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Hallick machte sich sofort an eine genaue Untersuchung der ganzen Örtlichkeit, aber er fand nichts außer einer Patronenhülse. Schließlich fuhr er wieder in die Stadt und ließ Sergeant Dobie in Monkshall zurück.
Der Tag war furchtbar für Mary und schien nicht enden zu wollen. Die Gegenwart des Beamten von Scotland Yard beruhigte sie in gewisser Weise, obwohl ihr Vater dadurch nervös wurde. Glücklicherweise hielt sich Sergeant Dobie im Hintergrund und fiel weiter nicht auf.
Nur zwei Bewohner des Hauses schienen sich um die furchtbaren Dinge nicht zu kümmern: Mr. Fane und der Pfarrer. Der Geistliche war sehr redselig und erzählte bei jeder passenden und unpassenden Gelegenheit Anekdoten, für die sich niemand interessierte. Nur Mrs. Elvery fand ihn interessant und hatte nun endlich jemanden, mit dem sie sich unterhalten konnte.
Mary war erstaunt über Ferdie Fane. Sie wußte nicht recht, was sie eigentlich von ihm halten sollte. Nachdem sie ihn jetzt genauer kennengelernt hatte, gefiel er ihr doch ganz gut, und wenn er nicht so unmäßig getrunken, hätte – hätte sie ihn auch gern haben können. Wie sehr sie ihn in Wirklichkeit schon schätzte, wollte sie sich selbst nicht eingestehen. Er allein war vollkommen kühl und ruhig geblieben, als der Schuß fiel, der beinahe ihrem und vielleicht auch seinem Leben ein Ende bereitet hätte.
Am Nachmittag unterhielt sie sich mit ihm. Er war sehr liebenswürdig und vollkommen vernünftig.
»Sie meinen, der Mann hat mich erschießen wollen«, sagte er »Um Himmels willen, nein! Aber schließlich hat ja jeder Feinde ich auch!«
»So, haben Sie Feinde?« fragte sie.
Seine Augen leuchteten sonderbar, als er ihr antwortete.
»Vielleicht! Es gibt eine ganze Menge Leute, die mit mir abrechnen wollen.«
»Mrs. Elvery sagte, Scotland Yard würde Inspektor Bradley herschicken.«
»Welchen Zweck sollte das haben? Bradley ist ein völlig talentloser Beamter.« Als ob er ihre Gedanken lesen könnte, fragte er schnell: »Hat die interessante alte Dame vielleicht noch mehr darüber erzählt?«.
Sie gingen zusammen durch die lange Ulmenallee, die zum Parktor führte. Noch vor zwei Tagen wäre sie vor Fane geflohen, aber nun fühlte sie sich merkwürdig zufrieden und ruhig in seiner Gegenwart. Sie konnte das selbst nicht erklären. Wie war es nur möglich gewesen, daß sie ihn vorher so wenig hatte leiden können?
»Mrs. Elvery ist eine Spezialistin für Verbrechen«, sagte sie und lächelte mitleidig, obwohl ihr nicht zum Lachen zumute war. »Sie sammelt alle Zeitungsausschnitte über schwere Verbrechen, schon seit Jahren. Und sie hat mir auch erzählt, daß der ermordete Connor in einen großen Goldraub verwickelt war, der sich vor einigen Jahren ereignete. Außerdem nannte sie noch einen gewissen O'Shea.«
»O'Shea?« fragte Fane schnell, und sie sah, daß sich sein Gesichtsausdruck änderte. »Zum Kuckuck, was weiß sie denn von O'Shea? Es wäre besser, daß sie sich in acht nähme und nicht solchen Unsinn redete – ach, verzeihen Sie.« Er lächelte wieder.
»Haben Sie etwas über ihn gehört?« meinte Mary.
