Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

VII. Der feindliche Einfall

Das Gerücht sprach wahr, aber es übertrieb wie gewöhnlich. Während des Weiterwanderns von Mund zu Mund war aus der Mücke ein Elefant geworden. Die Horde Patagonier, welche, siebenhundert an der Zahl, vor vierundzwanzig Stunden an der Nordküste der Insel gelandet war, verdiente keineswegs die Bezeichnung »Heer«.

Unter dem Namen »Patagonier« versteht man gewöhnlich die Gesamtheit aller in ethnologischer Hinsicht sehr verschiedenen Völkerschaften, welche in den südamerikanischen Pampas ein Nomadenleben führen. Die nördlichsten Stämme, die an die Republik Argentina grenzen, sind ziemlich friedfertiger Natur. Sie betreiben Ackerbau, leben in Dörfern und ihr Land weist selbst Städte von ziemlicher Bedeutung auf. Je tiefer man nach Süden kommt, desto mehr schwindet der friedliche Charakter. Die südlichsten Patagonier führen kein seßhaftes Leben und sind sehr zu fürchten. Meist leben sie von dem Erträgnisse der Jagd, sind kühne Reiter und ausgezeichnete Schützen.

Die Sklaverei ist bei ihnen noch gang und gäbe und häufige Raubzüge versorgen sie stets mit neuen Sklaven. Es herrschen beständige Bruderkriege zwischen den einzelnen Stämmen und kein Reisender wird verschont, der so unvorsichtig ist, sich in diese unerforschten Regionen zu wagen. Es sind richtige »Wilde«.

Der Mangel einer geordneten Regierung, die herrschende Anarchie, die noch bis in die letzten Jahre durch die Feindseligkeiten der angrenzenden zivilisierten Staaten unterstützt wurde, haben der zügellosen Wildheit der Indianer und dem Räubertum Vorschub geleistet und es ungestraft gedeihen lassen. Wahrscheinlich wird es nun den jetzt befreundeten Republiken Chile und Argentina gelingen, dem Unwesen zu steuern. Aber es wird lange dauern und große Mühe kosten, in diesem ausgedehnten Lande mit seiner zerstreuten Bevölkerung, ohne alle Verkehrsmittel, Ordnung zu schaffen, wenn man außerdem bedenkt, daß die Patagonier seit Anbeginn der Welt stets in ungeschmälerter Freiheit gelebt haben.

Dieser letzteren Klasse gehörten die auf der Insel Hoste gelandeten Indianer an. Schon aus dem Beginne dieser Erzählung hat man ersehen, daß die Patagonier Liebhaber derartiger Exkursionen in benachbarte Gebiete waren und oft hatten sie schon die Magalhães-Straße übersetzt, um die größte der Inseln des Archipels, das Feuerland, zu plündern. Aber so weit nach Süden hatten sie sich bisher noch nicht gewagt.

Um zur Insel Hoste zu gelangen, mußten sie entweder das ganze Feuerland der Länge nach durchziehen und dann den Beagle-Kanal übersetzen oder vom amerikanischen Festland aus den Wasserweg durch die vielen Meeresstraßen benützen. Jedenfalls hatten sie auf diesem langen Wanderzug mit großen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt; sei es, um sich auf dem Landweg mit Nahrung zu versorgen oder um die gefährlichen Meeresstraßen zu durchschiffen, wo sie unausgesetzt Gefahr liefen, ihre leichten Pirogen samt ihren Pferden scheitern zu sehen.

Während des scharfen Galopps fragte sich der Kaw-djer, was wohl die Patagonier bewogen haben konnte, mit ihren jahrhundertelangen Gewohnheiten zu brechen und diese weite Reise zu unternehmen. Die Gründung Liberias konnte ja allenfalls als Erklärungsgrund gelten. Vielleicht hatte sich der Ruf der neuen Stadt in die benachbarten Länder verbreitet, vielleicht hatte man ihr fabelhafte Reichtümer angedichtet. Die Phantasie der Wilden hatte sie dann noch vergrößert – kein Wunder, daß ihre Begierde erregt wurde.

