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Am nächsten Morgen kleidete sich Clelia mit etwas größerer Sorgfalt an als gewöhnlich und suchte dann die Großmutter auf, der sie sagte:
»Ich will jetzt hinauf zum Kloster der heiligen Höhle und die wunderthätigen Rosen holen.«
Sora Filomela lobte diesen frommen Entschluß nochmals auf das höchste und meinte dann:
»Warte einen Augenblick, gleich bin ich fertig. Ich glaubte nicht, daß Du so frühe gehen wolltest.«
»Ich möchte allein gehen.«
»Allein?«
»Ja.«
»Nun, wie Du willst, Kind, obgleich es sich nicht schickt, daß eine so junge Frau einen solchen Gang allein thut; auch hätte ich mich gern von dem Pater Ambrogio wieder einmal segnen lassen. Bruder Angelikus kümmert sich doch nicht mehr um uns; der ist ein zu großer Heiliger geworden.«
»Ruhig, Kind, sei nicht böse. Ich weiß ja, er ist unser lieber Bruder Angelikus und bleibt unser lieber Bruder Angelikus. Ich denke nur immer, wenn er wüßte, wie Du jetzt bist, so tiefsinnig und jammervoll, es würde ihm auch in der Seele weh thun, und er fände sicher etwas, womit er Dir, Du Arme, und uns allen helfen könnte.«
»Er hilft mir.«
»Gewiß, ich glaub's ja. Er wird gewiß für uns beten, und wenn ein solch frommer Mann einen in sein Gebet einschließt, so hilft das freilich – – Also geh mit der Madonna, meine Tochter. Denke an Mann und Kind und thue bei dem Heiligen ein Gelöbnis.«
Sie begab sich fort, um nach der kleinen Angelika zu sehen und mit der Magd das Essen zu beraten. Clelia machte sich auf den Weg.
Es war ein Morgen so voller Glanz, als wollten Himmel und Erde gemeinsam ein Fest feiern. Alles strahlte. Um das Gebirge schwebte schimmernder Dunst, die Rebenfelder prangten in Gold und Purpurfarbe.
Von aller dieser Herrlichkeit gewahrte die Pilgerin nichts; gesenkten Blickes ging sie ihren Weg, denselben, den sie in jener Nacht nach dem Besuch des Bruders mit diesem gegangen war. Sie hätte ihn mit verbundenen Augen schreiten können, so gut kannte sie ihn – so oft war sie ihn seitdem gegangen; in mancher sternenlosen Nacht, wo sie die Hand vor den Augen nicht hatte erkennen können, wo nur das Rauschen des Flusses dicht, dicht an ihrer Seite sie leitete.
Ja, der Fluß!
Jedesmal, wenn sie bis zu einer gewissen Stelle des Ufers gelangt war, mußte sie stehen bleiben, mochte sie wollen oder nicht. Dann stand sie und lauschte regungslos auf die geheimnisvollen Stimmen der Wellen, auf das Schluchzen und Gurgeln der Flut. Um besser zu hören, beugte sie sich weit über und starrte hinunter, von woher die Töne zu ihr aufdrangen. Dann geschah es wohl, daß sie sich selber erblickte: mit den Wassern ringend, in den Wassern versinkend, mit den Wogen dahintreibend. Noch sah sie sich. Noch tauchte aus den Strudeln ihr Haupt auf. Jetzt noch ein Arm und jetzt – nichts mehr.
Riß sie sich endlich los und schritt sie an der bösen Stelle vorüber, so waren ihre Füße schwer, so war's ihr, als ob sie gewaltsam zurückgezogen würde.
