von den hereinbrechenden Wasserfluten zerstört worden; Patterson wollte nicht Vernunft annehmen und beharrte steif und fest auf seiner Anklage. Doch die Geduld des Kaw-djer ging zu Ende und er brach die erfolglose Unterredung kurzweg ab.
Patterson machte auch keinen Versuch, sie in die Länge zu ziehen. Er begab sich sogleich zu den Hafenbauten an die Arbeit. Sein Leben war zerstört, er mußte es wieder aufbauen und hatte keine Stunde dabei zu verlieren.
Der Kaw-djer hielt die Angelegenheit für abgetan und gab sich keinen Augenblick länger damit ab. Am folgenden Morgen wurde er eines Besseren belehrt. Nein! Die Sache war nicht beigelegt, das bewies die Klage, die bei Ferdinand Beauval vorgebracht worden war. Der Irländer hatte schon einmal erfahren, daß es eine Gerechtigkeit auf der Insel Hoste gab, jetzt nahm er ein zweites Mal seine Zuflucht zu ihr.
Ob man wollte oder nicht, die Verhandlungen mußten ihren Lauf nehmen, aber Patterson verlor natürlich. Er äußerte in keiner Weise die Enttäuschung, die ihm zuteil geworden und ertrug schweigend die Stichelreden, die man dem allgemein unbeliebten Manne zu hören gab; als das Urteil gesprochen war, begab er sich ruhig an seinen Arbeitsposten.
Aber es gärte in seiner Seele. Bisher hatte er die Welt in zwei Lager eingeteilt; in dem einen stand er, allein, in dem anderen die übrige Menschheit. Für ihn hatte es sich immer nur darum gehandelt, so viel Gold als möglich aus dem zweiten Lager in das erste fließen zu machen. Das bedingte ein fortgesetztes Ringen – aber keinen Haß. Der Haß ist eine unfruchtbare Leidenschaft: seine Zinsen werden nicht in gangbarem Gelde fällig. Der echte Geizhals kennt ihn nicht. Aber jetzt haßte Patterson! Er haßte den Kaw-djer, welcher sich geweigert hatte, ihm Gerechtigkeit widerfahren zu lassen; er haßte alle Hostelianer, welche so sorglos das Produkt jahrelanger Mühen und Plagen hatten verschwinden lassen.
Diesen Haß verschloß Patterson sorgsam in sein innerstes Sein, in diese finstere Seele, welche der Entwicklung böser Gelüste einen so günstigen Boden lieferte; dort schlug der Haß Wurzeln und sollte emporblühen und erstarken. Vorläufig war der Irländer noch machtlos gegen seine Feinde. Aber die Zeiten konnten sich ändern ... Er wartete geduldig.
Der größte Teil der schönen Jahreszeit mußte zum Ausbessern der durch die Überschwemmung hervorgerufenen Schäden benützt werden. Und schon im Monat Februar war keine Spur der fürchterlichen Verheerungen übriggeblieben.
Der Kaw-djer durchstreifte inzwischen wieder seiner Gewohnheit nach die ganze Insel nach allen Richtungen hin. Jetzt war ihm dies leichter möglich, denn er war beritten, nachdem hundert Pferde eingeführt worden waren. Während dieser Ritte erkundigte er sich manchmal nach Sirdey, er konnte nur spärliche und ungenaue Nachrichten von ihm erhalten. Nur wenige Kolonisten wußten über den Verbleib des ehemaligen Kochs des »Jonathan« irgendetwas anzugeben. Man erinnerte sich, ihn während des Herbstes gesehen zu haben; er war damals nach Norden gewandert, aber was aus ihm geworden war, wußte niemand zu sagen.
Im letzten Monat des vergangenen Jahres brachte ein Schiff die zweihundert Gewehre, die nach Doricks erstem Attentat bestellt worden waren. Jetzt war der hostelische Staat im Besitze von ungefähr zweihundertundfünfzig Feuerwaffen, ohne diejenigen mitzurechnen, die sich einige Kolonisten privatim verschafft haben konnten.