So ließe sich denn das Auftreten der Indianer vielleicht erklären. Trotz allem blieb die Kühnheit der Angreifer ein Grund des Staunens, und obwohl ihre unersättliche Raubgier bekannt war, war schwer zu begreifen, warum sie sich so weit hergewagt hatten und so vielen weißen Ansiedlern die Stirne bieten wollten. Es mußten geheime Ursachen mitspielen, die der Kaw-djer nicht zu ergründen vermochte.

Er wußte nicht, an welchem Punkte der Insel er die Feinde begegnen würde. Vielleicht hatten sie sich schon in Bewegung gesetzt. Vielleicht hatten sie den Landungsplatz auch noch nicht verlassen. In letzterem Falle hatte er noch einen Weg von einhundertzwanzig bis einhundertfünfundzwanzig Kilometern vor sich. Die hostelische Straße gestattete keine große Entfaltung von Schnelligkeit, der Bau war leider noch recht mangelhaft, somit mußte der Ritt mindestens zwei Tage in Anspruch nehmen. Am 10. Dezember war er frühmorgens aufgebrochen, folglich konnte er erst am 11. abends an der Küste eintreffen.

In einiger Entfernung von Liberia wendete sich die Straße, nachdem sie die Halbinsel Hardy durchquert hatte, nach Nordwesten; hier zog sie sich ungefähr dreißig Kilometer weit längs der Küste des Stillen Ozeans hin, dann drehte sie sich nach Norden, durchquerte die Insel ein zweites Mal je nach der Richtung der Täler und berührte, fünfunddreißig Kilometer weiter, den Tekinika-Sund, einen tiefen Einschnitt des Atlantischen Ozeans, der eine Seite der Halbinsel Pasteur begrenzt, die ein anderer großer Meereseinschnitt, der Ponsounby-Sund, im Norden von der Halbinsel Dumas trennt. Dann vollzog die Straße verschiedene Windungen, überschritt den Engpaß der wichtigen Bergkette, die, aus Westen kommend, sich bis in die Ostspitze der Halbinsel Pasteur erstreckt, wandte sich dann wieder nach Westen in der Höhe des Isthmus, der die Halbinsel mit der Insel Hoste vereinigt. Nach dem sie auch die höchste Stelle des Ponsounby-Sund berührt, bog sie nach Osten um, passierte, fünfundneunzig Kilometer von Liberia entfernt, den Isthmus der Halbinsel Dumas und verlief an deren Nordküste, die von den Wellen des Beagle-Kanales bespült wird.

Dieser Straße mußte der Kaw-djer folgen. Unterwegs vergrößerte sich seine kleine Truppe durch einige Zuzügler; jene Kolonisten, welche über ein Pferd verfügten, schlossen sich an. Den anderen gab der Kaw-djer seine Instruktionen im Vorbeireiten. Sie sollten Alarm schlagen und so viele Leute als möglich versammeln. Diejenigen, die Gewehre besaßen, sollten sich zu beiden Seiten der Straße aufpflanzen und möglichst unzugängliche Stellen wählen, so daß die Reiter sie nicht erreichen konnten. Von dort aus sollten sie auf die Eindringlinge ihre Schüsse abgeben, sobald diese erscheinen würden, sich dann aber schleunigst zum höchsten Punkt des Gebirges zurückziehen. Der Befehl lautete dahin, hauptsächlich auf die Pferde zu zielen, da ein unberittener Patagonier nicht mehr zu fürchten ist.

Jene Kolonisten, welche nur über ihre Arme verfügten, sollten auf der Straße Barrikaden in möglichst kleinen Zwischenräumen aufwerfen und hinter sich nur eine Wüste lassen. Einen Kilometer links und rechts von der Straße sollten die Felder binnen vierundzwanzig Stunden verwüstet und die Häuser geleert werden. Auf diese Weise war den Eindringlingen die neue Verproviantierung unmöglich gemacht. Alle sollten sich dann in die Festung Rivières begeben, ob sie nun mit Feuerwaffen versehen waren oder nur Axt und Sense zu führen verstanden. Dieses Blockhaus, das mit einem festen Zaun umgeben und von tapferen Armen verteidigt war, konnte wirklich mit einer Festung verglichen werden, welche nicht im Handumdrehen eingenommen werden konnte.

