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»Man muß etwas wagen –« sagte General Segur zu seinem Stab, der sich um ihn versammelt hatte. »Meine Herren – jetzt sitzen wir seit einer Woche in der Falle und lassen dem Feind Zeit, sich zu verstärken. Es dürfte Ihnen nicht unbekannt sein, daß der Gemahl der Königin mit Hilfstruppen heranrückt –«
»Gewiß!« sagte der Duc de Chastel, »hab ich doch selber unsern Spion noch glücklich hereingelassen, der uns diese wertvolle Nachricht gebracht hat. Damals konnte man noch ein wenig vors Tor hinaus –«
Segur nickte. »Nun also –« fuhr er fort. »Wenn die Truppen des Herzogs noch zu denen Khevenhillers stoßen – dann können wir uns auf etwas von Beschießung und Sturm gefaßt machen … Nein, meine Herren – wir wollen ihnen zuvorkommen! Einen Ausfall machen! Uns Luft verschaffen, daß wir uns wieder verproviantieren können … Hunger in einer belagerten Stadt ist ein sehr gefährlicher Bundesgenosse des Gegners … Wenns uns glückt, daß wir den Ring, der diese Stadt umschnürt, zersprengen könnten – wenigstens auf einer Strecke – bevor der Herzog mit seiner Hauptmacht anrückt: das wär das Richtige!«
Er sah im Kreis umher; auf allen Gesichtern las er Zustimmung. Warum sollte man es nicht wagen? Man war ja stark – und dies tatlose Dahocken hatte schon viele, besonders die jüngeren Anführer, vergrämt und ungeduldig gemacht. Segur warf befriedigt den Kopf in den Nacken.
»Wohlan, meine Herren! – Keine Zeit mehr verlieren … Ich habe bereits meinen Plan zusammengestellt – und nun hören Sie!«
Und er setzte ihnen rasch und klar auseinander, wie er sich den Ausfallsplan dachte. General Jacques sollte mit 300 Infanteristen und dem Reiterregiment Royal, geführt vom Obersten Perille, einen Ausfall in der Richtung nach Gallneukirchen machen. Das war der leichtere Teil des Unternehmens, weil Segur die Brücke fest in der Hand hatte: die Truppen konnten mühelos ins Urfahr hinübergelangen; dort standen von den Feinden nur einzelne Wachen, um die Straße nach Böhmen zu sichern. Aber man wollte der Donau entlang ziehen und dann, nordwärts abschwenkend, auf einer kleinen Straße, die über die waldigen Berge führte, bis nach Gallneukirchen gelangen. Von dort sollte, wenn es die Abwesenheit des Feindes zuließ, tüchtig Proviant gesammelt werden – und dann wieder zurück in die hungrige Stadt.
»Wenn ich gesagt habe, Herr Oberst,« wandte sich Segur an Perille, den schneidigen Reitersmann, »Ihre Aufgabe sei die leichtere, so muß ich auch hinzufügen, daß sie sehr wichtig ist – eben wegen der Möglichkeit, uns durch Beschaffung von Lebensmitteln neue Kräfte zum Ausharren zu schaffen.«
Perille nickte ihm lebhaft zu. »Noch in der Nacht brechen wir auf –« sagte er. »Bis es grau wird, sind wir schon weit. Mein General – Sie werden mit uns zufrieden sein!«
»Und die zweite Ausfallsgruppe richtet sich gegen Kleinmünchen – wenn möglich gegen Ebelsberg.« Segur sagte das sehr ernst. »Und das ist das schwere Stück Arbeit! – Sie müssen trachten, rasch an den Feind heranzukommen und dann müssen Sie ihm ein Treffen liefern, das ihn schwächt und zum Zurückgehen zwingt. Sie, Monsieur le Duc –« wandte er sich an du Chastel, »werden diese Truppe führen …«