Als sie an die Brücke kam, wollte sie wie gewöhnlich hinüber auf die andere Seite der Schlucht schreiten. Aber sie besann sich, daß sie ja heute zu den Klöstern hinauf wollte. Mit einem tiefen Atemzug betrat sie den Felsenpfad und begann ihre Gebete abzumurmeln. Das Steigen ermüdete sie, so daß sie sich alsbald auf einen Stein am Wege niederlassen mußte. Der Platz lag unweit des ersten Klosters der heiligen Scholastika, gegenüber den Ruinen der Neronischen Villa, welche gewaltig wie die Trümmer eines Bergsturzes und nicht wie das zerstörte Werk von Menschenhänden, die Tiefe füllten und aus den Dickichten aufstarrten. Gerade Clelia gegenüber befand sich der Ort, wo seit kurzem, wie die Leute sagten, ein unheiliger Geist sein Wesen trieb. Starren Auges schaute die Rastende hinüber und dachte:
Er ist doch ein heiliger Mann. Gewaltig ist seine Rede, die Seelen aufrührend wie Sturm das Meer. Er thut ein gebenedeites Werk, wenn er mir Buße predigt, die wahre und echte. Es nützte nichts, zur Tugend zurückzukehren; man muß sein Fleisch geißeln und seinen Leib kreuzigen. Er hat es gethan, und ich muß es thun – des Kindes wegen.
Sie raffte sich auf und setzte mit neuen Kräften ihren Weg fort. Als sie zu dem ersten Kloster kam, welches herrlich, gleich einem Fürstenschloß, in der Bergeinsamkeit thronte, ging sie in die Kirche, um an dem Alter der Schwester des heiligen Benedikt diese anzuflehen, für sie bei ihrem Bruder Fürbitte zu thun, damit die Rosen an ihr und ihrem Kinde sich wirksam erweisen möchten. Aber sie traute der Macht der Heiligen nicht recht, da Santa Scholastika ja eine Jungfrau gewesen. Sie konnte ihr Leid nur zu der himmlischen Mutter tragen, welche der Welt einen Sohn geboren hatte.
Weiter ging sie den steilen Weg, der sich gleich hinter dem Kloster zum Pfad verengte. Je näher sie dem Heiligtum kam, welches die wunderthätigen Rosen besaß, desto größer wurde ihre Hoffnung: vielleicht, daß ihrem Kinde und ihr doch noch geholfen werden könnte – – Sie gedachte ihrer Mutter, die mit demselben Wunsch im Herzen denselben Weg gegangen war; aber ihre Mutter hatte das Heiligtum nur für sich selbst begehrt, während Clelia dadurch ihr Kind schützen wollte: auf daß die Sünden der Mutter an dem Kinde nicht heimgesucht würden. Dieses Wort, das im Wort Gottes geschrieben stand, brannte in dem Herzen der Mutter mit feurigen Buchstaben.
Gleich war sie da. Obwohl ringsum nur Gestein zu erblicken, befand sie sich doch dem hehren Heiligtum ganz nahe. Bereits ward das hohe weiße Steinthor sichtbar. Es führte in einen Cypressenhain, der wie ein schwarzer Schatten auf der strahlenden Landschaft ruhte.
Eben wollte sie eintreten, als ihr Leute entgegenkamen; dieselben vorüber zu lassen, wich Clelia zur Seite. Es waren Fremde vornehmen Standes, der Sprache nach Römer. Sie redeten laut und lebhaft unter einander, ohne des Weibes am Wege zu achten. Nur einer der Gesellschaft, ein noch junger, schöner Mensch, mit bleichem Gesicht und dunklen, prachtvollen Augen, schien von Clelias Anblick betroffen. Auch sie sah ihn an, mit weit offenen, entsetzten Augen, mit dem Ausdruck tödlichen Schreckens. Da er zuletzt ging, fiel es keinem auf, daß er einige Schritte hinter den anderen zurückblieb. Er stand mitten im Wege, blickte zu Clelia hinüber, doch sprach er sie nicht an. Dann folgte er langsam seinen Freunden.
Clelia schaute ihm nach, immer noch mit der Miene des Schreckens und Entsetzens. Plötzlich kam ihr der Gedanke, daß er nochmals stehen bleiben und sich umwenden könnte. Das gab ihr Kraft. Schwankend schritt sie weiter, trat durch das Thor in den einsamen, dämmerungsvollen Cypressenwald. Hier sank sie nieder, mit dem Kopf gegen einen Baum.