Wie vorhergesehen, erreichte der Kaw-djer den Isthmus der Halbinsel Dumas am 11. Dezember gegen sechs Uhr abends. Man hatte noch keinen Patagonier zu Gesicht bekommen. Aber jetzt mußte man sich dem Landungsplatz nähern und es war nunmehr äußerste Vorsicht geboten. Jetzt war die Zeit der langen Tage und man konnte erst spät auf den Schutz der Dunkelheit rechnen. Nach fünf Stunden erblickte man das feindliche Lager. Es war fast Mitternacht und verhältnismäßig finster. Deutlich sah man die Lagerfeuer, die Patagonier hatten sich nicht vom Platze gerührt; wahrscheinlich mußten sie ihren Pferden Ruhe gönnen.

Die kleine Truppe des Kaw-djer verfügte im ganzen über zweiunddreißig Gewehre. Aber inzwischen waren hundert Arme tätig, die Straße unpassierbar zu machen, wuchtige Baumstämme anzuhäufen, Barrikaden zu errichten und das Vordringen der Räuber nach Möglichkeit zu erschweren.

Als man über die Lage des feindlichen Lagers genau orientiert war, zog man sich leise zurück und machte fünf Kilometer entfernt von dieser Stelle vor dem Isthmus der Halbinsel Dumas halt. Die Pferde wurden von einigen Kolonisten über die Landenge gebracht und in den Bergen verborgen gehalten, während die früheren Reiter sich an den steilsten Abhängen verbargen, die die Straße im Süden begrenzten, und hier den Feind erwarteten.

Der Kaw-djer hatte nicht die Absicht, es zur Schlacht kommen zu lassen; das wäre Wahnsinn gewesen bei der geringen Anzahl seiner Leute. Hier war ein Guerillakrieg am Platze. Von ihrem erhöhten Standpunkt sollten die Verteidiger auf die Angreifer schießen und während diese sich mit dem Wegschaffen der Hindernisse aufhalten mußten, wollten sie im Schutze der Felsen von Abhang zu Abhang vorwärts eilen. Man lief gar keine Gefahr dabei, solange die Patagonier ihre Pferde nicht im Stiche ließen, um die Kolonisten zu verfolgen. Aber diese Eventualität war nicht zu befürchten. Der Patagonier kämpft infolge einer eingefleischten Gewohnheit nur zu Pferde, niemals würde er sich zu Fuß in dieses chaotische Terrain wagen, wo hinter jedem Felsblock ein Feind lauern konnte.

Es war neun Uhr morgens – am 12. Dezember – als die ersten Patagonier sich zeigten. Sie selbst waren um sechs Uhr aufgebrochen und hatten drei Stunden gebraucht, um die fünfundzwanzig Kilometer zurückzulegen. Sie fühlten sich in diesem so weit von ihrer Heimat gelegenen Lande augenscheinlich nicht sicher und folgten nur mißtrauisch dieser Straße, die auf einer Seite vom Meere und auf der anderen durch steil abfallende Felsen begrenzt war. Sie ritten dicht aneinandergedrängt, was den Schützen auf dem Berge das Zielen sehr erleichtern mußte.

Drei Schüsse, die von links her fielen, brachten ihre Reihen in Verwirrung. Die ersten wichen zurück und pflanzten die Unordnung in die folgenden Reihen fort. Nachdem aber keine weiteren Schüsse erfolgten, setzten sie sich wieder in Bewegung. Jeder Schuß hatte getroffen. Ein Mann wand sich am Rande der Straße in Todeszuckungen und zwei Pferde lagen am Boden; eines mit durchschossener Brust, das andere mit gebrochenem Bein.

Fünfhundert Meter weiter hielt die Patagonier eine hohe, aus Baumstämmen aufgetürmte Barrikade auf; während sie diese aus dem Wege schafften, fielen wieder mehrere Schüsse von der Felswand und ein drittes Pferd wälzte sich in seinem Blute.