Chastel verbeugte sich. »Mit wieviel?« fragte er nachdenklich. Er überschlug rasch und sagte dann: »Zweitausend Fußsoldaten und ein paar Hundert Reiter – vielleicht 400?«
»Nehmen Sie noch zweihundert dazu –« sagte Segur lebhaft. »Für das Kommando der Reiterei teile ich Ihnen den Grafen de Comingo zu. Der jammert ohnehin schon immer über das ewige zu Fuß Gehen und Sitzen …«
Die Herren lachten. »Allezeit ists im Sattel am besten –« lachte auch Comingo, ein kleiner, munterer Gascogner. »Drauf und los!«
Jetzt wurde aber Segur gleich wieder ernst. »Herr Herzog, ich muß Sie noch auf etwas aufmerksam machen. Vergessen Sie nicht, daß jede Kriegsunternehmung eine Rechnung mit einer Unbekannten ist … In Ihrem Fall: wieviel von den Königlichen stehen gerade in diesem Abschnitt? Ihr Nachrichtendienst war ja sehr gut – aber nun, jetzt sind wir nicht mehr so klarsehend über die Kräfte des Gegners, wie noch vor zwei Wochen … Wenn sie dort schon zu stark sind, dann ändert sich natürlich Ihre Aufgabe: rechtzeitig loslösen, damit wir ohne allzuschwere Verluste durchkommen. Sie verstehen?«
Der Herzog nickte. »Sie sagten, mein General: man muß etwas wagen! Ich bin bereit. Und wann?«
»Heute Nacht.« Segur sagte es rasch und bestimmt. »Leben Sie wohl meine Herren und gehen Sie mit alter Tapferkeit an Ihre Arbeit!« Er verabschiedete sich von ihnen und wandte sich wieder seinem Schreibtisch zu, der mit Karten und Schriftstücken bedeckt war. –
Während sie über die breite Treppe hinabstiegen, näherte sich Kersaint dem Herzog. »Eine Bitte, mein Oberst –« sagte er in dienstlichem Ton. »Nehmen Sie mich mit auf Ihre Expedition. Lassen Sie mich mit Comingo reiten …«
Der Herzog sah den jungen Offizier wohlwollend an. »Sie sind sehr tapfer, Vicomte –« sagte er. »Sie hätten es eigentlich nicht so nötig – da Sie doch der Bewachungsgruppe des Schlosses zugeteilt sind. Und ich fürchte, es wird eine ziemlich wüste Sache werden … Nun – wie Sie wollen! Ihr Freund Pranck ist auch von der Partie …«
Kersaint verneigte sich dankend; dann trennten sich die Herren. Der Abend sank rasch nieder und ein jeder hatte für das bevorstehende Unternehmen noch dies und jenes vorzubereiten. Man mußte sich eilen. –
Die Kälte hatte bedeutend nachgelassen; naß und grau lagerte der Nebel in den engen Gassen der Altstadt, wohin jetzt Pranck und Kersaint ihre Schritte lenkten. Sie schwiegen beide, nur einmal sagte Pranck: »Ich mein, das wird morgen ein heißer Tag werden!«
Kersaint nickte stumm. Sie standen jetzt vor Tanns Haus, es lag still da, fast unheimlich tot sah es aus; in den Fenstern, die gegen die Gasse zu gingen, war kein Licht zu sehen. Die Mädchen waren beim Vater, die Besuchsräume waren abgeschlossen. Wo waren die Abende dieses Herbstes mit ihrer harmlosen Geselligkeit und dem trügerischen Hoffnungslicht, das damals Kersaints Herz erwärmt hatte? –
