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Elftes Kapitel

Fortsetzung des Vorigen. Formosante ist überzeugt, daß ihr Geliebter ihr Vetter ist. Alle Amseln werden vom Ufer des Ganges verbannt. Sie nimmt die nächste Post, um ihn in China aufzusuchen

»Mein Sohn ist Euer Vetter, sage ich,« versetzte die Mutter, »und ich werde Euch bald den Beweis dafür geben. Aber indem Ihr meine Verwandte werdet, entreißt Ihr mir meinen Sohn. Er wird den Schmerz über den Kuß, den Ihr dem König von Ägypten gabt, nicht überleben.«

»Ach! Tante,« rief die schöne Formosante, »ich schwöre bei ihm und bei dem mächtigen Ormuzd, daß dieser unselige Kuß, weit entfernt, verbrecherisch zu sein, im Gegenteil der stärkste Liebesbeweis war, den ich Eurem Sohn geben konnte. Ich war ihm zuliebe sogar meinem Vater ungehorsam. Für ihn wanderte ich vom Euphrat zum Ganges. Da ich einmal in die Hände des unwürdigen Pharao von Ägypten gefallen war, konnte ich mich nur vor ihm retten, indem ich ihn betrog. Ich rufe die Asche und die Seele des Phönix an, die damals in meiner Tasche waren; er kann mir Gerechtigkeit zuteil werden lassen. Aber wie kann Euer Sohn, der am Ufer des Ganges geboren ist, mein Vetter sein, da meine Familie seit so viel Jahrhunderten am Ufer des Euphrat herrscht?«

»Ihr wißt,« sagte die ehrwürdige Gangaride, »daß Euer Großonkel Aldeus König von Babylon war, und daß er von dem Vater des Belus entthront wurde?«

»Ja, Fürstin.«

»Ihr wisset auch, daß sein Sohn Aldeus aus seiner Ehe eine Tochter, die Prinzessin Aldea, hatte, die an Eurem Hofe erzogen wurde. Dieser Prinz ist es, der, von Eurem Vater verfolgt, sich unter anderem Namen in unser glückliches Land rettete. Er war mein Gemahl, und von ihm habe ich den jungen Prinzen Aldeus-Amazan, den schönsten, stärksten, mutigsten, tugendhaftesten und heute verwirrtesten aller Sterblichen. Er ging zu den Festen von Babylon auf den Ruf Eurer Schönheit hin: seit dieser Zeit betet er Euch an, und ich werde vielleicht meinen teuren Sohn nie wiedersehen.«

Dann ließ sie alle Rechtsurkunden des aldeischen Hauses vor der Prinzessin ausbreiten; Formosante warf kaum einen Blick darauf. »Ach! Fürstin,« rief sie, »prüft man, was man wünscht? Mein Herz glaubt Euch von selbst. Aber wo ist Aldeus-Amazan? Wo ist mein Verwandter, mein Geliebter, mein König? Wo ist mein Leben? Welchen Weg hat er genommen? Ich würde ihn in allen Weltteilen suchen, die der Ewige geschaffen hat, und deren schönster Schmuck er ist. Ich würde auf den Stern Kanopus, auf den Sheat und den Aldebaran reisen; ich würde ihn von meiner Liebe und meiner Unschuld überzeugen.«

Der Phönix rechtfertigte die Prinzessin von der Beschuldigung der Amsel: daß sie dem König von Ägypten aus Liebe einen Kuß gegeben habe. Aber Amazan mußte diesem Irrtum entrissen und wieder zurückgebracht werden. Er schickt Vögel auf alle Wege; er sendet die Einhörner auf die Suche und erfährt schließlich, Amazan habe den Weg nach China eingeschlagen. »Nun! so laßt uns nach China reisen,« rief die Prinzessin; »die Reise ist nicht lang; ich hoffe, Euch Euren Sohn in spätestens vierzehn Tagen zurückzubringen.« Wie viele Tränen zärtlicher Liebe vergossen die gangaridische Mutter und die Prinzessin von Babylon bei diesen Worten! Wie oft umarmten sie sich! Wie strömten ihre Herzen über!

Der Phönix bestellte unverzüglich einen Wagen mit sechs Einhörnern. Die Mutter gab zweihundert Reiter mit und schenkte der Prinzessin, ihrer Nichte, einige Tausend der schönsten Diamanten des Landes. Der Phönix, der über das Unglück, das die Klatschsucht der Amsel verursacht hatte, äußerst betrübt war, ließ allen Amseln befehlen, das Land zu verlassen. Seit dieser Zeit findet man am Ufer des Ganges keine Amseln mehr.


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