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Der Tag war grau heraufgedämmert, als er zurückkam, um von seinem Mißerfolg zu berichten.
»Er muß oben auf der Spitze der Klippe gesungen haben«, brummte er. »Dieser musikalische Landstreicher wird in eine Schießerei verwickelt werden, sobald ich wieder in Schußweite mit seinem Schnabel komme. Was ist nun mit Miss Leigh?«
»Ich habe Feuer in einem der Schlafzimmer gemacht. Sie hat sich wieder erholt.«
»Haben Sie ihr etwas erzählt?«
Jim schüttelte den Kopf.
»Nein, ich dachte, es wäre nicht klug, sie in ihrem jetzigen Zustand zu fragen. Das arme Mädchen muß Schreckliches erlebt haben.«
Elfa hörte die Stimmen im Gang und öffnete ihre Tür einen Spalt.
»Ist Mr. Minter zurückgekommen? Ich bin gleich bei Ihnen.«
Nach ein paar Minuten erschien sie, in Jims Regenmantel eingehüllt. Ihre nackten Füße steckten in einem Paar alter Pantoffeln, die sie in dem Schrank gefunden hatte.
»Wo ist Miss Shaw?« war ihre erste Frage. »Ist irgend etwas passiert? Warum sind Sie hier?«
»Wir wollten uns hier nur einmal umsehen«, entgegnete Super ruhig. »Ich hatte die Absicht, hier vielleicht meinen Sommerurlaub zuzubringen.«
»Wo ist Miss Shaw?« fragte sie wieder.
»Sie ist fortgegangen«, antwortete Super.
Das Mädchen schaute von einem zum anderen und versuchte, das Rätsel der Gegenwart der beiden Männer zu lösen.
»Es ist hier irgend etwas passiert.«
»Es scheint mir auch so, daß Ihnen etwas passiert ist, Miss Leigh«, sagte Super gut gelaunt. »Wie sind Sie denn eigentlich mitten in der Nacht hierhergekommen?«
»Miss Shaw hat mich gerufen.« Diese Antwort kam ihnen ganz unerwartet.
Sie ging nach dem Schlafzimmer zurück und kam mit einem engbeschriebenen Telegrammformular zurück. Super setzte seine Brille auf und las. Die Nachricht war an Elfas Wohnung in der Cubitt Street gerichtet:
›Bitte, helfen Sie mir. Kommen Sie sofort nach Erhalt des Telegramms zu Mr. Cardews Haus an der Küste. Werde dort sein. Wenn nicht, bitte auf mich warten. Sie müssen kommen, auch wenn Sie Telegramm sehr spät erhalten. Habe Sie noch nie um Gefälligkeit gebeten. Aber Ihr Kommen von größter Wichtigkeit für mein weiteres Leben. Brauche Sie als Zeugin in wichtiger Angelegenheit. Helfen Sie als Frau einer Frau.‹
Das Telegramm war mit Hanna Shaw unterzeichnet und um sechs Uhr am gestrigen Abend in Guildford aufgegeben.
»Ich bekam es gleich nach sieben«, erzählte Elfa, »und ich wußte nicht, was ich tun sollte. Die Tatsache, daß ich mit Miss Shaw nicht in bestem Einvernehmen stehe, machte die Sache für mich noch schwieriger. Zuletzt entschied ich mich, zu gehen, und nach dem Abendessen fuhr ich mit dem letzten Zug um zehn Uhr heraus und stieg an der Haltestelle oben aus . . .«
»Dann haben die Dorfbewohner Sie gesehen, als Sie von der Eisenbahnstation quer über die Klippen herunterkamen«, unterbrach sie Super. »Das löst ein großes Rätsel und macht meine Theorie wahrscheinlicher. Fahren Sie fort, Miss Leigh. Was haben Sie dann angefangen, bis Sie hierherkamen?«
»Von den Klippen läuft ein Fußpfad herunter, der die Straße abschneidet. Ich kenne hier jeden Zoll des Bodens, ich habe damals die ganzen Klippen durchstöbert, bis nach Pawsey hin. So zweifelte ich nicht, daß ich den Weg finden würde, besonders, da ich eine Taschenlampe mitgenommen hatte, die mir gute Dienste leistete. Ich ging aber vor allem deshalb den Klippenpfad hinunter, weil es furchtbar stürmisch war und weil die Klippen mich gegen den Regen schützten. Ich wußte aber nicht, daß im letzten Sommer ein Erdrutsch gewesen war. Der Weg brach plötzlich ab, ich erkannte das erst, als ich auf einen losen Stein trat und hinunterfiel. Ich dachte, ich würde mir das Genick brechen; aber ich kam wieder zu mir und stellte fest, daß ich auf der Kante eines Kreidefelsens lag. Ich konnte mich kaum bewegen und wartete den Morgen ab. Ich sah zwei Wagen die Straße entlangfahren. Einer fuhr zu dem Haus, das ich von meinem Platz aus gut sehen konnte, der andere schien nur bis zu dem Steinbruch zu fahren. Ich rief, in der Hoffnung, daß man mich hören würde. Aber der Wind tobte zu laut. Sie können sich vorstellen, wie verzweifelt ich war, als die beiden Wagen wieder verschwanden und ich allein blieb. Meine Lage war fürchterlich.« Sie zitterte, als sie sich daran erinnerte.