Gut – morgen wird es ernst … Mag ihn eine Kugel treffen; es wird ihm ganz gleich sein. Niemand in Frankreich wird um ihn, der ganz allein auf der Welt dasteht, weinen – denn die paar entfernten Verwandten, die bei Hofe leben und sich eigentlich nie viel um ihn gekümmert haben, die zählt er nicht … Und auch hier wird er rasch vergessen sein. Romana wird für ihn beten – hat sie gesagt. Das wird alles sein …
Auf einmal graute ihm vor dem Alleinsein. »Wir setzen uns noch bei einem Glase Wein zusammen, Benno –« sagte er zu Pranck, als sie die Treppe hinaufstiegen. Dieser nickte. »Ist recht …« sagte er. »Wer weiß, obs nicht unser letzter guter Tropfen ist!« –
*
In dem häßlich-trüben Schimmer, mit dem eine flackernde Laterne am Wassertor das feuchte Dunkel der Winternacht noch mehr verdüsterte, statt es zu erhellen, bewegte sich ein langer Zug der Brücke zu. Berittene Männer und solche zu Fuß. Die Hufe der Pferde klapperten auf den hölzernen Bohlen der Brücke, leise rasselten die Sperrtore, wie sie nun geöffnet wurden … Rasch war der mächtige Strom, auf dem vereinzelte Eisbrocken dahintrieben, überschritten; am linken Donauufer ging es nun dahin – aber nicht lange: dann schwenkte der Zug ab. General Jacques, der neben dem Obersten Perille, dem Reiterführer, dahintrabte, wies nach Norden. Das Abenteuer begann …
Der Weg war gefroren, man kam ziemlich rasch vorwärts. Im Wald hieß es sorgfältig achtgeben, daß die Pferde nicht stolperten. Da ging es langsamer. Als es grau wurde, sahen sie im Tal der Gusen den kleinen Markt Gallneukirchen vor sich liegen.
»Also jetzt besetzen wir flink das Nest –« sagte der General zu Perille. »Und hoffentlich bringen wir dann auch etwas zum Beißen wieder zurück. Wenn wir nur genug auftreiben!«
Zur gleichen frühen Morgenstunde war die zweite Abteilung der Ausfallenden, jene, die gegen Kleinmünchen zogen, schon durch die schlafstille Vorstadt marschiert, an Neuhäusel vorbei und am Siechenhaus Straßfelden, das noch von keinem Lichtschimmer erhellt war. Und auch beim Einkehrgasthaus »zum goldenen Ochsen«, das schon länger als ein Jahrhundert der Stadt gehörte und das die Leute auch Herrenhaus hießen, weil da reisende Herren abzusteigen pflegten, sofern sie nicht Landstände waren und in der Herrengasse Häuser besaßen, die eben von diesen den Namen trug – auch vor dem großen Einfahrtstor dieser Herberge, die ihre ebenerdigen Nachbarhäuschen um zwei Stockwerke überragte, war es totenstill und ausgestorben. Wer reist in eine Stadt, die vor Belagerung und Fall steht? –
Kersaint und Pranck ritten nebeneinander, sie führten jene Abteilung Kavallerie, die den Beschluß des Zuges bildete. Diese letzten Monate, die sie miteinander verbracht hatten, hatten aus ihnen gute Kameraden und Freunde gemacht. Dem Bayern hatte die heitere Frische des Bretonen gefallen und diesem des andern gesetztes und wackeres Wesen. Jetzt war es fast umgekehrt geworden. Kersaint war und blieb düster. Und Pranck machte sich seine eigenen Gedanken darüber. Er selber dachte in dieser Stunde nicht mehr an den Tod, als es eben ein Kriegsmann tut, wenn er einem Gefecht entgegengeht. Aber Kersaint redete, wenn er überhaupt etwas sagte, immer nur vom Sterben.