Also keine Möglichkeit, der Vergangenheit zu entrinnen, vor ihr sich zu retten und zu verbergen. Er hatte Recht, der heilige Einsiedler! Keine Reue half, es half weder Buße noch Sühne. Und sie hatte in dem Wahn leben können, daß Vergangenes vergangen war, daß sie ein neuer Mensch geworden mit neuem Leben und neuer Seele. Gott helfe ihr! Nein, selbst Gott konnte ihr nicht helfen.
»Clelia!«
Er war zurückgekommen, atemlos von dem eiligen Gang. Erst beim Kloster glaubte er sie einholen zu können; nun sah er sie plötzlich vor sich, beinahe daß er über ihren hingesunkenen Körper gestolpert wäre. Nochmals rief er sie an:
»Clelia!«
Sie erschauderte und verharrte in ihrer verzweiflungsvollen Stellung, ohne den Kopf zu wenden, ohne einen Ton hören zu lassen. Da beugte er sich über sie und raunte ihr zu:
»Ich habe Dich nicht vergessen können. Seitdem ich vor sieben Jahren um Deinetwillen in Rom den Mönch niederstieß, weil er Dir lieber war als ich, habe ich nach Dir gesucht. Du warst wie aus der Welt verschwunden. Wo bist Du so lange gewesen?«
Sie antwortete nicht, nur daß sie noch heftiger zitterte.
»Warum liegst Du am Boden, als ob Du sterben wolltest? Sei verständig! Ich liebe Dich noch immer, und Du bist schöner als jemals. Als ich Dich eben wiedersah, fiel mir alles wieder ein; Du wirst mir alles von Dir sagen, mir alles erklären. Wo lebst Du? Wo kann ich Dich finden? Und um welche Zeit? Heute abend?«
Aber sie sprach nichts. Er bat, flehte, drohte – sie blieb stumm. Schließlich ward er wild.
»Ich werde Dich zu finden wissen. Wir bleiben bis zum Dezember in Subiaco, droben auf dem Schloß; und – –«
Er unterbrach sich. Sie hatte ihre Hände um den Stamm geschlungen, und der Fürst gewahrte, daß sie einen Ehering trug.
»Was ist Dir eingefallen?« rief er aus. »Hast Du den Verstand verloren? Du bist verheiratet!«
Sie hatte es ihm sogleich sagen wollen; sie hatte aufstehen und ihm sagen wollen:
»Ich bin eine rechtliche Frau geworden, eines wackeren Mannes Weib. Ich verabscheue Dich und mich selbst: weil ich Dich nicht immer verabscheut habe. Nun weißt Du es und nun geh! Warum trittst Du in meinen Weg und bringst mir mein ganzes vergangenes Leben vor Augen und vernichtest mein ganzes zukünftiges Leben? Ich bin elend genug – darum geh! Ich bin nahe daran, vor Jammer von Sinnen zu kommen – darum geh!«
Das hatte sie ihm gleich anfangs sagen wollen; aber sie konnte sich nicht regen, sie konnte kein Wort hervorbringen, hatte alles mit angehört, was er ihr zugeraunt, unfähig, ihn hinwegzuweisen.
Der Fürst rief nochmals, und es klang in seinem Munde wie teuflischer Hohn:
»Die Clelia verheiratet – – Wenn ich das in Rom erzähle! Niemand wird es mir glauben. Wer ist denn der Bursche, der Dich zur Frau genommen hat?«
Jetzt erhob sie sich; mühsam, wie mit gelähmten Gliedern. Als sie aufrecht stand, wandte sie ihm ihr Gesicht zu. Dieses war von einer Blässe bedeckt, das zeigte einen Ausdruck, daß der junge Mann sich entsetzte. Aber er sah auch die hohe, in diesem Augenblick fast grausenhafte Schönheit dieses Gesichtes. Das entschied, und so rief er ihr denn zu:
»Ich suche Dich auf, ich bekomme Dich wieder; ich nehme Dich Deinem Manne fort, ich begehe – wenn Du nicht wieder zur Besinnung kommst – eine Unthat an Dir. Du weißt, daß ich schon einmal um Dich gemordet habe.«
Damit entfernte er sich.