Zehnmal hatte man, und stets mit Erfolg, diese Taktik befolgt, da erreichte der Vortrab des patagonischen Heeres den Isthmus. An dieser Stelle, wo sich die Straße bedeutend verengte, konnte an eine ernstliche Verteidigung gedacht werden. Vor einer höheren und dichteren Barrikade, als die vorhergehenden waren, fiel ein wahrer Kugelregen auf die Reiter nieder; sie wichen zuerst zurück, gaben dann auch eine Salve auf die Feinde ab und drangen wieder bis zur Barriere vor, die ungefähr Hunderte niederzureißen bemüht waren. Der Kugelregen prasselte aufs neue über den Weg, die Stelle war unhaltbar. Die ersten, die sich zu weit in die gefährliche Zone vorgewagt hatten, lagen tot auf der Erde; das gab ihren Gefährten zu denken und die Horde hielt zögernd still.

Die Hostelianer konnten sie in ihrer ganzen Länge überblicken; sie bedeckte fast sechshundert Meter der Straße. Einzelne Reiter galoppierten von einem Ende zum anderen, als ob sie Befehle des Anführers weitertrugen.

Jedesmal, wenn einer der Reiter sich der Spitze der Kolonne näherte, wurde ein neuer Versuch gemacht, die Barrikade zu entfernen; und jeder Versuch wurde aufgegeben, sobald ein fallender Mann oder ein totes Pferd einen neuen Beweis für die Gefährlichkeit der Stelle lieferte.

So vergingen die Stunden. Endlich war es den Patagoniern abends gelungen, die Barrikade umzuwerfen, jetzt bildeten die unaufhörlich in ihre Reihen einschlagenden Kugeln das einzige Hindernis. Da faßten sie einen verzweifelten Entschluß. Sie sammelten sich und sausten im Galopp über die gefährliche Stelle hinweg. Drei Männer und zwölf Pferde blieben auf dem Platze, aber der Trupp war vorübergekommen.

Nach fünf Kilometern hatten die Räuber eine freie Stelle erreicht, wo sie die Nacht zuzubringen gedachten. Die Hostelianer gönnten sich keine Ruhe, sondern zogen sich vorsichtig von ihren Posten zurück, um am nächsten Morgen wieder schußbereit auf einem anderen Verstecke zu stehen. Der Tag war ein guter. Er kostete den Eindringlingen dreißig Pferde und fünf Männer, während von den Kolonisten nur einer leicht verwundet war. Die unberittenen Feinde zählten nicht. Sie waren schlechte Fußgänger, mußten zurückbleiben und waren leicht zu überwältigen.

Der folgende Tag verlief wie sein Vorgänger. Gegen zwei Uhr nachmittags hatten die Patagonier, nach einer Totalleistung von sechzig Kilometern, die Höhe des Engpasses erreicht, den die Straße beim Überschreiten der zentralen Bergkette der Insel berührte. Seit drei Stunden stiegen sie ohne Unterbrechung empor. Menschen und Tiere waren entkräftet. Ehe sie den Engpaß durchschritten, machten sie halt. Der Kaw-djer postierte sich mit seinen Leuten ein Stück weiter vorwärts.

Seine Truppe hatte sich jetzt bedeutend verstärkt und verfügte über sechzig Gewehre. Er stellte die Männer an einer Seite der Straße auf, wo die Felsen am steilsten abfielen. Hinter riesigen Steinblöcken wohl verborgen, brauchten die Hostelianer die feindlichen Geschosse nicht zu fürchten.

Kaum setzten sich die Patagonier in Bewegung, als die verderbenbringenden Kugeln von der Felswand ihre ersten Reihen niedermähten. Sie wichen zurück und gaben auch eine Salve ab, aber ohne allen Erfolg. Das ging während zwei Stunden so fort. Wenn die Patagonier auch tapfer waren – durch Klugheit zeichneten sie sich nicht aus! Erst als viele der ihrigen gefallen waren, erinnerten sie sich an das Manöver der letzten Nacht. Jetzt schlossen sich ihre Reihen, dann kam Bewegung in die Masse und im sausenden Galopp schossen sie vorüber. Die Erde zitterte, als die vielen hunderte Hufe über sie hindonnerten; natürlich spien die Gewehre der Hostelianer jetzt mehr Tod und Flammen denn je.