»Ich habe ein Gefühl, als ob mir heute noch etwas Besonderes bevorstehen sollte –« sagte er gerade jetzt. »Lieber Benno – wenn mir etwas passieren sollte, und es Ihnen möglich ist, so tun Sie mir einen Gefallen: in der inneren Brusttasche meines Rockes ist ein Brief – den übergeben Sie Mademoiselle Romana.« Seine Stimme klang gepreßt, als er fortfuhr: »Und bitte – fragen Sie mich nicht weiter …«
Pranck begriff; manchmal schon war eine Ahnung in ihm aufgestiegen, als ob sich etwas vorbereite und erfülle, was nicht zu Kersaints Heil sei … Ein wenig Liebesspiel – lieber Himmel, das würzte den Krieg und die Einquartierung. Pranck war nicht leichtfertig – aber mit der schönen Petronella ein Küßchen zu tauschen, ein paar galante Redensarten sich zuzuflüstern – dem wäre er gewiß nicht abgeneigt gewesen. Schade, hatte er in der letzten Zeit hin und wieder gedacht, daß dies Mädchen womöglich noch abweisender und in sich gekehrter war, als ihre Schwester … Nun, die tat recht daran – die war ja die Braut des stattlichen Husaren, der mit dem Grafen Gerani gekommen war, und die Aufforderung zur Übergabe gebracht hatte … Der arme Kersaint kann sein Ziel nicht erreichen – und wir nicht den Sieg … dachte Pranck bei sich. Wir werden die Stadt nicht halten können – in diesem Stück bins ich, der ein Vorgefühl hat! Aber mich, mich triffts nicht so tief, wie ihn …
So nickte er dem Kameraden auf seine Bitte nur schweigend zu. Dann setzten sie ihre Pferde in raschere Gangart; der ganze Zug begann in lebhaftere Bewegung zu geraten. Man näherte sich jetzt jener Stelle, wo die Straße nach Wels abzweigt. Von Ferne konnten sie schon aus den Häusern von Kleinmünchen feine blaue Rauchsäulen in den grauen Morgenhimmel aufsteigen sehen.
»Also, jetzt müssen wir in den Ort hinein,« sagte der Herzog, der seine Offiziere zu sich hatte heranholen lassen. Die Pferde trappelten unruhig hin und her, weiß stieg der Atem ihrer Nüstern in die kalte Luft. »Mir scheint, sie erwarten uns dort … Ich dachte nicht, daß sie uns so ruhig bis hieher kommen lassen werden. Stehen sie noch drüben in Ebelsberg?« Er dachte scharf nach. »Meine Herren – aber über den Fluß wollen wir nicht gehen – das könnte einen gefährlichen Rückzug abgeben – –«
Graf Comingo ließ seine Reiter in zwei Gruppen auseinanderschwenken. Sie sollten die Infanterie in die Mitte nehmen. »Schade!« sagte der lebhafte Gascogner, »daß wir nicht noch mehr Berittene haben!« Und er richtete seine kleine Gestalt höher im Sattel auf. »Ihr Plan ist sehr gut, mein Oberst!« Und er gab das Zeichen zum Vorrücken.
Ein paar Minuten ging es rasch dahin – die Fußtruppen an den Flügeln gedeckt von Reiterei. »Noch immer kein Feind?« wollte Pranck, der jetzt mit Kersaint an der Spitze neben dem Herzog ritt, gerade sagen – da brach es los: wie ein Ungewitter fuhr es aus Kleinmünchen heraus – die Königlichen! Ein ganzes Dragonerregiment, eins der Besten, Prinz Eugen geheißen, unter dem Befehl des Obersten Grafen Gros … Es war eine erlesene Truppe, die sich den Anrückenden entgegenstellte. Und nach einer halben Stunde heftigsten Kampfes erkannte der Herzog, daß von einem Durchbruch, einem Zurückschlagen des Gegners keine Rede sein konnte. Immer neue Truppen strömten von allen Seiten herbei. Seine Leute fochten tapfer – aber du Chastel erkannte, daß es für ihn jetzt nur mehr eines gab: sich möglichst rasch und ohne größere Verluste loszulösen und schnell wieder die bergende Stadt zu erreichen. Es war klar: der Ausfall war gescheitert, zurückgeschlagen, aber man konnte noch die Truppen retten.
