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Um halb drei Uhr morgens waren alle Bewohner von Monkshall wach. Vor dem Haustor stand der mit Schmutz bedeckte Dienstwagen des Chefinspektors Hallick. Die Teppiche in der großen Halle und in anderen Räumen waren aufgerollt, weil man nach verborgenen Falltüren suchte. Mrs. Elvery saß schläfrig in ihrem auffälligen roten Morgenrock in einem Polstersessel. Als Hallick von einer Durchsuchung des Parks zurückkam, war sie eingenickt und schnarchte.
»Folgen Sie meinem Rat und gehen Sie zu Bett«, sagte er, als er sie weckte. »Es ist fast drei Uhr.«
Sie blinzelte und begann leise zu weinen.
»Der arme Mr. Goodman! Er war ein so netter Herr, selbst für einen Junggesellen. Nun wird es ganz still werden hier im Haus.«
»Wir wissen doch gar nicht genau, ob er tot ist«, erwiderte Hallick unwirsch.
»Aber es waren doch Blutspuren auf dem Fußboden!« Sie schluchzte aufs neue. »Und Mr. Partridge, haben Sie ihn gefunden?«
»Der gute Mr. Partridge«, sagte Mr. Hallick gereizt, »ist auf dem Weg nach London. Um den brauchen Sie sich nicht zu kümmern. Übrigens ist er ein alter Zuchthäusler und heißt Marks.«
Plötzlich wurde Mrs. Elvery ganz wach und lebendig.
»Haben Sie schon Cotton verhört? Der hat sich am vergangenen Abend sehr merkwürdig benommen. Zweimal war er unten im Keller, und als er das zweite Mal die Treppe heraufkam, waren seine Hosen mit Staub bedeckt – wissen Sie, weshalb?«
»Das will ich gar nicht wissen«, erklärte Hallick gelangweilt.
»Der sucht nach dem Goldschatz, der hier im Hause versteckt liegt. Ja, da staunen Sie, Inspektor!«
»Ihrer Meinung nach liegt also der Goldschatz hier im Hause versteckt? Sie bringen die Geschichte von O'Shea mit den Vorfällen der letzten Tage in Verbindung? Woher haben Sie denn diese Weisheit?«
»Aus meinen Zeitungsausschnitten«, entgegnete Mrs. Elvery triumphierend.
»Ich möchte Sie jetzt aber wirklich bitten, zu Bett zu gehen«, sagte Hallick, und es gelang ihm endlich, sie zum Verlassen des Zimmers zu bewegen.
Sein Assistent, Sergeant Dobie, hatte sich eine Theorie gebildet, und um sie zu prüfen, mußten weitere Nachforschungen angestellt werden. Als die beiden allein waren, erklärte Dobie seine Ansicht.
»Redmayne? Nein, der kommt als Täter gar nicht in Frage! Warum sollte er ...«
»Das wollte ich Ihnen auch gar nicht sagen«, erwiderte Dobie. »Redmayne ist vollständig bankrott. Er hat eine beträchtliche Summe von Goodman geliehen. Als Goodman verschwand, war es. das erste, daß er in das Zimmer des alten Mannes ging, einen Koffer öffnete und einen Schuldschein daraus entwendete. Sehen Sie, hier ist er.«
Hallick betrachtete das Papier nachdenklich.
»Rufen Sie Redmayne her.«
Bald darauf kam der Colonel mit unsicheren Schritten in die Halle.
»Ich möchte ein paar Fragen an Sie stellen«, sagte Hallick barsch.
»Es wird mir bald zuviel, immer wieder neue Fragen beantworten zu müssen«, sagte er unwillig.
»Das ist schon möglich«, erwiderte Hallick ironisch. »Wir haben hier ein Gespenst in Monkshall.« Er zog den Schuldschein aus der Tasche und hielt ihn dem Colonel hin. »Ist das etwa das Geheimnis, weswegen all diese seltsamen Dinge im Hause passieren? Klären sich damit die Spukgeschichten auf?«
»Das ist ein Schein über Geld, das ich mir borgen mußte«, erklärte Redmayne leise.
Hallick nickte.
