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Elfa Leigh hatte aus dem Haus in Edward Square alle persönlichen Gegenstände mitgenommen, die sie mit ihrem Vater einst geteilt hatte. Elfa war ihm sehr zugetan gewesen. Sie hatte keine Mutter mehr gehabt und liebte diesen träumerischen, etwas hilflosen Mann. Als ihr mit einem allgemein gehaltenen Ausdruck des Beileids die kurze Mitteilung von der britischen Admiralität überbracht wurde, daß der amerikanische Transporter ›Lenglan‹ mit allen Leuten an Bord untergegangen sei, betäubte sie diese Nachricht; aber sie glaubte sie nicht. Das Schiff war an der Südküste Englands während eines Sturmes von einem Unterseeboot torpediert worden und gesunken.
John Kenneth Leigh kehrte damals aus Washington zurück, wohin er von seinem Chef zur Beratung gerufen worden war. Während des Krieges war er Verbindungsoffizier zwischen dem englischen und dem amerikanischen Schatzamt gewesen und war in weitgehendem Maße für die finanziellen Vereinbarungen zwischen den beiden Ländern verantwortlich.
Als Amerika in den Krieg eintrat, wurde er dem Heer zugeteilt, und Elfa sah zwölf Monate lang wenig von ihrem Vater. Er pendelte zwischen den beiden Ländern hin und her, und es schien unvermeidlich, daß er einmal verunglücken würde, obwohl er dem Verderben oft genug mit knapper Not entkommen war.
Elfa mußte ein neues Leben beginnen und tat dies mit einem Mut, der über jedes Lob erhaben war. Sie gab das Haus in Edward Square auf, bezog eine Wohnung von drei Räumen im Obergeschoß des Hauses Cubitt Street Nr. 75 und baute ihr Leben neu auf.
Sie hatte Verwandte in den Vereinigten Staaten, aber sie zog es vor, in der Stadt zu bleiben, die ihr durch die Erinnerung an ihren Vater teuer war.
In der kleinen Wohnung erlangte sie allmählich ihr Gleichgewicht wieder. An den Wänden des schönen Wohnzimmers hingen die Drucke und Aquarellbilder; die ihr Vater gesammelt hatte, obgleich er kein eigentlicher Kenner war. Der alte Lehnstuhl, in dem er so gerne saß, hatte seinen Ehrenplatz neben dem Fenster, sein Pfeifenbrett hing über dem Kamin und darunter sein Säbel. Er hatte früher einmal in der amerikanischen Kavallerie gedient.
Elfa hatte kaum Freundinnen und nur einige wenige Bekannte. Sie ermutigte die Leute, die sie besuchten, nicht, wiederzukommen. Aber Super hatte ein gewisses Vorrecht bei ihr erlangt, und als das Dienstmädchen ihr am Montag nachmittag seine Karte brachte, sandte sie hinunter, um ihn hereinzubitten. Super stieg die drei Treppen hinauf und trat in den hübschen Wohnraum. Er hielt den Hut in der Hand, und auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, das jeden erschreckt hätte, der ihn nicht kannte.
»Ich werde alt«, sagte er, als er seinen Hut auf das Klavier legte. »Ich kann mich noch deutlich auf die Zeit besinnen, wo ich diese Treppe mit sechs Schritten genommen hätte.« –
Sie konnte aus seinem Betragen nicht schließen, ob er gekommen war, ihr neue Nachrichten zu bringen oder weiter über diesen geheimnisvollen Großfuß bei ihr nachzuforschen. Vielleicht verriet die Art und Weise, wie er sein Gespräch begann, das so ziellos und sprunghaft schien, doch eine bestimmte Absicht und gehörte zu seinem System, die Leute auszufragen. Sie dachte es sich und war damit nicht weit von der Wahrheit entfernt.