Das Gefecht hatte sich außerhalb den Ort gezogen, der Vormittag war weit vorgerückt. Aber auf einmal – da – was war das? Trompetengeschmetter – wildes Schreien – und jetzt rollte eine feindliche Übermacht die Kavallerie an den Flügeln auf, die sich bisher leidlich behauptet hatte: von Ebelsberg herüber stürmten die Grünen Husaren auf die sich schon zum Rückzug wendenden Bayern und Franzosen los.
Und gar bald war es kein Rückzug mehr, sondern eine klägliche Flucht. Wild fluchte Graf Comingo, immer wieder rief er es: »Hätten wir nur mehr von den Reitern mitgenommen!« Solche Übermacht zu finden, das hatten sie nicht erwartet. Der sonst so vorsichtige Segur hatte die Macht der Gegner unterschätzt …
Als die französische Kavallerie aufgerieben war – nur wenige Offiziere und Soldaten konnten sich durch Flucht retten – ging es über die nun ihrer Seitendeckung beraubte Infanterie. Sie wurde niedergetrampelt, vernichtet, so verzweifelt sie auch um sich schossen und hieben … Und rasch löste sich jede Ordnung auf; der Rest der Geschlagenen entfloh nach Linz zu. Bis vor die Palisaden verfolgten sie die Sieger … Es stand an einem Kleinen, daß die Österreicher nicht ihnen nach und in die Stadt gedrungen wären. Aber das zu verhindern, gelang noch dem Herzog; im letzten Augenblick des Gefechtes traf ihn eine Kugel – lautlos sank er von seinem treuen, ebenfalls schon verwundeten Roß …
In einem Hause Kleinmünchens waren sie eingesperrt, die gefangenen Offiziere; mit geballten Fäusten lehnte der kleine gascognische Graf Comingo an der Wand, er war unverwundet – aber sein Kamerad, der Dragoneroberst Bermond, lag schwerverwundet in Todesnöten neben ihm. Zwei Hauptleute und mehrere jüngere Offiziere standen daneben, finsteren Blicks; und draußen im Schnee, zusammengetrieben wie eine Herde, dreihundert Mann Gefangene. –
Comingo kniete neben dem Sterbenden und hielt seine Hand; er war mit Bermond eng befreundet gewesen. Ein Leutnant trat hinzu. »Das war ein Tag,« sagte Comingo leise, zu ihm aufschauend. Und als sich Bermond röchelnd ausstreckte und auf einmal lang und starr dalag, stand der kleine Graf langsam auf und faltete die Hände zu stummem Gebet. Und die anderen taten es ihm nach …
»Was wird jetzt werden mit uns und mit der Stadt?« fragte der junge Leutnant. Comingo zuckte die Achseln. »Hätten sie mir nicht meinen Braunen unter dem Leib weggeschossen – mir wäre es auch geglückt, zu entkommen –« murrte der junge Offizier. »Widerlich, das Gefühl: ein Gefangener zu sein …«
Comingo fluchte, sehr leise, aus Rücksicht auf den Toten. Sie traten von ihm weg. Draußen hörte man den taktmäßigen Tritt der Grenadiere, die die Gefangenen bewachten.
»Haben Sie etwas gesehen von Kersaint?« fragte nach einer Weile auf einmal der kleine Graf. Der Leutnant schüttelte den Kopf. »Ich habe ihn abspringen sehen – auch sein flandrischer Falb ist weg – und ein baumlanger Grenadier drang auf ihn ein. Verwundet muß er jedenfalls sein –«
Ein Hauptmann trat hinzu. »Vom Vicomte weiß ich nichts – aber den Herrn von Pranck habe ich noch gesehen – unter denen, die mit dem Herzog weggekommen sind …«
Dann schwiegen sie wieder. Dumpfer Unmut lagerte über dem kahlen, kalten Raum; es war eine Bauernhütte, die man geräumt hatte, um sie unterzubringen. So gingen die Stunden hin. –
Und denen, die gegen Gallneukirchen sich gewendet hatten, war es um nichts besser ergangen: Sie hatten zwar in den Markt eindringen und ihn besetzen können, aber nicht für lange: dann eilte der wachsame Oberst Freiherr von Ebersfeld herbei, der den ganzen Bezirk um Freistadt herum fest in der Hand hielt – und seine tapferen Leute, Niederösterreicher und Ungarn, machten gar bald den Feinden den Garaus. Im mörderischen Kampf mußten sie sich zurückziehen und verloren etliche hundert Mann, ehe der schützende Waldweg sie wieder aufnahm und wohin ihnen der kluge Gegner nicht folgte. Dem war es genug, den Ausfall vollkommen vereitelt zu haben.
