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Torringtons Wohnung im Ritz-Carlton wies bei näherer Betrachtung allerlei Eigentümlichkeiten auf, die Audrey erst bemerkte, als ihr neuer Chef nachmittags ausging und sie in seinen Zimmern allein ließ. Alle Türen waren zum Beispiel mit Riegeln versehen, und als sie ein Fenster öffnete, um einen Gardinenbrand in einem gegenüberliegenden Haus zu beobachten, erschrak sie heftig, denn plötzlich stürzten drei Männer im Laufschritt herein. Der eine war ein Agent von Stormer, den sie kannte, die beiden anderen waren ihr fremd.
»Tut mir leid, Sie erschreckt zu haben«, sagte der Agent. »Wir hätten Ihnen mitteilen sollen, daß Sie keine Fenster öffnen dürfen.« Er schickte seine Begleiter hinaus und schloß das Fenster sorgfältig. »Sie haben den Alarmapparat berührt. Sehen konnten Sie ihn nicht, weil er durch das Drehen des Griffs in Gang gesetzt wird. Es ist nicht nötig, hier die Fenster aufzumachen, denn die Zimmer werden durch eine besondere Vorrichtung ventiliert. Wenn Sie mitkommen wollen, werde ich Ihnen noch etwas zeigen.«
Er führte sie in Torringtons merkwürdig einfach eingerichtetes Schlafzimmer, in dem sonderbarerweise ein zweischläfriges Bett stand.
»Auf dieser Seite schläft er, und wenn er den Kopf einmal zufällig auf dieses Kissen legt –« er hob es behutsam auf, und sie sah den fadendünnen Draht, der unter dem Bett verschwand. »Der geringste Druck bringt sofort die Nachtwachleute herbei.«
»Aber ist Mr. Torrington denn wirklich in so großer Gefahr?«
»Man kann nie wissen«, wich der Mann aus. –
Im Lauf des Nachmittags fand Audrey Zeit, einige Zeilen an ihre Schwester zu schreiben:
Liebe Dora,
wir waren wohl beide etwas kindisch. Nenne mich meinetwegen ruhig Dorothy, oder wie Du sonst willst, und auch älter als Du will ich gern sein – als Oberhaupt der Familie fühle ich bereits ganz mütterliche Regungen Dir gegenüber! Auf Wiedersehen.
Dorothy.«
Dora gab den Brief an Martin weiter, nachdem sie ihn gelesen hatte.
»Die Sache läßt sich nicht durchführen. Ein Kabeltelegramm würde ja hinreichen, um Audreys Behauptung zu bestätigen.«
»Aber wir müssen es doch versuchen«, entgegnete er. »Die Bank drängt schon, weil ich mein Konto weit überzogen habe. Ich sitze fürchterlich in der Patsche. Audrey muß verschwinden – irgendwohin nach dem Kontinent.«
»Und Shannon?«
»Ach, Shannon! Wie ich mit Slick fertig werde, macht mir mehr Sorgen. Er weiß zuviel! Nicht nur in bezug auf Audrey. Erinnerst du dich noch an den Abend, an dem ich Marshalt erschießen wollte? Ich war gerade auf sein Dach geklettert, als unten der Spektakel losging. Am anderen Ende des Daches stand ein Detektiv. Er sah weder mich noch den Mann, der an dem Strick nach oben kam, das Oberlichtfenster bei Malpas öffnete und hineinstieg. Aber ich sah ihn, und ich machte, daß ich fortkam!«
»Dann hast du also den Mörder gesehen?« flüsterte sie atemlos.
»Ich sah noch mehr. Als er in die kleine Vorratskammer geklettert war, steckte er eine Kerze an und holte eine Perücke mit falscher Nase und falschem Kinn aus der Tasche und legte sie an. Seine eigene Mutter hätte ihn nicht von Malpas unterscheiden können, nachdem er das Ding befestigt hatte!«
»Malpas!« stieß sie entsetzt hervor. »Wer war es denn?«
»Slick Smith«, erwiderte Martin.
*
Shannon hatte beschlossen, das Götzenbild aus Portman Square Nr. 551 entfernen und nach Scotland Yard überführen zu lassen.