»Ja, allerdings nur ein Gerücht«, erwiderte er fast heiter. »Aber erzählen Sie mir nur weiter, was Mrs. Elvery noch gesagt hat.«
»Sie behauptete, daß damals eine große Goldsendung verschwand. Der Schatz soll irgendwo vergraben liegen, ihrer Meinung nach hier in Monkshall. Connor habe danach gesucht, wie sie sagt, und den Butler Cotton ins Vertrauen gezogen, damit der ihn ins Haus lassen sollte. So ließe sich auch erklären, daß die Tür verschlossen und kein Fenster erbrochen war. Ich habe gehört, wie sie Mr. Partridge die ganze Geschichte erzählte. Mich mag sie nicht, sonst hätte sie es mir auch gesagt.«
Eine Weile gingen die beiden schweigend nebeneinander her.
»Können Sie ihn gut leiden – ich meine den neuen Gast, den Pfarrer Partridge?« fragte Ferdie.
»Ach, er ist ein ganz netter Mann.«
»Sie wollen wohl sagen, daß er Sie langweilt.« Fane lachte leise vor sich hin. »Aber warum gehen Sie nicht nach London?«
Sie blieb plötzlich stehen und starrte ihn an.
»Meinen Sie, ich sollte Monkshall verlassen? Wie kommen Sie darauf?«
Er sah sie fest an.
»Meiner Meinung nach ist der Aufenthalt hier nichts für Sie. Ich glaube, es dürfte hier etwas zu gefährlich für eine junge Dame sein.«
»Warum denn?« fragte sie ungläubig.
»Es ist gefährlich für Sie, obgleich in Monkshall Leute wohnen, die Sie anbeten und die wahrscheinlich gern ihr eigenes Leben daransetzen würden, Sie zu retten und vor allem Übel zu bewahren.«
»Meinen Sie meinen Vater?«
Sie versuchte, ihn mißzuverstehen und das Gespräch auf ein anderes Thema zu bringen, da sie sich Fane gegenüber irgendwie verlegen fühlte.
»Nein, ich meine zwei andere – einer der beiden ist – Mr. Goodman.«
Zuerst wollte sie ärgerlich werden, aber dann lachte sie ziemlich laut.
»Das ist doch Unsinn! Mr. Goodman ist so alt, daß er mein Vater sein könnte!«
»Trotzdem ist er immer noch jung genug, um Sie zu lieben«, erklärte Fane ruhig. »Mr. Goodman ist wirklich aufrichtig in Sie verliebt und schätzt Sie außerordentlich, Miss Redmayne. Und es gibt auch noch einen anderen Mann, der sich sehr für Sie interessiert.«
»Sie meinen, wenn er nüchtern ist?« erwiderte sie herausfordernd. Aber dann tat es ihr leid, daß sie das gesagt hatte. Ihr fiel ein, daß sie im Haus noch etwas zu tun hatte, und er machte auch keinen Versuch, sie zurückzuhalten.
*
Als Inspektor Hallick nach London zurückfuhr, war er tief in Gedanken versunken, aber er tappte doch nicht so im Dunkeln, wie sein Assistent annahm. Er war fest davon überzeugt, daß der geheimnisvolle Mord in Monkshall etwas mit jenem, Jahre zurückliegenden Goldraub zu tun hatte.
Als er in sein Büro kam, klingelte er und gab dem eintretenden Beamten, den Auftrag, ihm die Akten über den großen Goldraub O'Sheas zu bringen.
»Außerdem brauche ich alle Angaben, die sich in der Registratur über O'Shea vorfinden.«
Als der Beamte gegangen war, öffnete Hallick sein Notizbuch und schrieb sich auf, was er in Monkshall erfahren und beobachtet hatte. Zweifellos war der Schuß von der Ruine gefallen. Hallick hatte die Örtlichkeit genau untersucht und entdeckt, daß tatsächlich hinter einer großen Baumgruppe die Ruine einer alten Kapelle versteckt lag, die vollkommen mit Efeu bewachsen war. Wie der Verbrecher, der den Schuß abfeuerte, entkommen konnte, war ein Geheimnis für sich. Hallick hielt es nicht für ausgeschlossen, daß eine dieser großen Steinplatten, die unter den Brombeer- und Weißdornbüschen verborgen waren, vielleicht den Eingang zu einem unterirdischen Gang verdeckte.