Dort am Waldesrand hauchte Oberst Perille sein Leben aus mit durchbohrter Lunge, getroffen vom Bajonett eines ungarischen Infanteristen. Der ebenfalls schwerverwundete General Jacques nahm den Toten mit sich auf dem traurigen Zug, der wieder nach Urfahr zurückführte.
Und dann ritten sie wieder über die Brücke in Linz ein. Die Fallgitter rasselten höhnisch – es klang wie das Scharren der Seile, an denen ein Sarg in die dunklen Tiefen des Graben gleitet …
*
Es war kaum das Mittaggebetläuten von den Türmen von Linz verklungen, da kamen schon die ersten Flüchtlinge vom Korps des Herzogs wieder in die Stadt zurück, Versprengte, die die anrückenden Husaren vor sich hergetrieben hatten; sie brachten den Bürgern von Linz die erste Kunde von der Niederlage ihrer Zwingherren. Und als dann der Rest – immer noch eine ansehnliche Schar – von denen ankam, die in der Nacht so flink und mutig ausgezogen waren, da gab es bald kein Haus mehr in der Stadt, in welchem nicht heimliche Freude herrschte und die Ereignisse mit allen Folgerungen, die sich daran nun knüpften, eifrig besprochen wurden. Wo sich die Einquartierung manierlich und rechtschaffen aufgeführt hatte, wurden sie sogar von den gutmütigen Linzern bedauert …
Auch im Hause Tann war es so. Früh am Nachmittag kam der kleine Pariser, Kersaints Reitknecht, angehinkt, zerschunden, blutig und halb erfroren. Er hatte einen Stich ins Bein bekommen und sah jämmerlich aus. Ludmilla nahm sich seiner an. Er hockte in der Küche und erzählte, wie er seinen Gebieter habe mit dem Pferd stürzen gesehen. Er habe ihm nicht helfen können, denn gerade da sei er gestochen worden und zusammengefallen. Aber ein alter Soldat aus des Vicomtes Abteilung, der dann mit ihm die Flucht ergriffen habe, der wisse es ganz sicher, weil er es gesehen hatte: daß der unter seinem Roß liegende Vicomte von einem baumlangen ungarischen Kerl in den Kopf geschossen worden und getötet sei … Und der wackere Bursch hatte die Augen voll Tränen, als er das der entsetzt zuhorchenden Ludmilla erzählte. Er war seinem Herrn aufrichtig ergeben gewesen.
»Ist schad um den jungen Herrn, war immer höflich und hat nichts Unbilliges verlangt –« sagte Frau Barbara und stellte dem Pariser ein Schüsselchen hin. »Und was ist mit dem Herrn von Pranck geworden?«
Der Franzose, der bereits ein wenig Deutsch verstand – dank Ludmillas Gesprächigkeit und Bemühungen – konnte nur sagen, daß er von dem Freund seines Herrn weiter nichts wußte. Es war ein mörderisches Gewühl und Durcheinander gewesen – es hatte geheißen: renn um dein Leben! Das hatte der kleine Pariser redlich besorgt … Nein – von Herrn von Pranck konnte er beim besten Willen nichts melden …
Und während die barmherzige Barbara dem Pariser etliche alte Lappen gab, und ihm beim Verbinden seines Fußes half, ging Ludmilla mit der Neuigkeit von Kersaints Tod hinauf zu ihren jungen Damen.
