Edgar Wallace
Geheimagent Nr. 6
Edgar Wallace

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11

Ein Wärter weckte John Welland aus einem unruhigen Schlaf. Die Beamten der Anstalt kannten ihn nicht als John Welland, aber der Name, den er sich zugelegt hatte, ist nebensächlich.

»Sechs Uhr«, sagte der Wärter kurz und ging wieder hinaus.

Welland erhob sich und kleidete sich an. Um halb zwölf passierte er das kleine, schwarze Tor und ging die Straße entlang zu einer Haltestelle.

Ein Gefangener, der am gleichen Morgen entlassen worden war und noch mit einigen Bekannten sprach, zeigte mit dem Kopf nach ihm und sagte ein paar Worte, durch die alle anderen auf ihn aufmerksam wurden.

Welland stieg in eine Straßenbahn, fuhr zur City und nahm dort ein Auto. Damit fuhr er eine Strecke zurück, entließ den Wagen, legte ein langes Stück Weg zu Fuß zurück und suchte durch möglichst unerwartete Änderungen der Richtung Leute abzuschütteln, die ihm vielleicht folgten.

Schließlich kam er in eine ruhige Straße und trat in ein kleines Haus. Niemand begrüßte ihn, aber in der Küche brannte der Gasofen, und jemand hatte das Geschirr zurechtgestellt. Er setzte den Wasserkessel auf, stieg dann die steile Treppe zu seinem Schlafzimmer hinauf und zog sich dort um.

Als er sich im Spiegel betrachtete, sah er ein graues, von vielen Furchen durchzogenes Gesicht. Lange vor der Zeit war er gealtert. Mit einem Seufzer stieg er wieder hinunter und goß den Tee auf. Dann setzte er sich vor den Gasofen und stützte die Ellbogen auf die Knie.

Nach einer Weile hörte er, daß die Haustür aufgeschlossen wurde; er sah sich um, als eine gutmütig aussehende alte Frau mit einem Marktkorb hereinkam.

»Guten Morgen«, sagte sie in breitem Dialekt. »Ich wußte, daß Sie heute zurückkommen würden, aber ich dachte nicht, daß Sie so schnell hier wären. Haben Sie sich schon Tee gekocht?«

»Ja, das ist schon erledigt«, entgegnete Welland.

Sie sprach nicht über seine Abwesenheit; daran war sie vermutlich gewöhnt. Während sie den Korb auspackte, plauderte sie ununterbrochen, so daß es ihm mit der Zeit zuviel wurde. Er ging in das kleine Wohnzimmer und schloß die Tür.

Die Frau machte ihre Arbeit, bis sie hörte, daß er Violine spielte. Dann setzte sie sich hin, legte die Hände in den Schoß und lauschte der melancholischen Melodie. Es klang so schwermütig, daß ihr beinahe die Tränen kamen, und sie schüttelte den Kopf.

Gleich darauf kam Welland wieder in die Küche.

»Ach, das war so schön«, sagte sie. »Ich wünschte nur, Sie würden etwas Lustigeres spielen. Man wird sonst zu traurig.«

»Aber das beruhigt mich«, entgegnete er mit einem müden Lächeln.

»Sie sind wirklich ein ausgezeichneter Musiker. Und ich habe das Violinspiel so gern. Haben Sie eigentlich schon einmal öffentlich gespielt?«

Welland nickte, nahm seine kleine Pfeife vom Kamin und stopfte sie aus einem alten Tabaksbeutel.

»Das dachte ich mir doch«, sagte sie triumphierend. »Ich habe meinem Mann heute morgen gesagt –«

»Hoffentlich haben Sie dem nicht zuviel von mir erzählt, Mrs. Beck?«

»Nein, ich bin sehr vorsichtig. Einem jungen Mann, der gestern herkam, habe ich gesagt –«

Welland nahm die Pfeife aus dem Mund und runzelte die Stirn.