Clelia stand und blickte dem Forteilenden nach, bis derselbe hinter einem Felsenvorsprung verschwunden war. Dann seufzte sie auf, griff an die Stirn und besann sich – – Sie war den Berg heraufgestiegen, um sich heilige Rosen zu holen. Plötzlich fiel ihr die Legende dieser Wunderblumen ein: Sankt Benedikt, da er in eine gewaltige Versuchung geführt wurde, warf sich nackten Leibes in die Dorngebüsche, die vor seiner Höhle wucherten. Kaum aber berührte der gebenedeite Leib die Dornen, als sie sich zu stachellosen Rosen wandelten, darein der Heilige wie in eine Welle blühenden Duftes versank ... Mußte, wenn sie heute das Heiligtum in der Hand hielt, nicht wiederum ein Wunder geschehen? Würden bei ihrer sündhaften Berührung die Rosen sich nicht wieder in Dornen zurückverwandeln? – –
Sie wollte ihr Vorhaben aufgeben und umkehren, ohne für sich und ihr Kind das heilige Wundermittel erbeten zu haben; es ließ sie jedoch nicht zurück, gewaltsam zog es sie dem Heiligtum zu.
Sie durchschritt das Cypressenwäldlein, trat durch eine enge und niedrige Pforte von neuem in den Glanz des Tages hinaus und stand nun dicht vor dem Kloster, das, an der Felswand haftend, über der öden Tiefe zu schweben schien. Nichts Lebendes ließ sich erblicken, kein Laut unterbrach die feierliche Stille. An dem braunen Gestein klebte braunes Gemäuer und graues Buschwerk; wilde Aloën mit mächtigen, abgestorbenen Blumenschäften brachen aus den Spalten, und wie ein rosiger Schleier hing von den Klippen, daraus das Haus des Heiligen aufwuchs, ein Rosengärtlein in den Abgrund hinab.
Clelia stützte sich auf die niedrige Brüstung, beugte sich weit über und schaute unverwandt nach der leuchtenden Blumendecke nieder; mit solchem heißen Verlangen im Blick, als wäre dort drunten ein Quell, und sie eine Verschmachtende.
Die Zeit verstrich, doch sie rührte sich nicht vom Fleck. Ein Mönch trat aus dem Kloster, blieb bei ihr stehen und redete sie an:
»Was steht Ihr hier draußen, gute Frau? Begehrt Ihr etwas von den Brüdern im Kloster?«
»Nein.«
»Aber Ihr solltet hineingehen und vor der heiligen Höhle Eure Gebete sprechen.«
»Ich bleibe lieber hier draußen.«
»Oder laßt Euch von den wunderthätigen Rosen geben. Wenn Ihr solcher Spende würdig seid, wird sie Euch sicher zu gute kommen – – Was sagt Ihr?«
»Ich sagte nichts.«
Kopfschüttelnd entfernte sich der Mönch, und Clelia nahm ihre frühere Stellung wieder ein. Allmälich nahm ihr Blick den Ausdruck tiefster Hoffnungslosigkeit an, sie wischte sich eine Thräne von der Wange.
»Es nützt mir nichts,« murmelte sie. »Sie kommen nicht zu mir, und ich kann nicht zu ihnen gelangen: ein Abgrund liegt dazwischen.«
Sie wandte sich und ging langsam davon, denselben Weg wieder zurück. Als sie bei der Santa Scholastika anlangte, vernahm sie laute Klagetöne, die aus der Kirche schallten, und beim Näherkommen sah sie einen Leichenzug sich aus der Kirche bewegen. Ein Kind wurde begraben. Der Sitte gemäß lag die kleine Leiche, ganz mit Blumen bedeckt, im offenen Sarge. Nur das kleine, blasse Gesichtchen schaute unter einer Rosenkrone aus der Blumendecke hervor. Kinder in weißen Kleidern, mit langen blauen Schleiern und Rosenkränzen trugen den kleinen Sarg; dahinter, umgeben von den Gespielinnen des gestorbenen Mädchens, schritt die Mutter, eine noch junge Frau. Viele Kinder, große und kleine, folgten, durch ihre weißen Kleider und blauen Schleier als Marientöchter bezeichnet. Alle hatten Rosen um die Stirn und trugen brennende Kerzen. Den Zug beschloß eine Schar von betenden und klagenden Weibern.
