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Was der Harmlose von Theaterstücken denkt
Der junge Harmlose glich einem jener starken Bäume, die undankbarem Boden entsprossen sind. Werden sie in günstige Erde versetzt, breiten sie in kurzer Zeit Wurzeln und Äste aus. Es war nur etwas seltsam, daß gerade ein Gefängnis diese Erde sein mußte.
Unter den Büchern, die die Muße der beiden Gefangenen beschäftigten, waren auch Verse, Übersetzungen griechischer Tragödien und einige französische Theaterstücke. Die Verse, die von Liebe sprachen, erfüllten die Seele des Harmlosen zugleich mit Vergnügen und Schmerz. Alle erinnerten ihn an seine teure Saint-Yves. Die Fabel von den zwei Tauben durchdrang ihm das Herz. Wie weit war er von der Rückkehr in seinen Taubenschlag!
Molière entzückte ihn. Er lehrte ihn die Pariser Sitten und die der übrigen Menschheit kennen. »Welche seiner Komödien gefällt Ihnen am besten?«
»Der ›Tartüff‹, ohne Zweifel.«
»Ich denke wie Sie«, sagte Gordon. »Ein Tartüff hat mich in diesen Kerker gestürzt. Wahrscheinlich sind auch Tartüffes die Ursache Ihres Unglücks. Wie finden Sie diese griechischen Tragödien?«
»Gut für Griechen«, sagte der Harmlose. Aber als er die moderne »Iphigenie«, »Phädra«, »Andromache« »Athalia« gelesen hatte, war er begeistert, seufzte, vergoß Tränen und wußte sie auswendig, ohne die Absicht gehabt zu haben, sie zu lernen.
»Lesen Sie ›Rodogune‹,« sagte ihm Gordon. »Man sagt, es sei das Meisterwerk der Bühne. Die anderen Stücke, die Ihnen so viel Vergnügen bereitet haben, sind nichts im Vergleich mit diesem.« Schon nach der ersten Seite sagte der junge Mann: »Das ist nicht von demselben Autor.«
»Woran sehen Sie das?«
»Ich weiß es noch nicht, aber diese Verse gehen mir weder ins Ohr noch ins Herz.«
»Oh! daran sind nur die Verse schuld!« versetzte Gordon.
Der Harmlose antwortete: »Ja, aber warum macht man sie denn?«
Nachdem er das Stück sehr aufmerksam gelesen hatte, ohne anderen Wunsch, als sich zu unterhalten, sah er seinen Freund mit trockenen, erstaunten Augen an; er wußte nicht, was er sagen sollte. Endlich, gedrängt, sich Rechenschaft über sein Empfinden zu geben, antwortete er: »Ich habe kaum den Anfang verstanden; die Mitte hat mich abgestoßen, und erst die letzte Szene hat mich sehr ergriffen, obgleich sie mir wenig wahrscheinlich erscheint: keine der Personen hat mich interessiert, und ich habe keine zwanzig Verse behalten, ich, der ich alle behalte, wenn sie mir gefallen.«
»Dieses Stück gilt dennoch für das Beste, das wir besitzen.«
»Wenn dem so ist,« versetzte er, »geht es damit wie mit manchen Leuten, die ihren Platz nicht verdienen. Im übrigen ist dies Geschmacksache; vielleicht ist mein Geschmack noch nicht genügend gebildet: ich kann mich täuschen. Aber Sie wissen, ich bin gewöhnt, zu sagen, was ich denke oder vielmehr was ich fühle. Ich argwöhne, daß bei den Urteilen der Menschen sehr oft Selbsttäuschung, Mode oder Laune mitspricht. Ich habe der Natur gemäß geurteilt; es ist möglich, daß bei mir die Natur sehr unvollkommen ist; aber ebenso möglich, daß sie von den meisten Menschen zu wenig befragt wird.« Darauf sagte er Verse der »Iphigenie« her, von denen sein Herz voll war. Obgleich er nicht gut deklamierte, legte er so viel Wahrheit und Weihe in die Worte, daß er den alten Jansenisten zu Tränen rührte. Dann las er »Cinna«; er weinte nicht, aber er bewunderte.