Er sprach auch mit einem der Inspektoren von Scotland Yard darüber, der zu einer kurzen Unterredung in sein Büro kam. Es war der bekannte Inspektor Elk, der nichts von der Sache wissen wollte.
»Was reden Sie da von unterirdischen Gängen? Das ist doch immer das letzte Verlegenheitsmittel. Wenn der Verfasser eines Kriminalromans nicht weiter weiß, verfällt er auf derartigen Unsinn. Unterirdische Gänge und Geheimtüren in der Wandverkleidung! Einfach lächerlich!«
»Ich möchte die Möglichkeit nicht vollkommen ausschließen«, entgegnete Hallick ruhig. »Monkshall ist eins der ältesten bewohnten Häuser in England. Ich habe mir in der Bibliothek die Literatur besorgt. Einige Nachrichten stammen aus der Zeit der Königin Elisabeth I.«
Elk stöhnte. »Ausgerechnet wieder diese Frau! Es gibt nichts, was nicht zu ihren Tagen existiert hätte!«
Inspektor Elk hatte einen ganz besonderen Grund, auf Königin Elisabeth I. böse zu sein, denn bei einem früheren Examen war er durchgefallen, weil er die Daten ihrer Regierung nicht genau wußte.
»Selbstverständlich gab es damals Geheimtüren, unterirdische Gänge und all solchen Kram!« meinte er verdrießlich.
Chefinspektor Hallick kam plötzlich ein Gedanke.
»Setzen Sie sich doch, Elk. Ich muß Sie etwas fragen.«
»Wenn es sich um Geschichtszahlen handelt, dann sparen Sie sich die Mühe. Ich weiß von der Königin Elisabeth I. nur –«
»Haben Sie jemals O'Shea gesehen?«
»Den Bankräuber? Nein, ich bin nie mit ihm in Berührung gekommen. Soviel ich weiß, ist er jetzt in Amerika. Oder sind Sie anderer Meinung?«
»Ich glaube, er ist in England«, erwiderte Hallick, aber Elk schüttelte den Kopf.
»Das möchte ich bezweifeln. Es ist doch gar kein Grund vorhanden, warum er in England sein sollte. In den letzten Jahren hat er sich vollkommen ruhig verhalten, und ein Mann, der so viel Geld zusammengebracht hat wie er, kann es sich auch leisten, sich zur Ruhe zu setzen. Gewöhnlich trägt ein Verbrecher, der große Beute gemacht hat, das Geld zum nächsten Spielklub und hat nicht eher Ruhe, als bis er den letzten Schilling verloren hat. Und da O'Shea doch nicht ganz richtig im Kopf ist –«
»Woher wissen Sie denn das?« fragte Hallick neugierig.
»O'Shea ist erblich mit Wahnsinn belastet. Das ist eine der Tatsachen, die seinerzeit bei der Verhandlung nicht erwähnt wurden.«
»Ich habe nichts davon gewußt, bis ich Connor im Gefängnis ausfragte, und ich kann mich auch nicht besinnen, daß ich es jemals in den Akten vermerkt habe«, meinte Hallick. »Wie haben Sie denn das erfahren?«
»Vor vielen Jahren habe ich mich einmal mit dem Fall beschäftigt. Wir konnten O'Shea selbst nicht fangen und auch keine Einzelheiten über ihn erfahren, nur ein paar Schriftstücke fand man, die von seiner Hand stammten. Das war in den Tagen vor dem letzten großen Goldraub, bevor Sie die Aufklärung des Falles übernahmen. Da ich damals weder sein Bild noch seine Fingerabdrücke zur Verfügung hatte, stellte ich Nachforschungen über seine Familie an. Sein Vater starb in einer Irrenanstalt, seine Schwester verübte Selbstmord. Sein Großvater hatte einen Mord begangen und starb während der Untersuchungshaft. Ich habe mich immer gewundert, warum niemand auf den Gedanken gekommen ist, eine Geschichte der Familie zu schreiben.«
Das war eine große Neuigkeit für Chefinspektor Hallick, aber sie stimmte genau mit dem überein, was Connor ihm früher gesagt hatte.
