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Neuntes Kapitel

Formosante weckt den wunderbaren Vogel wider auf und erkennt den Phönix. Sie fährt auf einem Sofa ins Land der Gangariden; ebenso bequeme wie schnelle Art zu reisen

Sobald die Prinzessin sich auf diesem Boden befand, war ihre erste Sorge, ihrem lieben Vogel die letzten Ehren zu erweisen, die er von ihr gefordert hatte. Ihre schönen Hände schichteten einen kleinen Scheiterhaufen aus Gewürznelken und Zimt. Sie breitete die Asche des Vogels darauf aus. Wie groß war ihre Überraschung, als sie ihn von selbst sich entflammen sah! Schnell war alles verbrannt. Anstelle der Asche erschien nichts als ein großes Ei, aus dem sie ihren Vogel glänzender als je heraussteigen sah. Es war der schönste Augenblick, den die Prinzessin je erlebt hatte; nur einer konnte ihr noch teurer sein: sie ersehnte ihn, aber sie hoffte nicht mehr darauf.

»Ich sehe wohl,« sagte sie zum Vogel, »daß du der Phönix bist, von dem man mir so oft gesprochen hat. Ich bin nahe daran, vor Staunen und Freude zu sterben. Ich glaubte nicht an die Auferstehung; aber mein Glück hat mich davon überzeugt.«

»Die Auferstehung, Prinzessin,« sagte der Phönix, »ist das einfachste Ding der Welt. Warum soll es merkwürdiger sein, zweimal anstatt einmal geboren zu werden? Alles kehrt wieder auf dieser Welt; die Raupen als Schmetterlinge; ein in die Erde versenkter Keim als Baum; alle in der Erde begrabenen Tiere als Kräuter und Pflanzen, die andere Pflanzen ernähren, deren Substanz sie dann bilden: alle Teilchen, die Körper sind, werden in andere Wesen verwandelt. Es ist wahr: ich bin das einzige Geschöpf, dem der mächtige Ormuzd die Gnade erwiesen hat, in seiner eigenen Gestalt wiederzukehren.«

Formosante, die seit dem Tage, da sie Amazan und den Phönix zum ersten Male gesehen hatte, nicht aus dem Staunen herausgekommen war, sagte: »Ich verstehe wohl, daß das höchste Wesen aus deiner Asche einen Phönix gestaltet hat, der dir ungefähr gleicht; daß du aber genau dasselbe Geschöpf mit derselben Seele sein sollst, erscheint mir nicht so klar. Wo war deine Seele, während ich dich, nach deinem Tode, in meiner Tasche trug?«

»Ach mein Gott, Prinzessin, ist es dem großen Ormuzd nicht ebenso leicht, seine Schöpfung an einem kleinen Funken von mir fortzusetzen, wie sie überhaupt zu beginnen? Er hatte mir vorher Gefühl, Gedächtnis, Gedanken gewährt: er gibt sie mir noch; ob er diese Gnade an ein Atom von Urfeuer bindet, das in mir verborgen ist, oder an die Gesamtheit meiner Organe, macht im Grunde nichts aus: der Phönix und die Menschen werden nie erfahren, wie dieses geschieht. Aber die größte Gnade, die das höchste Wesen mir gewährt hat, ist, mich für Euch auferstehen zu lassen. Warum kann ich die achtundzwanzigtausend Jahre, die ich bis zu meiner nächsten Wiederkehr zu leben habe, nicht mit Euch und meinem teuren Amazan verbringen?«

»Mein Phönix,« versetzte die Prinzessin, »denke daran, daß die ersten Worte, die du mir in Babylon sagtest und die ich nie vergessen werde, mir die Hoffnung einflößten, daß ich den teuren Schäfer, den ich anbete, wiedersehen werde. Es ist durchaus nötig, daß wir zusammen zu den Gangariden gehen, und daß ich ihn nach Babylon zurückbringe.«

»Das ist auch mein Plan,« sagte der Phönix; »wir dürfen keinen Augenblick verlieren. Wir müssen Amazan auf dem kürzesten Wege suchen, das heißt auf dem Luftweg. Es gibt im glücklichen Arabien zwei Greifen, meine vertrauten Freunde, die nur hundertundfünfzig Meilen von hier wohnen: ich werde ihnen mit der Taubenpost schreiben; sie werden hier sein, bevor es Nacht ist. Wir haben inzwischen genügend Zeit, Euch ein kleines Kanapee mit Schubladen für Euren Mundvorrat herstellen zu lassen. Ihr werdet Euch in diesem Wagen mit Eurer Zofe sehr wohl fühlen. Die beiden Greifen sind die stärksten ihres Geschlechtes; jeder von ihnen wird einen der Arme des Kanapees in seinen Klauen halten; aber nochmals, jeder Augenblick ist wichtig.« Er ging sogleich mit Formosante zu einem Tapezier, den er kannte, um das Sofa zu bestellen. In vier Stunden war es fertig. Man legte in die Schubladen kleine Königinbrötchen, Biskuits, die besser waren als die von Babylon, Zitronen, Ananas, Kokosnüsse, Pistazien und Wein von Eden, der so hoch über dem von Schiras steht wie dieser über jenem von Surenne.

Das Kanapee war ebenso leicht wie bequem und solid. Die beiden Greifen kamen zur angegebenen Zeit nach Eden. Formosante und Irla setzten sich in den Wagen. Die beiden Greifen hoben sie auf wie eine Feder. Der Phönix flog bald daneben her, bald setzte er sich auf die Rückenlehne. Die beiden Greifen segelten dem Ganges zu mit der Schnelligkeit eines Pfeiles, der die Luft durchschneidet. Erst in der Nacht machten sie Rast auf einige Augenblicke, um einen Imbiß zu nehmen und die beiden Wagenlenker einen Schluck trinken zu lassen.


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