»Haben Sie jemand gesehen?«
»Nein, niemand.«
»Keinen Landstreicher oder dergleichen?«
»Nein. Ich lag ganz still. Zwei oder drei Stünden später kam ein Wagen und hielt vor der Tür des Hauses an. Ich vermute, daß Sie das waren. Dann machte ich einen verzweifelten Versuch, langsam den Abhang hinunterzukriechen. Das mißglückte mir aber, und ich rutschte immer tiefer und tiefer . . . Es war schrecklich, und doch war es nicht so schlimm, denn ich landete unten, einige Meter von dem Haus entfernt, ohne daß ich verletzt war. Ich weiß nicht, wie ich dann zu der Tür gekommen bin.«
Super nahm das Telegramm aus ihrer Hand und las es noch einmal.
»Brauche Sie als Zeugin in wichtiger Angelegenheit.« Er rieb sein Kinn.
»Wo ist Miss Shaw?« fragte sie.
Sie las die Antwort in Supers Augen, schrak zusammen und wurde bleich.
»Sie ist doch nicht tot?«
Er nickte.
»Sie wurde hier erschossen.« Er wies mit dem Kopf nach der Küche. »Nun hören Sie, Miss Leigh. Sie werden eine sehr wichtige Zeugin sein, weil Sie die ganze Nacht über draußen lagen und das Haus beobachten konnten. Kam kein anderer Wagen als die beiden, von denen Sie uns erzählten?«
»Nein, bestimmt nicht.«
»Haben Sie jemand die Straße zu Fuß entlanggehen oder Miss Shaw zurückkommen sehen?«
»Nein, das hätte ich nicht sehen können«, sagte sie. »Es war sehr dunkel. Ich habe nur die Wagen an den Scheinwerfern erkannt, sonst hätte ich nichts von ihnen wahrgenommen.«
Super paßte das gar nicht.
»Alles hängt nun von meinem Vorgesetzten ab. Wenn er mir die Sache zur Bearbeitung überläßt, dann sehe ich schon die Lösung. Aber wenn er einen von diesen langnasigen Theoretikern hierher schickt, dann wird diese Tat nicht gesühnt werden. Ich kenne die ganze Gegend jetzt in- und auswendig . . . Wenn bloß die Anthropologen nicht dazwischenkommen.«
Jim wußte, daß die Entscheidung, ob Scotland Yard angerufen würde, ganz von den Wünschen der Ortspolizei abhing. Außerhalb der Hauptstadt hat Scotland Yard keine amtlichen Befugnisse. Die örtlichen Polizeibehörden können die Hilfe von Scotland Yard anrufen, wenn ihnen die Lösung eines Kriminalfalles zu schwer erscheint; aber sie müssen es nicht tun. Außerhalb Londons nimmt die Lokalpolizei Verhaftungen vor, selbst wenn man einen Verbrecher wegen einer Tat sucht, die in der Hauptstadt begangen wurde.
Elfa saß stumm und war von diesen Neuigkeiten sehr ergriffen. Hanna Shaw tot! Sie konnte es kaum glauben.
»Sobald Ihre Kleider trocken sind, soll Mr. Ferraby Sie in die Stadt zurückbringen«, sagte Super. »Ich glaube, Sie können uns nichts mehr erzählen.«
»Nein, ich weiß weiter nichts«, sagte sie leise. »Wie schrecklich!«
»Sie schreiben doch Maschine? Haben Sie dies geschrieben?« Er zeigte ihr den Briefumschlag.
»Nein, das ist nicht von mir, es ist auch nicht auf meiner Schreibmaschine geschrieben. Ich glaube, Miss Shaw besaß selbst eine alte Maschine, die sie benützte. Ich weiß, daß sie mich früher einmal fragte, ob ich ihr nicht ein gutes Buch zum Erlernen des Maschineschreibens empfehlen könnte.«
*
Es war heller Tag geworden, und obgleich der Himmel mit grauen Wolken verhangen war, hatte es aufgehört zu regnen. Sie ließen Elfa zurück und entfernten sich durch die Vordertür. Super untersuchte die umliegenden Klippen genau.
»Wie Lattimer berichtet hat – die ganzen Klippen sind voller Höhlen.«
Dabei zeigte er auf die vielen hundert kleinen, schwarzen Löcher, die sich in den weißen Kreidefelsen befanden.