Clelia blieb stehen, um alle an sich vorüber zu lassen. Als der Sarg kam, trat sie dicht heran und schaute der kleinen Toten starr ins Gesicht, das freundlich und friedlich war, von einem Lächeln verklärt. Statt des Kreuzes hatte man ihr eine Puppe ins Händchen gelegt, ein schlechtes Ding, welches das Kind zärtlich an sich zu drücken schien. Bei dem Anblick der Puppe begann Clelia laut zu schluchzen; aber sie ward still, als sie die Mutter der Kleinen sah. Die Frau schritt mit vollkommener Ruhe dicht hinter dem Sarge einher, ohne eine Thräne, ohne eine Klage. Sie sah auf das Haupt der Toten hinab und bewegte die Lippen, als ob sie mit ihrem Kinde redete, ihm zuflüsterte, leise, kosende Worte: daß das Kind sich in seinem dunklen Grab, darin es ohne seine Mutter liegen müßte, nicht fürchten sollte, es käme in den goldenen Himmel, zu der süßen Gottesmutter, dem holden Jesusknaben und den lieben Engelein, denen es seine Puppe mitbrächte: dann würden im Paradiese alle die seligen Kindlein zusammen spielen.
Clelia schloß sich dem Trauerzug an, als letzte Klagefrau der kleinen Leiche folgend. Sie stellte sich vor: es wäre ihr Kind, ihre süße Angelika, die im offenen Sarge unter Blumen zu Grabe getragen würde; und sie fühlte, wie der Jammer sie entgeisterte, wie der Wahnsinn ihr ins Gehirn gekrochen kam. Ganz laut sprach sie vor sich hin:
»Es ist ja nicht dein Kind: dein Kind ist zu Hause bei der guten Großmutter, dein Kind lebt! Es wird jetzt in der Vigna sein, Blumen und Früchte pflücken, es wird lachen und jubeln. Oder es läuft eben jetzt zu seinem Vater. Vielleicht sucht es auch seine Mutter – Ach, mein Kind! Mein Kind lebt; es lebt – lebt!«
Niemand hörte sie, niemand achtete auf sie. Je näher der Zug der Stadt kam, um so lauter klagten und schrieen die Weiber, um so mehr Frauen schlossen sich dem Grabgeleit an. Bei der Kirchhofpforte erwartete der Priester die kleine Leiche, die von ihm in Eile gesegnet wurde. Clelias zerrüttete Phantasie sah von neuem in der Toten ihre eigene Tochter. Sie murmelte:
»Gelobt sei die Madonna! Der Priester segnet dein Kind. Dein Kind wird also nicht durch die Sünden seiner Mutter verdammt sein!«
Alsdann begaben sich alle zu dem Grabe des Kindes. Clelia drängte sich durch die Frauen bis dicht an die Gruft, schaute zu, wie der Sargdeckel aufgelegt ward, und hätte beinahe laut aufgeschrieen:
»Mein Kind, mein Kind, schließt es nicht ein in den schwarzen Kasten, laßt es im Sonnenlicht, laßt es mich noch ein einzigesmal ansehen! Ach, die Nägel, die Nägel! Jetzt treiben sie die langen, scharfen Nägel gewiß in sein Gesichtchen, in seine Händchen und Füßchen! Haltet doch ein! Hört doch auf! Ach, ihr habt meinem armen, toten Kinde ein Leides gethan!«
Dann besann sie sich wieder, daß sie ja nicht die Mutter sei, daß ihr Kind lebe. Die Mutter des toten Kindes war jene Frau, die ihr gegenüberstand und auch jetzt keine Thräne vergoß, keinen Schmerzenslaut hören ließ, während ringsum alle Weiber weinten und klagten. Wie war das möglich? Wie konnte die Frau so ruhig daneben stehen? Es gab doch gewiß keine Mutter, die ihr Kind nicht liebte; und diese Frau that, als hätte sie das Kind, das eben jetzt ins Grab gesenkt wurde, nicht unter tausend Schmerzen geboren.