Eigentlich war es ein prachtvolles Schauspiel! Nichts hielt die Windeseile dieser wilden Reiter auf. Verlor einer die Steigbügel, so wurde er von den Hintermännern zerstampft; fiel ein Pferd tot hin oder verwundet zu Boden, so stürzten die anderen achtungslos über das Hindernis im wütenden Dahinrasen hinweg.

Aber an das Bewundern dieses Reiterstückchens dachten die Hostelianer nicht. Für sie handelte es sich um Leben und Tod! Sie dachten nur eines: laden, zielen, abdrücken; dann laden, zielen, abdrücken und so fort, ohne eine Sekunde der Unterbrechung. Die Läufe in ihren Händen fühlten sich schon ganz heiß an, sie schossen aber noch immer. Im Eifer der Schlacht ließen sie alle Vorsicht beiseite, traten hinter ihren natürlichen Schutzwällen hervor und boten sich dem Feind als Zielscheibe dar. Er hätte jetzt leichtes Spiel gehabt, wenn er sich zum Schießen Zeit genommen hätte.

Aber bei ihrem Vorbeirasen konnten die Patagonier nicht daran denken, von einer Waffe Gebrauch zu machen; ihr einziges Streben ging dahin, so schnell als möglich aus dem Bereich der todbringenden Kugeln zu kommen, ungeachtet der vielen Opfer, die dieses Manöver erfordern mußte.

Endlich hatten sie den Engpaß passiert und als die Kugeln nicht mehr um ihre Ohren pfiffen, verlangsamten sie den Gang ihrer Pferde und folgten der in Serpentinen abfallenden Straße in gemächlichem Trab. Ringsherum war alles ruhig. Hie und da fiel ein vereinzelter Schuß aus der Höhe, wenn die Straße an Felswänden vorüberführte, verfehlte aber meistens sein Ziel. Die Patagonier beantworteten den Gruß mit gleicher Münze und ritten weiter.

Durch die Erfahrung belehrt, verfielen sie nicht in den Fehler des letzten Abends, wo sie ihr Lager in einer zu geringen Entfernung vom Kampfplatz aufgeschlagen hatten. Bis spät in die Nacht setzten sie ihren Abstieg fort und schlugen erst das Lager auf, als sie die Ebene erreicht hatten.

Das war ein harter Tag für sie gewesen. Sie hatten fünfundsechzig Kilometer zurückgelegt, fünfunddreißig von der Höhe des Passes an gerechnet. Zu ihrer rechten Hand schlugen die Wogen des Stillen Ozeans auf den sandigen Strand auf, links breitete sich flaches Land aus, hier waren keine Überraschungen mehr zu befürchten. Liberia war noch dreißig Kilometer entfernt, morgen mußte es erreicht werden.

Jetzt war es dem Kaw-djer unmöglich, den Patagoniern nochmals vorzukommen. Erstens eignete sich das Terrain nicht mehr dazu und zweitens trennte ihn eine zu große Entfernung von den Feinden. Auf seinen Befehl stand man von der unnützen Verfolgung ab und lagerte sich auf die kalte Erde, um unter dem mit Sternen besäeten Himmel einige Stunden der Ruhe zu suchen, die man sich nach der Ermüdung dreier aufeinanderfolgender Nächte wohl verdient hatte.

Der Kaw-djer hatte keine Ursache, mit dem Resultat seiner Taktik unzufrieden zu sein. Am letzten Tage hatten die Feinde fünfzig Pferde und wenigstens fünfzig Mann verloren. Die wilde Horde würde demnach Liberia moralisch niedergedrückt betreten und hundert Kämpfer weniger in ihren Reihen zählen. Auch würde sie nicht mühelos eindringen können, wie sie vielleicht erwartete.

Am nächsten Morgen ließ man die Pferde kommen, sie trafen aber erst gegen Mittag ein. Jetzt verwandelten sich die Schützen wieder in Reiter und traten, zweiunddreißig Köpfe stark, den Heimweg an.

Nichts hinderte sie am raschen Vorwärtseilen, Vorsicht war nicht mehr geboten, man war durch die längs der Straße verborgenen Kolonisten, welche den Feind im Vorbeireiten begrüßt hatten, beruhigt und wußte, daß die Patagonier weitergeritten waren und man keine Gefahr lief, plötzlich mit dem Nachtrabe ihrer Kolonne zusammenzutreffen.