Einen Monat später, zu Anfang des neuen Jahres, wurde die Insel Hoste von einigen feuerländischen Familien besucht. Wie jedes Jahr, kamen diese armen Indianer, ihren »Wohltäter« – das war ja die Bedeutung des indianischen Wortes »Kaw-djer« – um Rat und Hilfe zu bitten. Wenn er sie auch verlassen hatte, sie vergaßen ihn und alle Beweise seiner Güte und Aufopferung nicht.
Aber so groß die Liebe der Feuerländer zu ihrem Kaw-djer war, er hatte niemals auch nur einen einzigen bestimmen können, sich auf der Insel Hoste dauernd niederzulassen. Diese Volksstämme lieben die Unabhängigkeit zu sehr, um sich durch Regeln und Gesetze binden zu lassen. Für sie gibt es keine irdischen Güter, die wert wären, gegen die Freiheit umgetauscht zu werden. Ein Haus besitzen bedeutete schon für sie – Sklaven sein. Wirklich frei ist nur der Mensch, welcher über gar nichts verfügt. Darum zogen sie der Sicherheit des kommenden Tages ihre abenteuerlichen Wanderungen vor, die ihnen meist nur ungenügende, unsichere Nahrung boten.
Dieses Mal war es dem Kaw-djer zum ersten Male gelungen, drei Indianerfamilien zu bewegen, ihre Zelte auf der Insel Hoste aufzuschlagen und ein seßhaftes Leben zu versuchen. Diese drei Familien, die intelligentesten unter denen, die den Archipel durchstreiften, ließen sich am linken Flußufer zwischen Liberia und Neudorf nieder; ihre kleine Niederlassung wurde der Köder, der in der Folge viele indianische Dörfer in der Nähe erstehen ließ.
Dieser Sommer brachte noch zwei nennenswerte Ereignisse mit sich.
Das eine betraf Dick.
Seit dem 15. Juni konnten die Kinder als geheilt angesehen werden. Dick besonders war ganz gesund, und wenn er auch sehr abgemagert war, so würde sich dieser Zustand bald geben in Anbetracht des gewaltigen Heißhungers, den er an den Tag legte.
Auch Sands Gesamtbefinden gab zu keinen Besorgnissen mehr Anlaß und sonst war nichts zu machen, denn die Wissenschaft war ohnmächtig, zu verhindern, daß er bis an sein Lebensende unbeweglich verharren mußte. Der arme Krüppel nahm übrigens dieses unabwendbare Unglück mit großer Seelenruhe auf. Die Natur hatte ihn mit Sanftmut begabt und er neigte so wenig zur Revolte, als Dick Anlage dazu besaß. Jetzt half ihm diese Sanftmut über vieles hinweg. Er bedauerte nicht, auf die tollen Spiele von einst verzichten zu müssen – er hatte mehr aus dem Grunde daran teilgenommen, anderen eine Freude zu bereiten, anstatt sich selbst zu belustigen. Dieses Leben eines Einsiedlers behagte ihm, würde ihm immer gefallen, wenn man ihm nur seine Geige ließ und sein Freund Dick in der Nähe war, wenn das Instrument einmal ausnahmsweise schwieg.
Und er brauchte sich in dieser Beziehung nicht zu beklagen, Dick war stets als Krankenwärter zur Hand. Er hätte niemanden zugelassen, um Sand zu helfen, das Bett zu verlassen und den Armstuhl zu erreichen, auf dem dieser seine Tage verbrachte. Dann blieb er bei dem armen Krüppel, achtete auf den leisesten Wunsch, bewies eine unerschütterliche Geduld, deren ihn früher niemand für fähig gehalten hatte.
Der Kaw-djer beobachtete dies Treiben mit großer Rührung. Während der langen Krankheit der Kinder hatte er sie mit Muße studieren können und sie herzlich liebgewonnen. Aber Dick interessierte ihn lebhaft, abgesehen von der väterlichen Zuneigung, die er für ihn empfand. Tag für Tag hatte er beobachten können, welch treue Seele Dick war, welch ausgeprägtes Zartgefühl er zur Schau trug und welch lebhaften Verstand der Knabe zeigte; und bald beklagte er, daß so seltene Geistes- und Herzensgaben fruchtlos bleiben sollten.