Der kleine Sarg stand drunten in der engen Höhle: gar nicht tief, nur einige Schuh unter der Erde. Die Marientöchter sangen ein Lied, der Priester sprach ein Gebet, und das Grab wurde zugeschüttet.
Clelia sah die Mutter an. Sie dachte: Jetzt wird sie sich gewiß niederwerfen und mit den Händen ihr eingegrabenes Kind wieder herauswühlen, mit den Händen den Sargdeckel aufreißen – – Aber die Frau stand und blickte still hinunter, wo zu ihren Füßen das Loch sich füllte. Clelias Begriffe verwirrten sich mehr und mehr.
»Wenn es nun doch dein Kind gewesen wäre, deine Angelika – – Aber nein! Dein Kind lebt. Wenn du heute nach Hause kommst, springt es dir entgegen. Du wirst es in die Arme nehmen, es herzen und küssen; dein Kind lebt, es lebt – lebt – –«
Noch ein letztes allgemeines Jammergeschrei aller Weiber, dann gingen sie, dann ließen sie das kleine, frische Grab mutterseelenallein. Auch Clelia wollte sich entfernen, aber sie gewahrte, daß die Mutter zurückblieb. Da blieb auch sie. In geringer Entfernung setzte sie sich auf einen Stein und schaute unverwandt zu der Frau hinüber, begierig, zu sehen, was diese jetzt beginnen würde. Doch sie wurde auch jetzt enttäuscht, denn die Frau warf sich weder verzweiflungsvoll auf den Boden, noch brach sie in einen Strom von Thränen und Wehklagen aus. Eine Weile blieb sie neben dem Grabe stehen, dann kauerte sie nieder und begann sorgfältig aus der Erde die Steine zu entfernen, die sie neben sich zu einem kleinen Haufen schichtete. Voller Verwunderung sah Clelia diesem sonderbaren Treiben zu.
Da die Frau gar nicht aufhörte, auch die kleinsten Steinlein herauslas und immer wieder neue zum Vorschein brachte, begab sich Clelia endlich zu ihr und stellte sich dicht neben sie. Die Frau blickte flüchtig auf und fuhr, ohne ein Wort zu sagen, in ihrer Arbeit fort. Clelia redete sie an:
»Warum thut Ihr das?«
Die Frau erwiderte kurz:
»Wißt Ihr das nicht?«
»Nein.«
»Dann kann ich es Euch auch nicht sagen.«
Und sie suchte und suchte.
Nach einer Weile begann Clelia von neuem:
»Sagt mir doch – –«
»Ich habe zu Hause auch ein solches Kind, wie Ihr heute begraben habt, ein Mädchen, etwas über fünf Jahre alt. Ich meine, das Eure muß gerade so alt gewesen sein.«
»Gerade so alt.«
Die Mutter, mit dem Stein in der aufgehobenen Hand, blickte in die Höhe. Ihre Augen füllten sich langsam mit Thränen.
»Gerade so alt,« wiederholte sie.