»Sie haben ein hübsches Zimmer, Miss Leigh; es ist wirklich nett eingerichtet. Wenn Sie sagten, daß ich Platz nehmen solle, würde ich es tun. Aber wenn Sie sagten: Minter, Sie können rauchen, dann würde ich es nicht tun – nämlich nicht die Sorte Tabak, die ich gewöhnlich rauche.«
»Sie können beides – sich niedersetzen und rauchen«, sagte sie lachend. »Die Fenster sind weit offen, und ich habe den Geruch von Tabak sehr gern. Auch bin ich nicht wählerisch in den Sorten.«
»Man kann aber sehr daran zweifeln, ob das, was ich rauche, überhaupt Tabak genannt werden kann«, sagte Super und füllte seine Pfeife aus einem alten Tabaksbeutel. »Manche sagen so und manche anders. Ich nenne es Tabak . . . Spielen Sie Klavier, Miss Leigh?«
»Ja, manchmal spiele ich«, sagte sie belustigt.
»Das gehört doch zur guten Erziehung, und niemand ist gebildet, der nicht Klavier spielen kann. Grammophon spielen ist leicht. Haben Sie die schlechte Nacht nun überwunden?«
Sie nickte.
»Wenn ich auf der Klippe im Regen gelegen hätte, wäre ich tot«, sagte er. »Aber Sie sind noch jung und haben nichts abbekommen als Rheumatismus.«
»Ich habe nicht einmal Rheumatismus!«
»Aber Sie werden ihn bekommen. Sie haben sich Rheumatismus geholt – Sie merken es nur noch nicht, das kommt erst in zwanzig Jahren.«
Er setzte sich nicht nieder, sondern wanderte im Zimmer umher und sah sich die Bilder an.
»Hübsche Bilder – sind doch wohl Originale, Miss Leigh?« Als sie lachend bejahte, fuhr er fort: »Das kann man eigentlich nie unterscheiden. Ich habe gedruckte Reproduktionen gesehen, die gerade so gut aussahen wie handgemalte Bilder, manchmal sogar noch besser. Sie malen sicher selbst?« Er zeigte auf eine Aquarellandschaft.
»Nein, das Bild stammt von einem großen französischen Künstler«, entgegnete sie.
»Die Franzosen haben es doch weg, so etwas zu machen. Und es ist doch nur eine bestimmte Fertigkeit, die richtigen Farben an die richtige Stelle zu setzen. Das kann jeder, der darin unterrichtet ist. – Sie haben eine ganz hübsche Bibliothek.«
Er besah sich die Bände, die drei lange Bücherregale füllten.
»Haben Sie nichts über Anthropologie? – Von der Krankheit sind Sie also noch nicht befallen? Oder vielleicht haben Sie etwas über Psychologie? Ich sehe auch kein einziges Buch über Verbrechen.«
»Ich interessiere mich nicht sehr für Verbrechen«, sagte Elfa. »Das hier waren die Bücher meines Vaters.«
Er nahm einen Band heraus und blätterte langsam darin.
»Er fiel im Krieg. Ich bin ihm einmal begegnet.«
»Meinem Vater?« fragte sie schnell.
Er nickte.
»Ja, einer seiner Angestellten im Büro stahl Geld – er hatte bei den Rennen gewettet –, und ich wurde gerufen. Er war ein sehr schöner Mann – ich meine, Ihr Vater.«
»Er war der beste Mann auf der Welt«, sagte Elfa ruhig.
Super nickte beifällig.