Von dieser Idee durchdrungen, beschloß er, dieses Kind zum Erben seiner Kenntnisse einzusetzen und ihn in die verschiedenen Zweige menschlicher Tätigkeit einzuweihen. Dasselbe hatte er für Halg getan. Aber bei Dick waren andere Resultate zu erwarten. Auf diesem durch eine lange Reihe zivilisierter Vorfahren begünstigten Erdreich würde der Same leichter Wurzel fassen, unter der einzigen Bedingung, daß Dick die außerordentlichen Gaben, mit denen ihn die Natur bedacht hatte, auch anwenden wollte.
Gegen Ende des Winters hatte der Kaw-djer mit der Rolle des Erziehers begonnen. Eines Tages nahm er Dick mit sich und sprach ihm zu Herzen:
»Jetzt ist Sand geheilt, sagte er, als beide allein auf dem Felde standen, aber er wird sein Leben lang ein Krüppel bleiben. Du darfst nie vergessen, mein Kind, daß er dein Leben retten wollte und dabei seine Beine opferte.«
Dick blickte den Kaw-djer schon mit tränennassen Augen an. Warum sagte das der Gouverneur? Was er Sand verdankte, konnte er ja nie, nie vergessen.
»Aber es steht dir ein Weg offen, ihm zu danken, nahm der Kaw-djer wieder das Wort. Du mußt ein so guter Mensch werden, daß du dich dieses Opfers würdig zeigst, du mußt das Leben dir und den anderen nützlich machen. Bisher warst du ein Kind. Jetzt mußt du daran denken, ein Mann zu werden.«
Dicks Augen strahlten; er verstand diese Sprache.
»Was soll ich tun, Gouverneur? fragte er.
– Arbeiten, antwortete der Kaw-djer ernst. Wenn du mir versprichst, dir Mühe zu geben, fleißig zu sein, will ich selbst dein Lehrer sein. Die Wissenschaft ist eine neue Welt für dich und wir werden sie zusammen erforschen!
– Ach! ... Gouverneur«! ... stammelte Dick, unfähig, ein anderes Wort hervorzubringen.
Der Unterricht begann sogleich. Jeden Tag widmete der Kaw-djer seinem Schüler eine Stunde. Dann lernte Dick bei Sand so fleißig, daß seine Fortschritte seinen Lehrer in Erstaunen setzten. Diese Stunden vollendeten in Dicks Wesen jene Umwandlung, die mit Sands Unglück begonnen hatte. Jetzt dachte er nicht mehr daran, »Löwe« oder »Restaurant« noch ein anderes Kinderspiel zu spielen. Das Kind war untergegangen im werdenden Manne, welcher durch den Schmerz frühreif geworden war.
Das zweite wichtige Ereignis war die Hochzeit Halgs mit Graziella Ceroni; Halg zählte jetzt zweiundzwanzig Jahre und Graziella zwanzig.
Diese Hochzeit war nicht die erste, die auf der Insel gefeiert worden war. Gleich bei seinem Regierungsantritt hatte der Kaw-djer die Zivilehe eingeführt und diese Bestimmung hatte in den im heiratsfähigen Alter stehenden jungen Leuten den Wunsch rege gemacht, eigene Familien zu gründen. Aber die Ehe Halgs hatte in den Augen des Kaw-djer besondere Bedeutung; sie war der Schlußstein eines Lebenswerkes; desjenigen, das während langer Zeit seinem Herzen am nächsten gestanden war. Der Wilde, den er in ein denkendes Wesen verwandelt hatte, würde sich jetzt in seinen Kindern vervielfältigen.
Die Zukunft des jungen Haushaltes war sichergestellt. Die von Halg und seinem Vater betriebene Fischerei wies die schönsten Erfolge auf. Es sollte sogar in der Nähe Neudorfs eine Konservenfabrik eingerichtet werden, aus der die Produkte der Fischerei sich von der Insel Hoste über die ganze Welt verbreiten konnten. Aber selbst wenn dieses Projekt nicht zur Ausführung kam, so fanden Halg und Karroly auf der Insel genug Abnehmer, um nie in Geldverlegenheit zu kommen.