»Was war denn das für ein junger Mann?«

»Er wollte wissen, ob Sie zu Hause seien.«

»Hat er meinen Namen genannt?«

»Ja. Das war das Merkwürdige. Er ist der erste, der hierherkam und sich nach Ihnen unter Ihrem richtigen Namen erkundigte.«

»Was haben Sie ihm denn geantwortet?«

»Daß Sie wahrscheinlich morgen wiederkommen würden, vielleicht auch erst nächste Woche, ich wüßte es nicht genau. Sie sind ja auch ziemlich unpünktlich, Mr. Welland. Ich sagte ihm, daß Sie manchmal viele Monate fortbleiben . . .«

Welland preßte die Lippen zusammen. Er wußte ja, daß es nutzlos war, dieser Frau Vorwürfe zu machen.

»Es ist gut, Mrs. Beck«, sagte er. »Ich möchte aber nicht, daß Sie über meine Beschäftigung sprechen.«

»Das tue ich niemals, Mr. Welland«, erwiderte sie verletzt. »Ich weiß ja auch gar nichts darüber. Es geht mich schließlich nichts an, was Sie mit Ihrer Zeit machen. Sie können ebensogut ein Einbrecher wie ein Polizeibeamter sein, so oft sind Sie von zu Hause fort.«

Welland antwortete nicht. Als die Frau ihre Arbeit beendet hatte und nach Hause ging, dachte er wieder an den jungen Mann, der ihn besuchen wollte. Er legte die Kette vor die Tür und war fest entschlossen, sich nicht zu melden, wenn jemand kommen sollte.

Bis zum Abend meldete sich auch niemand. Welland saß in seinem Wohnzimmer, hatte die Vorhänge zugezogen und las. Plötzlich wurde an die Tür geklopft. Er legte das Buch hin und lauschte. Das Klopfen wiederholte sich.

Vorsichtig trat er auf den Gang hinaus. Jemand schlug mit einem Spazierstock gegen die Tür.

»Wer ist da?« fragte Welland.

»Lassen Sie mich herein«, erwiderte eine undeutliche Stimme. »Ich möchte mit Ihnen sprechen.«

»Wer sind Sie denn?«

»Lassen Sie mich ein.«

John Welland erkannte jetzt die Stimme; er wurde bleich.

Einen Augenblick glaubte er, daß sich alles um ihn drehte, und er mußte sich an der Wand festhalten, um sich zu stützen. Schließlich faßte er sich wieder, aber seine Hände zitterten noch, als er die Kette abnahm und die Tür öffnete. Draußen war es dunkel; er konnte die große Gestalt nur undeutlich sehen.

»Kommen Sie herein«, sagte er.

»Kennen Sie mich?« fragte der Fremde.

»Ja, Sie sind Cäsar Valentine.« Nur mühsam brachte Welland die Worte über die Lippen.

Er führte Cäsar ins Wohnzimmer. Nur der kleine Tisch trennte sie, während sie einander gegenüberstanden und sich mit feindseligen Blicken maßen.

»Was wollen Sie?«

»Ich möchte Sie in einer wichtigen Angelegenheit sprechen«, sagte Cäsar kühl.

»Wo ist meine Frau?« fragte Welland und atmete schwer.

Cäsar zuckte die breiten Schultern.

»Sie ist tot. Das wissen Sie doch.«

»Und wo ist mein Kind?«

»Warum sprechen Sie über Dinge, die uns beiden doch nur peinlich sind?« entgegnete Cäsar vorwurfsvoll, als ob er selbst der Beleidigte wäre. Er setzte sich, ohne aufgefordert zu sein. »Welland, Sie müssen vernünftig werden. Die Vergangenheit ist tot und erledigt. Warum nähren Sie immer noch Ihren Haß?«

»Der Haß ist das einzige, was mich noch am Leben hält, Valentine, und er wird mich aufrechthalten, bis ich Sie umgebracht habe!«

Cäsar lachte.

»Lassen Sie doch das Theater. Sie wollen mich umbringen? Schön, ich stehe vor Ihnen – warum bringen Sie mich nicht um? Haben Sie denn keinen Revolver oder Dolch? Fürchten Sie sich? Dauernd haben Sie mich bedroht. Jetzt haben Sie die beste Gelegenheit, Ihre Drohung wahrzumachen.«

Cäsar nahm einen Browning aus der Tasche und legte ihn auf den Tisch.

»Hier, nehmen Sie diese Waffe und schießen Sie mich nieder.«

Welland warf einen Blick auf die Pistole, schaute dann wieder zu dem Mann auf, der ihm gegenüberstand, und schüttelte den Kopf.