»Nehmen Sie einen Mann in Zivil mit und lassen Sie die Leute von der Transportgesellschaft ein«, sagte er zu Steel. »Wenn wir das Ding hier haben, kann ich es von erfahrenen Mechanikern eingehend untersuchen lassen. Übrigens habe ich heute mit einem der Dienstmädchen bei Marshalt gesprochen. Sie erzählte mir, daß sich Marshalt wirklich sehr vor seinem Nachbar gefürchtet hat. Einmal war sie gerade im Zimmer, als es dreimal an die Wand klopfte. Marshalt soll halbtot vor Angst gewesen sein.«
»Die Aussage kann uns wohl auch nicht viel helfen«, meinte sein Assistent.
»O doch! Ich kann mir jetzt denken, wer der Schurke mit den zwei Gesichtern gewesen ist. Also, machen Sie sich an die Arbeit.«
Steel beeilte sich, den Auftrag auszuführen, aber er und sein Begleiter warteten vergeblich auf die zum Abtransport bestellten Leute, und als er die Firma anrufen wollte, stellte sich heraus, daß der Fernsprecher nicht in Ordnung war. Er schickte den Mann, der bei ihm war, zur nächsten Telephonzelle und ging inzwischen vor der offenen Haustür auf dem Gehsteig auf und ab. Seine Hand lag auf dem Revolver, den er in der Tasche trug, und er entfernte sich nur wenige Schritte von der mit einem Holzklotz aufgekeilten Tür.
Als er wieder einmal umkehrte, sah er eine wachsgelbe Hand hinter der Tür hervorkommen, die nach dem Holzklotz griff. Sofort riß er den Revolver heraus und rannte die Stufen hinauf. Der Klotz wurde zurückgezogen, und die Tür begann sich zu schließen. Als sie nur noch einen Zollbreit offenstand, warf er sich dagegen, aber von innen verstärkte jemand den Druck der Angeln durch sein Gewicht, und sie schnappte ein.
Einen Moment später kam Steels Begleiter zurück und meldete, daß Shannon am Nachmittag seinen Auftrag selbst widerrufen hätte.
»Das dachte ich mir doch«, brummte Steel grimmig. »Wir wollen mal sehen, was der Captain dazu sagt.«
Glücklicherweise meldete sich Shannon selbst auf den Anruf und nahm den Bericht entgegen.
»Ich habe natürlich keinen Gegenbefehl erteilt«, sagte er dann. »Wir wollen die Sache bis morgen aufschieben. Gehen Sie jetzt einmal nach hinten und sehen Sie zu, was dort vorgeht.«
Die beiden kamen der Aufforderung nach und näherten sich bereits dem Hoftor, als ein elegant gekleideter Herr herauskam.
»Slick Smith!« stieß Steel fast tonlos hervor. »Und er trägt gelbe Handschuhe!«
Slick Smith wirbelte ahnungslos seinen Spazierstock in der Luft herum und schlenderte gelassen davon. Als er Maida Vale erreicht hatte, blieb er vor einem der imposanten, prunkvollen Grevilleschen Mietshäuser stehen und trat durch einen der beiden vornehmen Eingänge in die behagliche Portierloge.
»Ich möchte Mr. Hill sprechen«, erklärte er mit strahlender Miene.
»Mr. Hill ist verreist. Kommen Sie wegen einer Wohnung?«
»Ja. Lady Kilferns Wohnung interessiert mich. Sie soll ja möbliert vermietet werden. Hier, bitte!« Er zog einen blauen Bogen aus der Tasche, den der Portier aufmerksam prüfte.
»Schön, da Lady Kilfern die Besichtigung gestattet, werde ich Sie hinauffahren.«
Beim Anblick der verhängten Fenster und zugedeckten Möbel schüttelte Smith den Kopf.
»Ach, die Wohnung liegt nach vorne? Schade, bei dem Straßenlärm kann ich nicht schlafen.«
»Nach hinten ist leider nichts frei.«
»Wer wohnt denn da?«
Sie waren an die Treppe zurückgegangen, und Smith deutete auf eine Tür hinter dem Aufzug. Während der Portier erklärte, daß ein Rechtsanwalt hier sein Zimmer hatte, schlenderte Slick den Gang entlang und blickte durch ein großes, nach hinten gelegenes Fenster hinaus.