Um drei Uhr erreichte man ihren Lagerplatz. Die Anzeichen waren so deutlich, daß jede Täuschung ausgeschlossen war. Aber sie mußten schon in den ersten Morgenstunden aufgebrochen sein und außerdem sich jetzt aller Wahrscheinlichkeit nach schon in Liberia befinden.

Zwei Stunden später ritt man längs der Umzäunung hin, die das Blockhaus Rivières umgab. Da erblickte man vor sich auf der Straße eine Anzahl Menschen. Es waren ihrer gewiß mehr als hundert. Als die Hostelianer näher kamen, erkannten sie in ihnen jene Patagonier, deren Pferde in den vorhergegangenen Scharmützeln erschossen worden waren.

Da fielen Flintenschüsse aus der Umzäunung und mindestens zehn Patagonier stürzten zu Boden. Von den Überlebenden gaben einige auf die Palisaden ein paar ungefährliche Schüsse ab, dann entflohen alle. Nun erst bemerkten sie die zweiunddreißig Reiter, die ihnen den Weg versperrten und deren Gewehre mit ihnen zu verhandeln begannen.

Beim Knall dieser Detonationen stürzten zweihundert mit Heugabeln, Beilen und Sensen bewaffnete Männer aus dem Schutz der Umzäunung heraus und sperrten die Straße in der Richtung nach Liberia zu ab. Jetzt waren die Patagonier eingeschlossen: rechts dräuten unübersteigbare Felsen, vor ihnen standen die Bauern, die infolge ihrer großen Anzahl sehr zu fürchten waren, links blitzten Gewehrläufe aus der Palisade und hinter ihnen stand der Kaw-djer mit seinen Leuten. Die Patagonier verloren den Mut und warfen ihre Waffen zu Boden. Ohne alles Blutvergießen wurden sie gefangengenommen. An Händen und Füßen gebunden brachte man sie in eine Scheune, vor deren Türe Wachen gestellt wurden.

Das war wohl gelungen! Die Eindringlinge hatten nicht nur über hundert Männer verloren, sondern ebensoviele Gewehre, und obwohl diese von minderer Qualität waren, bereicherten sie doch den Waffenschatz der Hostelianer. Jetzt besaßen sie dreihundertundfünfzig Feuerwaffen und sechshundert standen ihnen gegenüber. Die Verteilung war fast eine gleiche.

Die bei Rivière versammelte Garnison konnte dem Kaw-djer über den Weitermarsch der Patagonier Bericht erstatten. Sie hatten am Morgen nur schüchterne Versuche gemacht, durch die Palisaden einzudringen; nach den ersten Schüssen hatten sie den Versuch aufgegeben, ihrerseits ein paar Schüsse abgefeuert und waren, ohne einen ernstlichen Angriff zu unternehmen, davongeritten. Diese Patagonier mochten vielleicht Krieger sein, aber vom Kriegführen verstanden sie nicht viel. Ihr Ziel war Liberia, darauf gingen sie los, unbekümmert darum, ob sie unbesiegte Feinde hinter sich ließen.

Nachdem man so glücklich gewesen war und Gefangene gemacht hatte, wollte der Kaw-djer nicht fortgehen, ohne sie um ihre Absichten befragt zu haben. Er begab sich daher zu ihnen.

In der Scheune, in die sie geschafft worden waren, herrschte tiefes Schweigen. Sie kauerten an der Mauer, diese hundert Menschen, und erwarteten mit wilder Resignation ihr Schicksal. Sie würden als Sieger die Besiegten zu Sklaven gemacht haben; jetzt waren sie die Besiegten und erwarteten das gleiche Schicksal. Nicht einer von ihnen schien den Eintritt des Kaw-djer zu bemerken.

»Spricht einer von euch spanisch? erkundigte er sich mit lauter Stimme.

– Ich, sagte einer der Gefangenen, den Kopf erhebend.

– Dein Name?

– Athlinata.

– Was suchst du in diesem Lande?«

Der Indianer blieb ganz bewegungslos und sagte:

»Den Krieg.