»Mein Kind heißt Angelika.«
Leise erwiderte die andere Mutter:
»Was Eures Kindes Name ist, das ist mein Kind nun geworden: ein Engelein im Paradiese. Es hieß Santina.«
»Das ist auch ein heiliger Name.«
Die Frau fragte:
»Ist Euer Kind frisch und gesund? Ist es recht vergnügt? Lacht und singt es?«
»Mein Kind ist frisch und gesund. Als ich mit den anderen Frauen hinter der Leiche des Euren herging, mußte ich immer denken, daß es meine Angelika sei, und mir war's, als würde mein Gehirn von Ameisen zerstochen; ich mußte Euch immerfort anschauen, daß Ihr so ganz ruhig bliebt. Ihr habt Euer Kind doch gewiß auch herzlich lieb gehabt? Sagt es mir doch.«
Die andere Mutter sprach:
»Das will ich Euch wohl sagen. Eben weil ich mein Kind so herzlich lieb gehabt habe – es war nämlich unser einziges – bin ich so ganz ruhig, und ich bin es im Herzen mehr, als ich Euch sagen kann.«
»Ich verstehe Euch nicht.«
»Seht, es war ein unglückliches Kind, immer krank. Denn wir sind arme Leute, die in den Vignen und den Oliveten arbeiten, und ich habe jeden Sommer das Fieber. Als die Madonna mir nun das Kind schenkte – ich hatte sie viele Jahre darum angefleht – da konnte ich meinem Kinde nur schlechte Nahrung geben; auch hatte ich gerade wieder das Fieber, und zwar noch schlimmer als gewöhnlich. Das vertrug das arme Ding nicht, kränkelte und wollte nicht besser werden. Es war drei Jahre alt, ehe es laufen und sprechen lernte. Der Apotheker von Subiaco meinte, es würde in seinem ganzen Leben nicht gesund werden. Denkt Euch, das arme Ding! Für uns Eltern wäre es nun nicht so schlimm gewesen, denn wir waren glücklich, weil wir das Kind überhaupt hatten; ich mußte aber immer daran denken, daß es sein Leben lang elend bleiben sollte. Da sprach ich mit meinem Mann und sagte ihm: ›Für das Kind wäre es besser, wenn es stürbe. Denn sieh, jetzt ist es noch unschuldig und sündenlos, und wenn es nun stirbt, so kommt es in das Paradies zu den lieben Engelein und die Madonna macht es gesund.‹ Mein guter Mann weinte bitterlich, aber er sagte auch: ›Für das Kind wäre es das beste, es stürbe.‹ Und wir weinten beide zusammen. Nun hatten wir unsere Santina unter die Marientöchter aufnehmen lassen, wodurch sie ein Kind der himmlischen Jungfrau selber geworden war. So betete ich denn zu meines Kindes zweiter Mutter, daß sie es zu sich nehmen möchte, denn das sei für das Kind besser, als wenn es bei seiner irdischen Mutter bliebe. Ach, und seht, gute Frau, ich hatte die Gottesmutter noch gar nicht lange gebeten, als sie sich das Kind holte. Jetzt werdet Ihr gewiß verstehen, warum ich so ruhig und beinahe glücklich bin: eben weil ich mein Kind so herzlich lieb gehabt habe, und weil ich nun weiß, daß mein Kind im Paradiese ist bei seiner Gottesmutter und den anderen seligen Kindern, seinen Schwestern und Brüdern. Und das glaubt mir: Wenn es Eurem Kind auf Erden nicht gut ergeht, so solltet Ihr, wie ich gethan habe, Tag und Nacht die Madonna bitten, Euer Kind zu sich zu rufen, damit es glücklich und selig werde. Gehört Eure Angelika zu den Marientöchtern?«
»Freilich! Aber ich habe noch gar nicht daran gedacht.«
»An was habt Ihr noch nicht gedacht?«
»Nun, an das, was Ihr sagtet, daß mein Kind eigentlich der Madonna gehört, und daß, wenn mein Kind zu seiner himmlischen Mutter kommt, ihm die Sünden seiner irdischen Mutter nichts mehr anhaben können.«
»Nein, dann ist es glücklich.«
»Dann ist es glücklich. Ich danke Euch.«
»Wofür?«
»Nun, dafür. Ich weiß schon, wofür ich Euch danke – – Darf ich Euch helfen, die Steine abzulesen?«
»Nein, das muß ich allein thun. Seht, das ist das Einzige, was ich für mein Kind noch thun kann.«
»Das ist wahr. Lebt wohl!«