»Dies würde mir passen«, meinte er. »Aha, auch eine Rettungsleiter. Ich bin sehr ängstlich wegen Feuersgefahr.«
Er lehnte sich hinaus und schaute auf den Hof hinunter. Dabei bemerkte er auch, daß die Eingangstür Nr. 9 mit Patentschlössern versehen war, und daß ein furchtloser Mann von der Rettungsleiter aus das Flurfenster von Nr. 9 erreichen konnte.
»Ich möchte mir so gern eine von diesen nach hinten gelegenen Wohnungen ansehen, aber das geht wohl nicht?« fragte er bekümmert.
»Nein. Ich habe zwar einen Hauptschlüssel, aber den darf ich nur bei Feuer oder Unfällen benützen.«
»Einen Hauptschlüssel?« wiederholte Mr. Smith verwundert. »Was ist denn das?«
Mit sichtlicher Genugtuung griff der Mann in die Tasche.
»Hier sehen Sie einen«, sagte er stolz.
Slick nahm ihn in die Hand und betrachtete ihn interessiert.
»Wie merkwürdig!« rief er. »Sieht doch genau aus wie jeder andere Schlüssel? Wie funktioniert er denn?«
»Das kann ich Ihnen nicht erklären«, erwiderte der Portier ernst und steckte den Schlüssel wieder ein. Im selben Augenblick klingelte es am Aufzug.
»Entschuldigen Sie –« begann er, aber Slick hielt ihn am Arm fest.
»Können Sie nochmal zurückkommen?« fragte er drängend. »Ich möchte Ihre Ansicht über diese Wohnungen hören.«
»Ich bin gleich wieder hier.«
Als er zurückkehrte, stand Slick mit nachdenklicher Miene an derselben Stelle, wo er ihn verlassen hatte.
»Ja, wie ich Ihnen schon sagte, dieser Hauptschlüssel –« Er hielt plötzlich erschrocken inne. »Ich habe ihn verloren!« rief er. »Haben Sie nicht gesehen, daß ich ihn einsteckte?«
»Doch Sie haben ihn genommen . . . aber da liegt er ja!«
Slick deutete auf den Teppich.
»Gott sei Dank!« Der Portier atmete erleichtert auf. »Sie sollten mal oben aufs Dach gehen, da hat man eine wunderschöne Aussicht. Soll ich Sie hinauffahren?«
»Nein, ich gehe jetzt lieber«, meinte Slick Smith, als der Mann wieder durch die Fahrstuhlglocke nach unten gerufen wurde.
Sobald der Lift verschwunden war, eilte Slick auf die jetzt nur angelehnte Tür zu. Ein leiser Stoß genügte, um sie zu öffnen, denn während der kurzen Abwesenheit des Portiers hatte er sie aufgeschlossen, den Griff zurückgebunden und sie wieder zugezogen. Nun schob er den Sicherheitsriegel vor und eilte von einem Raum in den anderen. Im Schlafzimmer raffte er allerlei Gegenstände zusammen und ließ sie in seinen geräumigen Taschen verschwinden. Dann schlüpfte er in die Küche, untersuchte die Vorräte in der Speisekammer, roch an der Butter, prüfte den Inhalt einer Dose Kondensmilch und fühlte an das Brot, um festzustellen, wie alt es wäre. Nachdem er sich orientiert hatte, schlich er auf den Vorplatz zurück und lauschte. Eben ertönte wieder das Summen des Fahrstuhls. Slick bückte sich, hob den Deckel des Briefkastens und sah den Lift nach oben gleiten. Im nächsten Moment war er draußen und stand unten in der Halle, als der Portier wieder mit dem Fahrstuhl herunterkam.
»Vielleicht miete ich die Wohnung doch«, sagte er. »Aber zu diesem Zweck muß ich mich ja wohl an jemand anders wenden als an Sie?«
»Ja. Vielen Dank.« Der Mann steckte das fürstliche Trinkgeld ein, während Slick das Gebäude verließ und ein Mietauto heranwinkte.