»Vor zehn Jahren waren Sie Sekretär und Schatzmeister beim Roten Kreuz. Unerwartet wurde eines Tages die Kasse revidiert, wobei sich herausstellte, daß eine größere Summe fehlte. Ihre Verhaftung stand nahe bevor, als Sie plötzlich das Geld ersetzten – Sie haben es sich von Goodman geliehen?«
»Ja.«
»Vor ein oder zwei Stunden haben Sie Goodmans Papiere durchsucht. Suchten Sie nach diesem Schuldschein?«
»Ich lasse mich von. Ihnen nicht verhören«, sagte Redmayne und raffte sich auf. »Sie haben kein Recht, mich über meine Privatangelegenheiten auszufragen.«
»Colonel Redmayne«, entgegnete der Chefinspektor ruhig, »in der vorigen Nacht wurde ein Mann in Ihrem Haus ermordet, heute abend ist einer Ihrer Gäste unter merkwürdigen Umständen verschwunden, die daran denken lassen, daß auch er ermordet wurde. Ich habe also wohl das Recht, Fragen an Sie zu richten. Ich habe sogar das Recht, Sie zu verhaften, wenn Sie sich nicht anders verhalten.«
»Gut, dann verhaften Sie mich«, erwiderte der Colonel etwas unsicher.
»Nehmen Sie doch Vernunft an!« sagte Hallick unwirsch. »Hier im Haus hält sich jemand auf, den bisher niemand gesehen hat, jemand, den Sie verbergen und beschützen!«
»Wen meinen Sie?« fragte Redmayne unruhig.
»Meiner Meinung nach ist diese Anleihe bei Goodman nur vorgetäuscht worden. Zu der Zeit, als Sie das Geld borgten, standen Ihnen große Summen zur Verfügung. Sie haben dieses Haus gekauft, um einen Verbrecher zu beherbergen, gegen den Haftbefehl erlassen worden war – Leonard O'Shea.«
»Das ist eine Lüge!« stieß Redmayne heiser hervor.
»Dann will ich Ihnen noch etwas sagen. Irgendwo in diesem Hause liegt das Gold, das seinerzeit mit der ›Aritania‹ von Australien nach England gebracht wurde und auf dem Transport nach London verschwand. Und irgendwo in den Kellerräumen verbirgt sich ein halb Wahnsinniger.«
Der Colonel taumelte zurück.
»Ich habe alles getan, was ich tun konnte, um ihn fernzuhalten. Glauben Sie denn, daß ich ihn hier haben wollte ...«
»Wir werden bald Klarheit in die Sache bringen.«
Hallick gab Dobie ein Zeichen, und der Sergeant führte den Colonel in sein Arbeitszimmer zurück, ohne daß dieser Widerstand leistete. Hallick folgte, und als die Tür hinter ihnen zufiel, kam Mr. Fane hinter den geschlossenen Vorhängen hervor. Er hatte die Kleider gewechselt und trug nun einen Golfanzug.
Er ging zum Fenster zurück und rief vorsichtig jemanden im Garten. Gleich darauf trat Mary aus der Dunkelheit.
»Es ist niemand hier, Sie können ruhig hereinkommen. Die Leute brauchen ja nicht unbedingt zu erfahren, daß Sie allein mit mir im Park spazierengingen.«
Sie zog ihren Regenmantel aus und ließ sich müde in einem Sessel nieder.
»Die Nacht ist so unheimlich, und doch fühlte ich mich da draußen in Ihrer Begleitung sicherer als hier im Haus.«
»Ich fühle mich im Augenblick nirgends recht sicher«, entgegnete Ferdie. »Ich werde hier schlafen – wo ist eigentlich Cotton?«
»Was wollen Sie denn von ihm?«
»Ich möchte noch etwas zu trinken haben«, sagte er und klingelte.
Cotton trat sofort ein, er mußte draußen vor der Tür gestanden haben. Sein Zeug war naß, und seine Stiefel waren schmutzig.
»Hallo!« Fane betrachtete ihn eingehend. »Sind Sie draußen im Park umhergeschlichen?«
»Ich habe mich nur etwas umsehen wollen. Das schadet doch niemandem.« Die Stimme des Butlers zitterte ein wenig.
»Sie waren wohl bei den Kriminalbeamten?« wandte sich Mary an Cotton. »Wie weit ist denn die Untersuchung fortgeschritten?«
Fane lachte leicht.
»Ich will wissen, ob die Beamten irgend etwas herausgefunden haben«, sagte sie ungeduldig.
»Ich kann Ihnen verraten, was die vermuten«, erwiderte Fane und sah sie fest an. »Die Polizei nimmt an, daß Mr. Goodman in diesem Raum ermordet wurde. Eine etwas sonderbare Auffassung – meinen Sie nicht auch?« Sie schauderte zusammen.
