Edgar Wallace
Geheimagent Nr. 6
Edgar Wallace

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5

So wurde Tre-Bong Smith in das Haus Cäsar Valentines eingeführt. Die Sache hätte für ihn gefährlich werden können, wenn die Polizei Nachforschungen über den plötzlichen Tod Ernests angestellt hätte. Aber es war bekannt, daß der Mann von Zeit zu Zeit epileptische Anfälle hatte und sich ab und zu entsetzlich betrank. Bei mehreren früheren Gelegenheiten hatte Cäsar bereits den Arzt rufen müssen, um ihn wieder zum Bewußtsein zu bringen.

Smith konnte nur vermuten, was Ernest zugestoßen war. Sicher hatte er in den frühen Morgenstunden wieder einen Anfall gehabt, war aufgestanden und zu dem Fremdenzimmer gegangen. Cäsar erklärte, daß er früher dort geschlafen hätte und daß ihn der Mann in seiner Not sicher um Hilfe bitten wollte. Die Worte »Cäsar, Cäsar!« bewiesen das ja auch.

Die üblichen Nachforschungen wurden von der Polizei angestellt, und Smith war erstaunt, wie leichtgläubig die Beamten die Erklärung Valentines hinnahmen. Solange sie im Haus waren, wurde Smith in einem kleinen Turmzimmer versteckt, das in der äußersten Ecke des Gebäudes lag. Die schweigende Madonna Beatrice brachte ihm sein Essen; andere Dienstboten sah er nicht.

Am Abend wurde er wieder in den großen Salon gerufen. Cäsar saß dort in einem bequemen Sessel, rauchte eine große Zigarre und las in einer Sammlung von Gedichten. Als Smith eintrat, sah er auf und lud ihn ein, Platz zu nehmen.

»In ein oder zwei Tagen will ich Sie aus Frankreich hinausschaffen. Hoffentlich sind Sie durch die Geschichte nicht nervös geworden? Sie ist wirklich sehr unangenehm.«

»Ja, für uns alle«, erwiderte Smith, nahm eine Zigarette vom Tisch und steckte sie an. »Sie haben gestern natürlich noch mit ihm gesprochen, nachdem wir uns getrennt haben?«

Cäsar runzelte die Stirn.

»Warum sagen Sie ›natürlich‹?«

»Weil er starb«, entgegnete Smith schroff. »Sie waren mit ihm zusammen, tranken noch ein Glas Wein mit ihm – und dann starb er.«

Valentine schwieg eine Weile.

»Wie kommen Sie darauf?« fragte er dann und sah Smith direkt in die Augen.

»Ich habe drei Jahre Medizin studiert, und im Verlauf dieser drei Jahre habe ich auch ein Gift kennengelernt, das tödlich wirkt, aber keine Spuren hinterläßt. Nur an Begleitsymptomen kann man es erkennen, und ich habe gesehen, daß Ernest daran gestorben ist.«

»So, haben Sie das gesehen?«

Smith nickte, und Cäsar lachte, als ob er sich darüber amüsierte.

»Dann benachrichtigen Sie am besten gleich die Polizei«, sagte er spöttisch.

»Ich habe allen Grund, das nicht zu tun«, erwiderte Smith kühl. »Aber ich halte es für richtig, daß zwischen uns beiden Klarheit herrscht. Legen Sie Ihre Karten auf den Tisch, wie ich es bereits getan habe.«

Cäsar erhob sich schnell und ging im Zimmer auf und ab.

»Sie sollen alle meine Karten zu gegebener Zeit sehen. Ich brauche einen Mann wie Sie, einen Mann ohne Herz und ohne Mitleid. Und eines Tages werde ich Ihnen ein großes Geheimnis verraten.«

Smith sah ihn merkwürdig an.

»Ich will Ihnen Ihr Geheimnis sofort sagen«, erklärte er langsam und zeigte auf das Wappen über dem Kamin. »Warum ist das hier angebracht? Warum sind die Bourbonlilien und das C in den Teppich gewebt, Mr. Valentine? Ich weiß allerdings nicht, ob Sie geisteskrank oder klar im Kopf sind.« Smith sprach langsam und überlegt. »Es mag auch nur eine Form von Größenwahn sein. Ich habe schon Leute gesehen, die derartig extravagante Gedanken hatten. Aber ich glaube, ich verstehe Sie.«

»Nun, was ist denn das für ein Wappen?« fragte Valentine.