Der Beamte kam mit einem umfangreichen Aktenstück und einem dünnen Schnellhefter zurück. Der Inhalt des Hefters zeigte, daß in der letzten Zeit keine neuen Nachrichten über O'Shea eingegangen waren.
Elk beobachtete seinen Kollegen neugierig.
»Sie wollen wohl Ihr Gedächtnis über den großen Goldraub auffrischen? Werden Sie nicht neidisch, wenn Sie daran denken, daß diese Unmenge Gold irgendwo versteckt liegt? Nur schade, daß sich Bradley nicht mit der Aufklärung des Falles beschäftigt. Er kennt alle Einzelheiten aufs beste. Wenn Sie davon überzeugt sind, daß die Ermordung Connors mit O'Shea zu tun hat, würde ich ihn an Ihrer Stelle sofort telegrafisch zurückrufen.«
Hallick blätterte in dem Aktenstück.
»Was Connor angeht«, fuhr Elk fort, »so hat der schließlich nur seinen Lohn bekommen. Als er zu seiner letzten langen Gefängnisstrafe verurteilt wurde, hat er alles verraten und mir ausführlich erzählt, daß O'Shea ihn hintergangen habe. Aber Connor selbst hat früher mehr Kameraden und Freunde betrogen als irgendein anderer Verbrecher. Übrigens ist Marks nicht besser als er. Ich kenne die beiden gut. Hätte ich sie vor dem Goldraub getroffen, so hätten sie mir wahrscheinlich alles verraten. Wo ist übrigens dieser Marks?«
Hallick schüttelte den Kopf und schloß das Aktenstück.
»Ich weiß es nicht. Wenn ich ihn nur einmal erwischte. Gewöhnlich treibt er sich in Hammersmith herum, und ich möchte ihn dringend warnen.«
Elk grinste. »Den können Sie nicht warnen. Der ist viel zu schlau. Nächstens finden wir ihn noch auf der Universität in Oxford oder Cambridge. Persönlich sind mir die klugen und schlauen Verbrecher lieber, denn sie fangen sich selbst. Man braucht sich nicht groß bei ihnen anzustrengen.«
»Ich meine nicht, daß er ins Garn geht oder sich selbst einen Strick dreht, aber ich fürchte, daß O'Shea ihn eher fängt als umgekehrt. Das ist durchaus möglich.«
Hallick rief Monkshall an, aber Sergeant Dobie konnte ihm nichts Neues mitteilen. »Ist Mrs. Elvery abgereist?«
»Nein, die bleibt bis zur Aufklärung des Falles hier. Sie ist nun einmal auf Verbrechen versessen. Und dann noch eins, Mr. Hallick. Ferdie Fane ist schon wieder betrunken.«
»Ist der überhaupt jemals nüchtern?«
Er kümmerte sich aber nicht weiter um Fanes Trunkenheit, er interessierte sich mehr für das Leben in Monkshall, das trotz der schweren Ereignisse seinen gewohnten Gang ging. Einige Zeitungsberichterstatter waren im Laufe des Tages dort erschienen und hat. ten versucht, den Colonel zu sprechen.
»Ich habe sie alle wieder fortgeschickt. Im allgemeinen, nimmt man an, daß Connor noch einen Komplicen hatte und daß es ihnen gelang, das Gold zu finden. Dann sind sie wohl in Streit geraten, und Connor wurde ermordet. Natürlich von seinem Komplicen, der sich darauf mit der Beute davongemacht hat. – Wenn ich vorhin sagte, daß man das im allgemeinen annimmt«, fügte Dobie hinzu, »so stimmt das eigentlich nicht ganz. Es ist mehr meine Idee. Was halten Sie davon?«
»Ach, das ist alles Humbug«, entgegnete Hallick und legte auf.