– Warum sucht ihr Krieg mit uns? fragte der Kaw-djer. Wir sind nicht eure Feinde.«

Der Patagonier verharrte in Schweigen und so fuhr der Kaw-djer fort:

»Niemals, sind deine Brüder auf diese Insel gekommen. Warum haben sie jetzt diesen weiten Weg gemacht?

– Der Häuptling hat befohlen, sagte der Indianer ruhig, und die Krieger haben gehorcht.

– Aber was ist denn euer Ziel? fragte der Kaw-djer fort.

– Die große Stadt im Süden, antwortete der Gefangene. Dort gibt es viele Reichtümer und die Indianer sind arm.

– Aber diese Reichtümer muß man erst nehmen, erwiderte der Kaw-djer, und die Bewohner der Stadt werden sie verteidigen.«

Der Patagonier lächelte spöttisch.

»Du und deine Brüder sind ja jetzt schon gefangen, fügte der Kaw-djer als Beweis ad hominem bei.

Der Indianer ließ sich nicht aus der Fassung bringen.

»Die patagonischen Krieger sind zahlreich; sagte er. Die anderen werden in die Heimat zurückkehren und deine Brüder werden neben ihren Pferden herlaufen!«

Der Kaw-djer zuckte die Achseln.

»Du träumst, mein Lieber, sagte er, nicht einer von euch wird nach Liberia hineinkommen.«

Der Patagonier hatte nur ein ungläubiges Lächeln zur Antwort.

»Du glaubst mir nicht? fragte der Kaw-djer.

– Der weiße Mann hat es uns versprochen, sagte der Indianer voll Überzeugung. Er wird die große Stadt den Patagoniern geben.

– Der weiße Mann? fragte der Kaw-djer erstaunt.

– Lebt denn ein Weißer bei euch?«

Aber alle Fragen waren umsonst. Der Indianer hatte alles gesagt, was er wußte, mehr Einzelheiten waren von ihm nicht zu erfahren.

Der Kaw-djer zog sich nachdenklich zurück. Wer war dieser Weiße, der an seiner Rasse zum Verräter wurde und sich gegen seine Stammbrüder mit einer Rotte von Wilden verband? Das war ein neuer Grund zur Eile. Obwohl Hartlepool genau die erhaltenen Weisungen befolgt und alles Nötige getan haben würde, war es vielleicht doch gut, der Garnison von Liberia eine Verstärkung zuzuführen.

Gegen acht Uhr abends setzte man sich in Bewegung. Die von dem Kaw-djer befehligte Truppe zählte jetzt einhundertfünfundsechzig Mann, von denen einhundertundzwei die Gewehre der gefangenen Patagonier an sich genommen hatten. Alle Pferde waren bei Rivière zurückgelassen worden; um in Liberia einzudringen und die Linie der Feinde zu durchbrechen, wollte der Kaw-djer selbstredend nicht die von den Patagoniern angewendete, sehr mutige, aber wahnsinnige Taktik ergreifen, die diese beim Durchbrechen der schwierigen Passagen angewandt hatten. Sein Plan ging darauf hinaus, eher mit List als mit Gewalt durchzudringen und die Pferde wären ihm dabei nur ein Hindernis gewesen.

Nach drei Wegstunden erblickte man die Stadt vor sich. Die Nacht war hereingebrochen und die in einem großen Halbkreis verteilten Feuer der Patagonier bezeichneten ihr Lager, das sich rechts bis an den Sumpf erstreckte und links an den Fluß heranreichte. Die Stadt war vollständig eingeschlossen und es war ein Ding der Unmöglichkeit, durch die in je hundert Meter Entfernung postierten Wachen hindurchzuschleichen.

Der Kaw-djer ließ seine Truppe halten. Ehe er weiter vordrang, mußte er alles wohl erwägen.

Aber alle Eindringlinge befanden sich nicht am rechten Flußufer. Einige mußten das Wasser überschritten haben. Während der Kaw-djer noch überlegte, wurde im Nordwesten ein intensiver Lichtschein sichtbar. – Es waren die Häuser von Neudorf, die die Feinde in Brand gesteckt hatten.


 << zurück weiter >>