»Es ist das Wappen der Borgia. Ein Stier auf goldenem Grund ist das Familienwappen der Borgia; das C unten im Teppich war die Initiale Cesare Borgias.«

Valentine wanderte nicht mehr umher. Er blieb stehen und sah Smith mit vorgeneigtem Kopf an.

»Ich bin weder verrückt, noch leide ich an Größenwahn«, sagte er ruhig. »Aber ich bin der letzte direkte Nachkomme des berühmten Cesare Borgia, Herzogs von Valentinois.«

Smith sprach lange Zeit nicht, denn er hatte genug, um darüber nachzudenken. Während seiner Studienzeit in Oxford hatte er sich mit der Renaissance beschäftigt und kannte die Geschichte der Borgias sehr gut. In seinem damaligen Zimmer hing ein alter Stich an der Wand mit der Inschrift: »Caesare Borgia von Frankreich, Herzog von Valentinois, Graf von Diois und Issaudun, päpstlicher Vicar von Imola und Forli.« Und als er jetzt Cäsar ansah, erkannte er dieselben Züge in dessen Gesicht.

Valentine freute sich über die Überraschung, die er dem anderen bereitet hatte. »Nun?« fragte er schließlich.

»Es ist merkwürdig«, erklärte Smith. »Von welchem Zweig der Familie stammen Sie denn ab?«

»Von Girolamo«, antwortete Cäsar schnell. »Er war der einzige Sohn Cesares. Nach dem Tod seines großen Vaters wurde er nach Frankreich und von dort nach Spanien gebracht, wo ihn ein Kardinal erzog. Er heiratete; sein Sohn ging nach Südamerika und focht für die Spanier in Peru. Die Familie ließ sich dann für zweihundert Jahre in Amerika nieder. Erst mein Großvater kam als Junge nach England, und auch ich wurde dort erzogen.«

Die beiden standen einander gegenüber: der Abkömmling Papst Alexanders VI. und der Abenteurer, den dieser sich als Meuchelmörder gedungen hatte.

In Cäsars Gesicht zeigte sich ein Ausdruck der Genugtuung. Schon früher hatte er Männern und auch Frauen gegenüber seine Abstammung enthüllt, aber ihnen hatte das Wort Borgia nichts bedeutet; sie ahnten nichts von der einstigen Macht und Größe dieses Geschlechtes.

Smith aber wußte es zu schätzen und zu würdigen, und darüber freute sich Cäsar.

Madonna Beatrice eilte plötzlich in den Salon, ohne anzuklopfen. Cäsar ging sofort zu ihr, als er ihr Gesicht sah, und die beiden unterhielten sich leise miteinander. In Cäsars Zügen zeigte sich Überraschung, dann sah er unschlüssig auf Smith.

»Sie soll hereinkommen«, sagte er schließlich.

Smith hatte alles gehört und war in größter Spannung. Sollte er die geheimnisvolle Frau sehen, die er während der Nacht im Garten beobachtet hatte? Oder handelte es sich um eine Geliebte dieses letzten Borgia?

Madonna Beatrice kam wieder ins Zimmer, und eine große, schlanke junge Dame folgte ihr. Sie war so schön, daß Smith fast der Atem stockte.

Sie sah von Cäsar zu ihm herüber und wieder zu Cäsar. Dann ging sie zu ihm und berührte seine Wange leicht mit den Lippen.

In Valentines Gesicht spiegelte sich Genugtuung, aber auch ein wenig Ärger. Plötzlich wandte er sich um und zeigte mit der Hand auf seinen neuen Freund.

»Stephanie, darf ich dir Mr. Smith vorstellen? Dies ist meine Tochter, Smith.«

Seine Tochter! Tre-Bong war erstaunt und überrascht, aber er faßte sich schnell und reichte ihr die Hand, die sie etwas zögernd nahm. Sie streifte ihn mit einem seltsamen Blick und wandte sich dann ab.

»Wann bist du nach Paris gekommen?« fragte Cäsar.

»Heute abend«, erwiderte sie.

Smith war sprachlos über diese Lüge, denn er hatte in ihr die junge Dame in Schwarz erkannt, die in der vergangenen Nacht die Szene am Quai des Fleurs beobachtet hatte. Ihr Blick hatte ihm verraten, daß sie Zeugin des Vorfalls gewesen war.


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