Heute hatte Herr von Tann gerade einen sehr schlechten Tag; der Husten tat so weh, erpreßte ihm Schmerzenslaute und das Fieber begann am Nachmittag schon wieder. Der Arzt hatte ihm einen beruhigenden Trank gegeben – jetzt lag er in unruhigem Halbschlummer. Ludmilla öffnete vorsichtig die Tür des Krankenzimmers und winkte der in der Fensternische sitzenden Romana zu. Sie erhob sich leise und trat zu Ludmilla ins Vorgemach.
»Denken Sie sich nur, Fräulein Romana, jetzt ist der Herr Vicomte tot!« sagte Ludmilla. Im Eifer, Neuigkeiten erzählen und anbringen zu können, merkte sie nicht, wie ihre Herrin mit der Hand nach dem geschnitzten Türrahmen tastete und schneebleich wurde … Aber es gelang Romana, diese Schwächeanwandlung zu überwinden. Nur sich nichts anmerken lassen vor der Zofe! Scheinbar unbewegt hörte sie zu, wie das Mädchen alles berichtete, was sie vom Reitknecht über das Ende seines Herrn erfahren hatte.
Auch Petronella war zu ihnen herausgetreten – aber der entging es nicht, wie es um die Schwester stand. Sie sah, wie ihre Hand sich krampfhaft um den Türgriff klammerte, wie sie mit bleichen Lippen mit sich rang, um keinen Laut von sich zu geben – wie ein ungeheurer, ihr immer mehr bewußtwerdender Schmerz ihr Gesicht starr und wie tot werden ließ … Und jetzt wußte Petronella genug. Sanft legte sie die Hand auf den Arm der Erstarrten und sagte: »Komm, Roma – gehen wir wieder hinein zum Vater … Hier ist es viel zu kalt für dich und mich. Wir sind beide übernächtig – hast ja heute Nacht fast nichts geschlafen …« Und mit diesen Worten zog sie die Schwester mit sich ins Zimmer zurück, indes Ludmilla die Treppe hinablief, begierig, noch mehr an Neuigkeiten zu erkunden. –
Der Anblick des in den Kissen schweratmenden Vaters, der jetzt die Augen aufschlug, gab Romana jene Kraft, deren sie in diesem Augenblick bedurfte. Mit einer Gewalt, die ihr bis in die Tiefen ihres Wesens weh tat, gab sie sich einen Ruck, und ihre Stimme klang fast unverändert, als sie nach den Wünschen des Kranken fragte. Herr von Tann brauchte nichts. Sie solle sich nur wieder ruhig zu ihm setzen – ihre Nähe tue ihm gut …
Petronella beobachtete die Schwester; sie schien sich jetzt wieder gefaßt zu haben. Nichts reden wird das Beste sein, was ich ihr in dieser Lage erweisen kann, dachte Nella. Und so weigerte sie sich auch nicht, als Romana sie bat: »Nellaherz – geh hinunter in unser Zimmer – leg dich ein bißl hin! Schau – ich bleibe jetzt beim Vater – und wenn du geschlafen hast, kannst mich ja dann gegen Abend ablösen.« Sie will allein sein, dachte Petronella – und ging, ohne ein Wort zu sagen. –
Und nun war Romana allein mit dem Kranken, bei dem jetzt doch der Trank zu wirken begann. Sie saß noch neben seinem Bett – eine kleine Weile, bis sie merkte, daß er fest schlummere: dann glitt sie leise wieder in die Fensternische, sank in dem hochlehnigen Stuhl nieder und stützte schwer ihren Kopf auf das Fensterbrett.