»Und die Beamten glauben auch, daß der Pfarrer nicht mehr am Leben ist. Ich hörte, wie der Sergeant dem Chefinspektor gegenüber diese Ansicht vertrat. Seiner Meinung nach muß Partridge hier ins Zimmer gekommen sein, während Goodman mit dem geheimnisvollen Mönch kämpfte, und der Unheimliche hat die beiden umgebracht.«
»Wer ist denn der Unheimliche?«
»So nennen sie diesen Mann«, mischte sich Cotton ein, »der in der schwarzen Mönchskutte herumläuft. Sie sagen, daß er jeden Tag zwei Stunden wahnsinnig ist. Es ist auch etwas Sonderbares, wenn man sich vorstellt, daß hier im Hause ein Wahnsinniger umherspukt und daß niemand weiß, wer es ist. Sie können in den Verdacht kommen, Mr. Fane, und ich auch.«
»Dann ist es wahrscheinlicher, daß Sie es sind«, entgegnete Fane scharf. »Bringen Sie mir eine halbe Flasche Sekt.«
Mary wartete, bis Cotton die Halle verlassen hatte.
»Mr. Fane – was ist mit Goodman geschehen?« fragte sie dann.
Er antwortete ihr erst, nachdem Cotton Glas und Flasche gebracht hatte und wieder gegangen war.
»Das ist wenigstens ein anständiger Tropfen«, meinte er und goß den schäumenden Sekt ein. »Das wird mir guttun. Ich habe ziemliche Kopfschmerzen.«
»Ich wünschte nur, Sie bekämen einmal solche Kopfschmerzen, daß Sie nicht wieder daran dächten, zu trinken«, erwiderte sie hitzig.
»Dann wollten Sie wohl am liebsten, daß ich tot wäre?«
Sie war sehr unzufrieden mit ihm; sie hatte gehofft, daß er ihr in dieser schweren Zeit eine Hilfe sein konnte.
Dann kam ihr ein Gedanke. »Was meinten Sie eigentlich, als Sie sagten, das wäre ein anständiger Tropfen?«
»Sehen Sie, nun verstehen wir uns schon besser. Das ist der erste Tropfen Wein in dieser Woche, ich kann Ihnen versichern, daß ich ziemlich nüchtern bin und fast keinen Alkohol trinke.«
Hatte er diese Worte tatsächlich im Ernst gesprochen? Hatte er seine Trunkenheit nur vorgetäuscht?
»Was geschah heute abend, als ich Sie hier in diesem Zimmer traf? Es hatte doch ein Kampf stattgefunden.«
Er schüttelte den Kopf und sagte scherzhaft: »Ich weiß es nicht. Irgend jemand schlug mir mit der Faust unter das Kinn. Daraus schloß ich, daß der Mann nicht mein Freund war.«
Aber dann wurde er plötzlich ernst.
»Würden Sie es tatsächlich gern sehen, wenn – wenn ich Ihnen helfen und für Sie sorgen würde?«
»Ich weiß nicht, was Sie meinen«, entgegnete sie, obgleich sie ahnte, worauf er hinaus wollte.
»Ich meine, Sie brauchen jemanden, der Sie beschützt.«
Er war näher an sie herangetreten.
»Glauben Sie denn, daß Sie überhaupt jemanden beschützen können?« erwiderte sie. Im nächsten Augenblick bedauerte sie ihre Äußerung, denn sie wußte, daß sie damit seine nächste Frage herausgefordert hatte.
»Wissen Sie denn nicht, Mary, daß ich sehr viel für Sie tue? Sehen Sie denn nicht ...«
»Sie sollen mich nicht Mary nennen.«
»Aber wenn Sie doch so heißen? Sie können ruhig Ferdie zu mir sagen, wenn Sie wollen.«
»Nein, nicht – wenigstens jetzt nicht«, entgegnete sie ein wenig atemlos.
»Hat Goodman Ihnen nicht gesagt, daß er Sie sehr gern mag?«
Sie nickte.
»Der arme Mr. Goodman! Ja, er hat mich geliebt, und ich mochte ihn auch gern.«
Sie blickte sich plötzlich um, und er sah, daß sie Angst hatte.
»Was gibt es denn?« fragte er schnell.
»Ich weiß es nicht, aber ich habe das schreckliche Gefühl, als ob uns jemand belauscht. Und ich wünschte, daß sich der Betreffende bemerkbar machte. Dann wüßte man wenigstens, woran man ist.«
»Erwarten Sie jemanden?« fragte er überrascht.