Gegen Ende des Sommers erhielt der Kaw-djer die Antwort der chilenischen Regierung auf seine Vorschläge bezüglich der Insel des Kap Hoorn. Die Antwort war ziemlich unbestimmt. Man verlangte eine Überlegungsfrist. Man wollte die Sache in die Länge ziehen. Der Kaw-djer wußte zu gut in den diplomatischen Gebräuchen Bescheid, um sich über dieses Hinausschieben der Entscheidung zu wundern. Er wappnete sich denn mit Geduld und entschloß sich, diese diplomatischen Verhandlungen weiterzuführen, die in Anbetracht der Distanzen wohl nicht so bald ihren Abschluß erreichen würden.
Dann wurde es wieder Winter und der Frost setzte ein. Die fünf Monate seiner Herrschaft brachten nichts Außergewöhnliches mit sich, es sei denn eine politische Agitation, die sich leise, aber bemerkbar in der Bevölkerung äußerte.
Merkwürdigerweise war der Urheber dieser Erregung niemand anderer als Kennedy. Jedermann wußte, welche Rolle der ehemalige Matrose gespielt hatte. Der Tod Lewis Doricks und der Brüder Moore, die heroische Aufopferung Sands, die lange Krankheit Dicks und das Verschwinden Sirdeys konnten nicht unbemerkt bleiben. Der Vorfall war in seinen Einzelheiten bekannt, auch die fast wunderbar zu nennende Rettung des Kaw-djer.
Als Kennedy sich zu den anderen Kolonisten gesellte, wurde ihm kein sehr freundlicher Empfang. Aber nach und nach verblaßte der erste Eindruck, während durch ein eigentümliches Kristallisationsphänomen alle Unzufriedenen sich um ihn scharten. Sein Abenteuer war jedenfalls außergewöhnlich zu nennen. Er hatte eine gewisse Berühmtheit erlangt. Für die Mehrzahl der Hostelianer war er ein gemeiner Verbrecher, aber man mußte zugestehen, daß er ein Mann der Tat und zu energischem Vorgehen stets bereit war. Diese Eigenschaften machten ihn zum Führer der Malkontenten.
Unzufriedene wird es immer und überall geben. Es ist noch niemandem gelungen, alle zufriedenzustellen; das blieb bis jetzt ein unausführbarer Traum. Daher gab es auch Unzufriedene in Liberia.
Die Arbeitsscheuen bildeten natürlich den Kern dieser Gruppe, dazu zählten auch jene, die es auf keinen grünen Zweig gebracht hatten oder die nach einem mißglückten Versuch, sich aufzuraffen, mutlos die Flinte ins Korn geworfen hatten. Die einen und die anderen machten die Regierung für das Zusammenbrechen ihrer Hoffnungen und die darauf folgende Enttäuschung verantwortlich.
Diesem ersten Kern gesellten sich die Freunde der Wortspiele, die Politiker hinzu, die dieselben Grundsätze predigten, denen seinerzeit der Kaw-djer den Vorrang gegeben hatte, nur betrachteten sie dieselben von einem weniger erhabenen Standpunkte aus als dieser: die einen waren Kommunisten nach dem Beispiel Lewis Doricks, diese Kollektivisten, die das Evangelium eines Karl Marx und Ferdinand Beauval nachbeteten.
Diese verschiedenen Elemente, so ungleichwertig sie waren, verstanden sich sehr gut aus dem Grunde, daß es sich bei ihnen nur darum handelte, Opposition zu machen. So lange es sich um bloßes Verneinen und Zerstören handelt, vertragen sich die Geister ausgezeichnet; erst wenn es zum Verteilen der Beute kommt, verwandeln sich die Freunde von gestern in unerbittliche Gegner.
Jetzt herrschte aber vollkommene Übereinstimmung und diese äußerte sich in Agitationen, die sehr ungefährlicher Natur waren und sich vorderhand nur in Protestversammlungen äußerten. Viele Kolonisten nahmen an diesen Zusammenkünften nicht teil, höchstens hundert, aber sie machten Lärm für tausend und der Kaw-djer mußte auf sie aufmerksam werden.