»Ich höre es gern, wenn die Kinder so von ihren Eltern sprechen. Heute ist das leider anders. Immer, wenn ich heutzutage Kinder schlecht von ihren Eltern reden höre, freue ich mich, daß ich nicht geheiratet habe.«
»Sie sind Junggeselle?«
»Ich? Ja. Ich habe nur einmal in meinem Leben einen Roman erlebt, und das war nicht einmal eine Liebesgeschichte. Es war eine Witwe mit drei Kindern, aber sie war temperamentvoll, genauso wie ich. Und in einem Haus ist nun einmal kein Platz für zwei temperamentvolle Leute. Nun waren es aber im ganzen fünf, denn die Kinder waren nicht weniger temperamentvoll. Sie wollten das Frühstück ans Bett haben, und das ist doch das Temperamentvollste, was ich je erlebt habe. Ist Mr. Cardew heute ins Büro gekommen?«
Sie schüttelte den Kopf.
»Nein, er hat heute morgen telefoniert. Er ist nach Barley Stack zurückgekehrt. Ich glaube, er hat sich von der Aufregung erholt, die ihm der Tod der armen Miss Shaw verursachte, denn sein Diener erzählte mir, daß er in seinem Studierzimmer bei der Arbeit säße.«
»Er denkt wieder neue Theorien aus und zieht psychologische und logische Schlüsse«, sagte Super düster. »Ich habe ihn heute morgen besucht, ehe ich hierherkam. Da saß er auch schon in seinem Studierzimmer bei Büchern über Anthropologie und Soziologie und Logik und all solchem Zeug. Er hatte einen Plan von seiner Villa vor sich und maß alles mit Zirkel und Maßstab nach. Dabei entdeckte er, daß es 8,60 Meter von der Küchentür bis zur Haustür sind. Er hatte auch Bücher über die Gezeiten . . . ein Mikroskop war noch nicht da. – Diese Art zu arbeiten kann ich nicht leiden. Er hatte auch noch keine Reagenzgläser, aber es ist möglich, daß er das alles noch hergeholt hat, nachdem ich gegangen war. Ich wollte den Plan des Hauses haben, aber er brauchte ihn selbst und überließ ihn mir nicht. Er rechnete sich alle Maße aus und auch die Flutzeiten, und dann hat er eine Sandprobe – heute abend werden wir ja erfahren, wer den Mord begangen hat.«
Obwohl sie über so grauenvolle Dinge sprachen, mußte sie doch lachen.
»Sie sind kein großer Anhänger der deduktiven Methode, Mr. Minter?«
»Nennen Sie mich doch Super«, bat der alte Detektiv. »Da haben Sie unrecht. Ich achte sie sehr hoch, ich glaube an die Wissenschaft. Bei der Polizei werden nicht genügend wissenschaftliche Methoden angewandt. Da fehlt es noch sehr bei uns. – Sie hat übrigens den Hut in Astors Warenhaus in der High Street in Kensington gekauft. Sie wollte diese Form haben, obgleich sie schon ein Jahr lang aus der Mode ist. Es ist eine merkwürdige Sache, daß eine Frau einen Hut kauft, der so unmodern ist.«
Der Übergang des Gesprächs von den verschiedenen Methoden, Verbrechen aufzuspüren, zu der realen Wirklichkeit der Kleider war so unerwartet und schnell, daß Elfa etwas verblüfft war.
»Meinen Sie Miss Shaw? Was für einen Hut kaufte sie denn?«
»Einen großen gelben Strohhut mit einem Schleier. Sie kennen die Art, die bis zur Nase heruntergeht? Sie kaufte ihn am Sonnabend, kurz bevor der Laden geschlossen wurde, und er paßte ihr nicht. Die Verkäuferin sagte ihr das. Sie muß sehr aufrichtig sein. Wenige Verkäuferinnen würden einer Kundin sagen, daß ein Hut ihr nicht stehe. Aber Hanna Shaw sagte, daß sie diese Art wünsche, und so bekam sie ihn. Sie bezahlte und nahm ihn gleich mit. Ich habe Cardew nichts davon erzählt. Solche Neuigkeiten würden ihn verrückt machen. Er würde daraus schließen, daß sie den Hut kaufte, um ihn auf dem Kontinent zu tragen, und würde Paris mit dem Zollstock nachmessen.«
Super trat wieder an den Bücherschrank und nahm ein Buch nach dem andern in die Hand, ließ es durch die Finger gleiten und warf nur gelegentlich einen Blick auf den Inhalt.