»Ja, es soll noch ein Beamter von Scotland Yard kommen. Mrs. Elvery nannte ihn den großen Bradley.«
»Der arme Kerl!« sagte er und lachte. »Welchen Zweck hat es denn, den herzubringen? Ich bin tüchtiger als tausend Detektive, und mit O'Shea nehme ich es auch noch auf.« Er lachte sonderbar. »O'Shea, das ist ein Kerl!«
Sie trat einen Schritt von ihm zurück.
»Von dem habe ich gehört«, sagte sie langsam. »Wie sieht er denn aus?«
Er lachte aufs neue.
»Etwa so wie ich – nur nicht so hübsch.«
Sie nickte, aber ihre Stimme klang jetzt nur noch wie ein Flüstern.
»Sie wissen nur zu gut, wer O'Shea ist«, sagte sie. »Als Sie gestern draußen im Park mit Connor sprachen, stand ich am Fenster und hörte, wie Sie ihm drohten.«
Er schwieg eine Weile.
»Ich habe ihn gewarnt«, sagte er schließlich.
Und als ob er der Unterredung ein Ende machen wollte, schob er einen Sessel so hin, daß dieser der Wand zugekehrt war. Dann nahm er einen Wandschirm, der in einer Ecke stand, und stellte ihn hinter den Sessel.
»Was wollen Sie denn?«
»Ich will jetzt schlafen«, entgegnete er kurz.
»Aber warum stellen Sie den Sessel denn dorthin?« fragte sie erstaunt.
»Hier ist die alte Tür, die die Mönche immer benutzten«, entgegnete er. lächelnd. »Wenn irgendein Geist in einer schwarzen Kutte erscheint, muß er durch diese Tür kommen.«
Hallick kehrte in diesem Augenblick mit Mr. Redmayne zurück.
»Zum Teufel, was machen Sie denn hier?« fuhr er Fane an.
Der hatte eine Decke vom Sofa genommen, die Mrs. Elvery zurückgelassen hatte, und deckte sich damit zu.
»Ich will schlafen.«
»Das ist hier aber nicht der richtige Platz. Gehen Sie auf Ihr Zimmer«, sagte Redmayne unfreundlich.
»Lassen Sie ihn ruhig hier«, legte sich Hallick ins Mittel, der sehr nachsichtig gegen Fane zu sein schien.
Der Chefinspektor fühlte einen Lufthauch und zog die Vorhänge zurück. Die Glastür dahinter stand offen.
»Schließen Sie die Tür, wenn wir hinausgegangen sind, Miss Redmayne, und öffnen Sie die Tür nur, wenn Sie die Stimme Ihres Vaters erkennen. Wir gehen jetzt in den Park.«
»Es wäre besser, wenn du auf dein Zimmer gingst«, sagte der Colonel, aber Hallick schüttelte den Kopf.
»Ich will hier warten«, sagte Mary.
»Aber Liebling ...«
»Lassen Sie sie nur ruhig hier«, meinte Hallick. »Mr. Fane wird ihr nichts zuleide tun.«
Inzwischen hatte sich Ferdie bequem in den Sessel zurückgelehnt. Er glaubte, daß Mary den Raum verlassen hatte, aber in Wirklichkeit war sie noch dort. Sie schlich sich auf Zehenspitzen herbei und sah um die Ecke des Wandschirms. Als sie bemerkte, daß er die Augen geschlossen hatte, drehte sie alle Lichter aus, mit Ausnahme einer Lampe. Dann ging sie leise zur Tür und öffnete. Sie drehte sich noch einmal um und sah zu Ferdie hinüber. So bemerkte sie nicht, daß plötzlich ein Mann in der Türöffnung erschien und dicht hinter ihr stand. Es war eine große Gestalt – von Kopf bis Fuß in eine schwarze Kutte gekleidet. Auch das Gesicht war von der großen Kapuze bedeckt, nur zwei runde Öffnungen jm Stoff machten es dem Mann möglich, hindurchzusehen. Sie ahnte nichts von der Gefahr, plötzlich wurde sie von zwei starken Armen gepackt. Eine große Hand legte sich auf ihren Mund.
Starr vor Schrecken erkannte sie die Mönchsgestalt. Im nächsten Moment verlor sie die Besinnung.
Ohne weiter ein Geräusch zu machen, zog der Mann sie in den Flur, schloß die Tür leise hinter sich und trug sie davon. Er ging an der Tür ihres Vaters vorbei und verschwand in einem kleinen Zimmer, das als Abstellraum benutzt wurde. Dort öffnete er eine Falltür, legte das bewußtlose Mädchen über die Schulter und stieg die steinerne Treppe hinab. Dann ließ er sie zu Boden gleiten, um die Falltür wieder zu schließen.