Einen Augenblick allein sein – den rasenden Schmerz, den man nicht zeigen darf, empfinden und auskosten – ach, wie schwer das Herz schlägt, wie die Tränen, denen sie keinen Lauf lassen darf, brennen! Maurice – Maurice – tot bist du … Vielleicht weißt du es jetzt, wie meine Seele um dich weint – – –
So lag sie wohl eine halbe Stunde lang. Mühsam sammelte sie dann ihren Willen, ihre Gedanken. Eines war ihr geblieben: die Erinnerung! Jetzt durfte sie an den Geliebten denken – jetzt war es kein Unrecht mehr, nun er nicht mehr unter den Lebenden weilte … Dem Toten, Weltentrückten, durfte sie alle Gedanken, alle Empfindungen, alle Sehnsucht geben, die sie dem Lebenden verweigern hatte müssen … Jetzt durfte sie ihm gehören – in der Abgeschiedenheit ihrer Gedanken …
Stunde um Stunde verging. Romana erneuerte den kühlen Umschlag, der auf dem fiebernden Haupt des Kranken lag, reichte ihm die Arznei, rückte ihm die Kissen zurecht. Und zwischendurch rief sie sich jedes Wort des Toten zurück, jeden Blick. So lange hatte sie ihre Liebe unterdrücken müssen, daß ihr sogar dies Rückwärtsschauen zum Glück wurde – zu einer wehen Seligkeit, der sie sich immer schrankenloser hingab.
»Maurice – Maurice –« flüsterte sie immer wieder unhörbar vor sich hin. Und dann begann sie für den geliebten Toten zu beten – mit der ganzen Leidenschaft, deren ihr zu tiefst aufgewühltes Wesen fähig war …
Sie merkte es kaum, wie das Dämmern hereinbrach, wie Petronella mit der Lampe kam. Stumm saßen sie dann nebeneinander. Petronella streifte kosend über der Schwester eisigkalte Hand, wollte etwas sagen. Da sah sie Romana an – eine so flehende Bitte lag in ihrem Blick, daß Nella schwieg.
Dann ging sie. »Der Johann bleibt heut Nacht beim Vater –« flüsterte sie Romana zu – »im Nebenzimmer wird er sitzen. Du kannst dann unbesorgt dich niederlegen … Folg mir, damit du morgen wieder bei Kräften bist.«
Romana neigte nur zum Zeichen des Einverständnisses das Haupt. Ganz in sich versunken saß sie da …
*
Wieder nach einer oder zwei Stunden – Romana hatte das Gefühl für den Ablauf der Zeit gänzlich verloren – trat vorsichtig der alte Hausdiener Johann zu ihr. Er deutete auf den nun fest schlummernden Herrn. Und deutete dann auf sie – dann auf die Türe … Ja, Romana verstand, sie sollte nun gehen, die durch lange Krankenwartung wohlverdiente Ruhe aufsuchen. Und plötzlich wollte sie das. Eine Müdigkeit, die an Ohnmacht grenzte, kam über sie … Ja – schlafen, nichts mehr wissen – – Oder doch: von ihm wissen, von ihm träumen … Romana taumelte vor Schwäche, als sie sich erhob und der Türe zuschritt. Mitleidig sah ihr der alte Diener nach.
Dann stand sie draußen, empfand die schneidende Kälte der Winternacht, die das große alte Haus durchzog. Dürftig erhellte der Schein einer kleinen Lampe die Treppe. Ganz still lag das Haus – alles schlief. Nein – da kam noch jemand: als Romana den Fuß auf die letzte Stufe setzte, vernahm sie Tritte – und da kam eine Gestalt von unten herauf.
Eine hohe Männergestalt – silbern funkelte es im matten Dämmerzwielicht von seinem Gewande – und plötzlich stand Romanas Herz still …
Der Mann, der da jetzt vor ihr stand, knappe zwei Schritte entfernt – der jetzt den Blick zu ihr hob und in jäher Hingerissenheit des Erkennens die Arme nach ihr ausstreckte: es war Kersaint …
Sie stöhnte auf – taumelte ihm entgegen. »Maurice – Maurice – –« Dann sank sie in seine Arme, die sie mit wütender Glut umschlossen …