»Wenn sich jemand dort verstecken will, ist es sehr schwierig, ihn zu finden. Und ebenso sagen mir meine Logik und meine Schlußfolgerungen, daß jemand, der dort lebt, sehr schwer hierherkommen kann. Ich glaube nicht, daß es möglich und praktisch durchführbar ist, die Löcher zu durchsuchen, mit Ausnahme einiger niedrig gelegener Höhlen. Ich werde die ganzen Polizeikräfte heute damit beschäftigen.«
Als er sich zur Straße umwandte, kam das Auto Jims in Sicht. Lattimer saß am Steuer. Er brachte den Wagen in der Nähe seines Vorgesetzten zum Stehen und sprang heraus.
»Ich habe noch etwas von Bedeutung erfahren«, sagte er. »Hier ist es.«
Bei diesen Worten zog er einen kleinen Beutel aus Ziegenleder aus seiner Rocktasche, der etwas größer als eine Briefmarke war und an einer goldenen Kette hing.
»Das hatte sie um den Hals«, sagte er, als er den Fund in die Hand Supers legte.
Dieser öffnete das Beutelchen und nahm einen blanken goldenen Ring heraus.
»Das sieht genauso aus wie ein Trauring. Haben Sie keine Trauungsurkunde gefunden?«
Lattimer schüttelte den Kopf.
»Nichts dergleichen. Wir haben kein Dokument irgendwelcher Art entdeckt.«
Super schaute nachdenklich auf das blinkende kleine Ding in seiner Hand.
»Ein Trauring, und zwar ein ganz neuer Trauring«, sagte er nachdenklich. »Es ist nur die Frage, ob sie ihn jemals getragen hat. Es sieht nicht so aus. Der Mann, der ihr den Ring ansteckte, weiß jedenfalls beträchtlich mehr über den Mord, als wir jemals erfahren werden.«
Sie gingen langsam der Küste zu. Die Flut war im Steigen.
»Es ist doch ein sehr unangenehm gelegener Platz«, gab Super zu. »Ich nehme alles zurück, was ich gestern darüber gesagt habe, daß ich mich hier niederlassen werde, wenn ich mich einmal vom Amt zurückziehe.«
Fern auf der See sah man die Rauchfahne eines Dampfers. In der Nähe leuchteten auf dem Wasser die roten Segel einer Flotte von Fischerbooten, die auf den Hafen von Pawsey zusteuerte. Hinter dem Haus war ein kleiner Garten, aber der Zaun, der ihn umgab, war zerbrochen, und das kleine Tor hing zertrümmert in seinen Angeln. Unkraut wuchs in wilder Üppigkeit an der Stelle, wo früher Mr. Cardew vergeblich versucht hatte, trotz Sturm und Unwetter einen schönen Blumengarten anzulegen.
»Und trotzdem ist es kein schlechter Platz für jemand, der die See und das Baden liebt«, sagte Super.
Sie wateten durch den Sand bis zum Tor. Hier war der Boden fester.
»Wirklich ein netter Platz für jemand, der gern im Meer badet«, wiederholte er. Dann schwieg er plötzlich. Jim sah einen bestürzten Ausdruck in dem Gesicht des alten Mannes.
»Himmeldonnerwetter!« stieß Super hervor.
Er schaute auf eine Fußspur, die vom Regen halb verwischt, aber doch noch deutlich zu erkennen war. Es war der Abdruck eines großen, nackten Fußes von ungefähr 35 Zentimeter Länge.
»Christoph Kolumbus!« rief Super und blickte auf die Spur.
Dann wandte er die Augen auf das Meer und ging langsam dem Ufer zu. Die Spuren wurden deutlicher, als sie auf den harten Sand kamen, und sie sahen, daß sie nach dem Haus führten.
»Großfuß!«
Das Wort hatte seine Richtigkeit.
Sie machten nicht eher halt, als bis sie ans Wasser kamen, obgleich die Spuren weiter fortliefen. Sie sahen sie wieder in einer kleinen Vertiefung, die erst kürzlich die hereinbrechende Flut gebildet hatte. Super sah Jim an.
»Haben Sie irgendwelche Schlußfolgerungen daraus gezogen?«
»Ich gebe zu, daß mir das noch nicht gelungen ist«, gestand Jim.
»Das ist schlimm, denn ich komme auch noch zu keinem Ergebnis. Diese neue Entdeckung regt mich doch ein wenig auf.«
Er sandte Lattimer zur Stadt, um alles für Gipsabdrücke notwendige Gerät zu holen, und sie brachten eine ganze Stunde mit den Gipsabgüssen zu, als er zurückgekommen war.
Während dieser Zeit wurden sie von einem Mann mit einem braunen Gesicht und einem Vollbart beobachtet. Er lag der Länge nach vor dem Eingang einer der unzugänglichen Höhlen, die die ganzen Klippen wie Pocken bedeckten. Er betrachtete sie mit irren Blicken und sang leise das Lied von Alhama vor sich hin.