»Gab es noch einmal Eier und Kartoffeln?« fragte er plötzlich.
»Sie meinen in Edward Square? Nein, ich habe nichts mehr von Mr. Bolderwood Lattimer gehört.«
»Ich kann nicht verstehen, warum er sich selbst Bolderwood nennt. Ich dachte, nur Leute, die Smith heißen, haben so verrückte Vornamen. Lieben Sie Blumen, Miss Leigh?«
»Sehr.«
Super kratzte sich am Kinn.
»Wer liebt sie nicht?« fragte er. »Blumen regen mich mehr an als irgend etwas anderes. Haben Sie jemals ein Feld mit Butterblumen gesehen . . . jemals einen Blick auf Glockenblumen geworfen, die aus dem dunklen Wald schimmern? Ich habe ein Sammelbuch für Ausschnitte von Gedichten über Blumen zu Hause – Rosen und Veilchen und Primeln und viele andere. Es ist komisch, daß noch niemand ein Gedicht über Flieder gemacht hat.«
Sie sah ihn mißtrauisch an.
»Mr. Minter, Sie kommen auf einem Umweg zu den Blumen, die in Edward Square niedergelegt worden sind. Ich würde ein Gedicht über Flieder schreiben, wenn ich überhaupt ein Gedicht schreiben könnte – es sind meine Lieblingsblumen.«
»Meine sind Tulpen«, sagte Super.
Er setzte sich umständlich hin.
»Sind Sie je Mr. Elson begegnet – mögen Sie ihn? Er ist auch Amerikaner, nicht wahr?«
»Er kann – richtig lesen und beinahe schreiben. Er hält sich eine Sekretärin für seine Korrespondenz, aber er selbst kann kaum schreiben.«
»So?« fragte sie überrascht. »Ich glaubte, es gäbe fast niemand in Europa, der nicht lesen und schreiben könnte.«
»Er ist in gewisser Weise ein Niemand«, sagte Super.
Ein paar Minuten später ging sie aus dem Zimmer, um Tee zu bestellen, und als sie zurückkam, fand sie ihn wieder am Bücherschrank.
»Lieben Sie Bücher sehr?«
»Bücher zum Lesen liebe ich sehr«, gab er zu. »Bücher zum Studieren sind für mich soviel wie Masern, Scharlach und alle diese berüchtigten Krankheiten.« J. K. L. las er auf dem Vorsatzblatt eines Buches. »Das war Ihr Vater, Miss Leigh?«
»Ja, das ist der Name meines Vaters – John Kenneth.«
»Ein schöner Mann«, sagte Super nachdenklich. »Nicht die Art, die sich Feinde macht.«
»Nein, er hatte keinen Feind auf der Welt«, sagte sie. »Jeder liebte ihn.«
»Das wird man niemals über mich sagen. Eine Liste der Leute, die mich nicht lieben, würde diesen Band füllen, Miss Leigh. Und dann würde noch genug Papier übrig sein, das Zimmer damit zu tapezieren. Alles nur«, fügte er bescheiden hinzu, »aus Eifersucht der anderen über meine Genialität. Merken Sie sich das, Miss Leigh: Wenn ein Mensch nicht beliebt ist, so kommt das von der Eifersucht. Und wenn Sie mir nicht glauben, fragen Sie den Menschen selbst, er wird es Ihnen bestätigen.«
»Ich glaube, Sie sind gar nicht so unbeliebt«, sagte sie, als sie den Tee einschenkte.
»Ich bin es nicht, aber ich bin im Begriff, es zu werden«, meinte er düster. »Passen Sie nur auf, ich bin dabei, einer der unbeliebtesten Menschen bei der Polizei zu werden – und zwar bald.«