»Nein, nicht auf diese Weise. Aber wenn die Zeit gekommen ist, werden Sie sterben, und Sie sollen mehr leiden, als ich in all den Jahren gelitten habe.«

Ein längeres Schweigen trat ein, dann sprach Welland weiter.

»Ich freue mich, daß ich Sie wiedergesehen habe«, sagte er halb zu sich selbst. »Sie haben sich nicht geändert. Sie sind noch derselbe, der Sie früher waren, Valentine. Sie sollten eigentlich glücklich sein, denn Ihr ganzes Leben haben Sie sich immer das genommen, was Sie haben wollten. Und ich habe alles verloren!« Er bedeckte das Gesicht mit den Händen, und Cäsar betrachtete ihn neugierig. Schließlich nahm er die Pistole wieder und steckte sie in die Tasche.

»Wenn also die Zeit gekommen ist, werde ich sterben« sagte er höhnisch. »Eben hatten Sie eine gute Chance. Außerdem hatten Sie schon einmal eine Möglichkeit, die ganze Sache zu erledigen. Ich habe Sie doch darum gebeten, sich von Ihrer Frau scheiden zu lassen.«

»Scheiden!« stöhnte Welland.

»Sie hätte dann wieder heiraten und glücklich werden können. Wollen Sie jetzt wenigstens vernünftig sein?«

»Haben Sie mir weiter nichts zu sagen? Dann gehen Sie. Es war eine Genugtuung für mich, Sie wiederzusehen, denn all meine Hoffnungen und Pläne sind dadurch aufs neue belebt worden, Cäsar Valentine. Sie haben mir das Leben zur Hölle gemacht. Ich habe mehr gelitten, als Sie ahnen können, aber der eine Tag wird kommen . . .!«

Trotz aller Ruhe und Selbstsicherheit überlief Cäsar ein Schauder. Er war wütend darüber, daß ein anderer Mann ihm Furcht eingeflößt hatte.

»Sie haben Ihre Chance gehabt und nicht ausgenützt, Welland. Das war Ihr Fehler. Nun will ich offen mit Ihnen sprechen. Soviel ich weiß, sind Sie irgendwie im Regierungsdienst tätig. Ich habe Grund zu der Annahme, daß Sie mich ausspionieren sollen. Aber ich sage Ihnen, daß der Mann noch nicht geboren ist, der es mit Cäsar Valentine aufnehmen kann.«

Er schlug mit der Faust auf den Tisch, daß die Lampe tanzte.

»Es war Unsinn, daß ich Sie in Ruhe ließ, daß ich mich nie um Sie kümmerte. Ich hätte das Spiel in der Hand gehabt, wenn ich selbst gehandelt hätte, statt darauf zu warten, daß Sie Ihrer Frau die Freiheit geben.«

Cäsar war um den Tisch herumgegangen und stand nun dicht neben dem Mann, dem er so schweres Unrecht zugefügt hatte. Plötzlich packte er ohne die geringste Warnung Welland an der Kehle. Welland war kein Schwächling, aber Cäsar besaß geradezu übermenschliche Kräfte und schleuderte ihn zu Boden. Welland wehrte sich verzweifelt, aber vergeblich. Cäsar drückte ihm die Arme mit den Knien nieder und würgte ihn.

»Morgen wird man Sie hier aufgehängt finden«, flüsterte er.

In dem Augenblick klopfte es an der Tür, und er sah sich um.

»Sind Sie noch auf, Mr. Welland?« fragte eine Frauenstimme. »Ich habe noch Licht gesehen. Ich bin es – Mrs. Beck.«

Cäsar ließ sein Opfer los und schlich aus dem Zimmer, während sich Welland taumelnd aufrichtete. Er war halb besinnungslos und konnte weder sprechen noch schreien. Valentine ging ins Zimmer zurück und knipste das Licht aus, dann eilte er geräuschlos zur Tür und öffnete.

»Alles finster?« fragte die Frau. »Ich hätte doch darauf schwören können, daß ich Licht sah.«

Cäsar ließ sie im Dunkeln an sich vorübergehen, dann sprang er hinaus und schlug die Tür hinter sich zu.


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