Ohne sich im geringsten über diesen neuerlichen Beweis der Undankbarkeit der Menschen zu beunruhigen oder aufzuregen, prüfte er leidenschaftslos die vorgebrachten Beschwerden und fand dieselben in einem Punkte berechtigt. Die Unzufriedenen hatten recht, zu behaupten, daß der Gouverneur seine Würde von niemandem empfangen habe; nachdem er sie seinem eigenen Willensakte verdankte, hatte er als Tyrann gehandelt.
Der Kaw-djer bedauerte nicht, die Freiheit unterdrückt zu haben. Damals hatten die Umstände kein Zögern zugelassen. Aber heute war die Lage eine andere. Die Hostelianer hatten ihren Weg gemacht, jeder seinen Neigungen entsprechend und das soziale Leben ging seinen geregelten Gang. Vielleicht war die Bevölkerung jetzt reif genug für eine demokratische Verfassung, ohne daß sein Gewissen mit dem Vorwurf der Unvorsichtigkeit belastet werden konnte.
Er beschloß, den Beschwerden Rechenschaft zu tragen und sich einer Wahl zu unterwerfen; gleichzeitig wollte er von den Wählern einen Rat von drei Mitgliedern bestimmen lassen, die dem Gouverneur in der Ausübung seiner Amtsgeschäfte zur Seite stehen sollten.
Die Wahlversammlung wurde für den 20. Oktober zusammenberufen, in den ersten Frühlingstagen. Die Gesamtbevölkerung der Insel Hoste zählte mehr als tausend Köpfe, darunter zwölfhundertfünfundsiebzig großjährige Männer; nachdem aber die entfernt wohnenden Kolonisten nicht erschienen waren, gaben nur eintausendsiebenundzwanzig ihre Stimmen ab, von denen neunhundertachtundsechzig den Kaw-djer wählten. Nun wurde zur Wahl der drei Mitglieder des Rates geschritten. Die Leute waren so klug, Harry Rhodes mit achthundertzweiunddreißig, Hartlepool mit achthundertundvier und Germain Rivière mit siebenhundertundachtzehn Stimmen zu wählen. Das waren überwältigende, unanfechtbare Majoritäten und die Oppositionspartei mußte ihre Niederlage einsehen.
Der Kaw-djer benützte die relative Freiheit seiner Bewegungen, die ihm durch die Mitwirkung des »Rates« geboten wurde, zu einer lang projektierten Reise. Er hielt es nicht für unwichtig, im Hinblick auf die Erfüllung seines größten Wunsches und die laufenden Verhandlungen mit Chile, den Archipel zu durchforschen und ganz besonders jenes Inselchen zu untersuchen, das der Gegenstand der Unterhandlungen war.
Am 25. November segelte er mit Karroly auf der Wel-kiej ab, um am 10. Dezember mit endgültig gefaßten Entschlüssen, nach vierzehn Tagen nicht immer leichten Segelns, zurückzukehren.
Als er landete, betrat ein Reiter die Stadt von der Nordstraße her. Er war über und über mit Staub bedeckt und es war leicht zu ersehen, daß er von weit her kam und ohne Unterbrechung geritten war.
Er hielt vor dem Regierungsgebäude in demselben Augenblicke, als auch der Kaw-djer dort anlangte. Er bekannte sich als Träger wichtiger Nachrichten und begehrte eine geheime Unterredung, die ihm sofort gewährt wurde.
Eine Viertelstunde später war der »Rat« versammelt und Boten wurden nach allen Richtungen ausgesandt, um die Polizeileute zusammenzurufen. Noch war keine Stunde seit dem Eintreffen des Kaw-djer verflossen, als dieser an der Spitze von fünfundzwanzig Reitern dem Inneren der Insel zusprengte.
Der Grund dieser plötzlichen Abreise blieb nicht lange Geheimnis. Düstere Gerüchte verbreiteten sich gar bald, die besagten, daß die Insel Hoste von einem Heer Patagonier überfallen worden sei. Diese hatten den Beagle-Kanal übersetzt, waren an der Nordküste der Halbinsel Dumas gelandet und näherten sich nun Liberia.